Es geht in der Tat um Weltverbesserung!
Gastkommentar. Eine Replik auf Hans Winklers Kritik an der kürzlich veröffentlichten Sozialenzyklika von Papst Franziskus „Fratelli tutti“.
Vorweg: Ich halte die neue Enzyklika „Fratelli tutti“von Papst Franziskus nicht für jenen großen Wurf, der hinsichtlich der Dramatik der Lage und der Thematik wünschenswert gewesen wäre. Der Text ist weniger kohärent als jener von „Laudato si‘“, fundierte Kritik also durchaus angebracht.
Eben diese fehlt jedoch im Artikel von Hans Winkler („ Plädoyer für ein universales Gutmenschentum“, „Die Presse“, 6. Oktober), dessen immer stark ideologisch gefärbte Brille den Inhalt diesmal schlichtweg verzerrend wiedergibt. Dazu einige, keineswegs erschöpfende Anmerkungen.
Der Untertitel der am 3. Oktober veröffentlichten Enzyklika lautet „Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft“– und er ist keineswegs, wie Winkler schreibt, eine „semantische Neuschöpfung, die die persönliche Kategorie der Freundschaft irgendwie ins Politische übersetzen möchte“. Es handelt sich bei Freundschaft (philia) vielmehr für die gesamte politische Theorie seit Aristoteles um das Fundament des politischen Lebens, was durch den Zusatz sozial ausgedrückt wird.
Fundament der Freundschaft
Die fundamentale Einsicht ist, dass die Qualität personaler Beziehungen in allen Lebensbereichen, privaten wie öffentlichen, die Qualität des politischen Gemeinwesens wesentlich mitbestimmt. Im modernen politischen Denken bildet die Brüderlichkeit oder eben Geschwisterlichkeit neben Freiheit und Gleichheit die dritte Grundsäule der Französischen Revolution. Die gesamte republikanische Tradition von Tocqueville bis heute baut auf dieser gerade in der gegenwärtigen politischen Situation außerordentlich bedeutsamen
Einsicht auf. Einzelne Personen zu nennen, die heute demonstrieren, dass das ethische oder unethische Verhalten von Individuen die Politik wesentlich bestimmt, erübrigt sich. Dies gilt vor allem für liberale Demokratien, die – so die vielfach zitierte Aussage des deutschen Staatsrechtlers Ernst-Wolfang Böckenförde – dafür auf gesellschaftliche Akteure angewiesen sind.
Jesus verkündigte den Gut–Gott
Die Kirchen sind national in vielen Ländern derartige Akteure. International ist die katholische Kirche, zahlenmäßig und was die öffentliche Sichtbarkeit betrifft, der wohl größte zivilgesellschaftliche Akteur. Sie ist in diesem Sinne funktional durchaus eine NGO, also ein gesellschaftlicher Mittler zwischen Staat und Individuum, und nimmt auch viele ähnliche Funktionen wahr: Sie prägt das Bewusstsein ihrer Mitglieder und setzt sich für soziale und politische Ziele
ein, die im Übrigen von geistigen und transzendenten Zielen nach christlichem (und allgemein monotheistischem) Verständnis kaum zu trennen sind. Es geht mehr als um individuelle Meditationspraxis.
Jesus verkündigte den GutGott, der „Gutmenschen“haben will, um Arme und Marginalisierte zu unterstützten und er heilte die Kranken. Das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter, das in der Enzyklika ausgelegt wird, ist nur eines von vielen Beispielen. Von einer rein geistigen Botschaft oder elaborierten Liturgien, die durchaus ihren Ort haben mögen, wie sie Herrn Winkler als Inbegriff des Christlichen vorschweben, lesen wir im Neuen Testament nichts. Es geht also in der Tat um Weltverbesserung. Worum sonst? Um Verschlechterung? Um Passivität? Um eine weltlose Religion, deren ethische Ansprüche sich auf einige Normen und Kernthemen beschränken, die sogenannten Eisen, die als christliche Werte für die meisten Menschen keine praktische Relevanz haben?
Schwachpunkte gibt es
Kaum ein Thema erscheint heute für eine menschenwürdige Zukunft wichtiger als valide politische Konzepte für eine neue Weltordnung. Die Globalisierung, die auch beachtliche wirtschaftliche Entwicklungen ermöglicht hat (hier ist über die Aussagen des Papstes durchaus zu diskutieren), wobei die Erträge freilich höchst ungleich verteilt sind, muss durch eine globale Weltautorität mit rechtlichen Regeln und Rahmenbedingungen ergänzt werden – so bereits Johannes XXIII. in „Pacem in terris“(1963).
Dass dieser rechtliche und institutionelle Rahmen in Fratelli tutti erwähnt, nicht jedoch systematisch vertieft und entfaltet wird, ist einer der Schwachpunkte der Enzyklika. Hier gibt es in früheren päpstlichen Dokumenten (vor allem bei Johannes Paul II.) detailliertere Vorschläge. Doch die Grundintention, die „Fratelli tutti“entfaltet, ist und bleibt nicht nur ethisch, sondern auch politisch fundamental.
Sollte es nicht gelingen, die internationale Ordnung einschließlich einer Stärkung der Vereinten Nationen (Nr. 173), aber auch regionaler Zusammenschlüsse (Nr. 10) zu stärken und zu reformieren, droht ein regelloses Chaos.
Ansätze dafür sind bereits sichtbar angesichts des strikten Anti-Multilateralismus wichtiger Akteure, wie die USA, sowie der Beeinträchtigung der internationalen Diplomatie durch die Coronakrise. Dazu bedarf es jedoch der Einbindung möglichst vieler Akteure. Für die katholische Kirche sind dies seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, Johannes Paul II. und nun Franziskus vor allem auch die anderen Religionen.
Brückenschlag zum Islam
In diesem Sinne unternimmt der Papst in diesem Schreiben einen wichtigen Brückenschlag zum Islam als zweitgrößte Weltreligion (trotz der Menschenrechtsverletzungen von Christen in vielen muslimischen Mehrheitsstaaten) aufbauend auf seinem Dokument von Abu Dhabi. Welche anderen Optionen stehen aus christlicher, wie weltpolitischer Sicht offen? Ein gewaltfreier Dialog und eine achtungsvolle Verständigung und Begegnung, die auf die Verwirklichung grundlegender Menschenrechte, wie der Religionsfreiheit, hinwirkt, sind Grundbedingungen für eine friedliche Zukunft und einer Abwendung von Konflikten, die der Papst scharf verurteilt.
Hans Winklers Aussage, Papst Franziskus habe die Todesstrafe vor zwei Jahren im Katechismus verankern lassen, ist im Übrigen eindeutig falsch. Er hat sie von dort streichen lassen, was ihm einen kritischen Brief einiger katholischer Bischöfe aus den USA eingetragen hat (im Detail siehe Christopher Lamb, The Outsider, London 2020).
Eine Debatte über einzelne Aussagen der Enzyklika ist sinnvoll und wohl, sieht man sich die Grundlinien dieses Pontifikats an, auch erwünscht. Der Zugang ist vielleicht zu individualethisch, manche Entwicklungen hätten konkreter angesprochen werden können, so die klimabedingte Migration sowie die Corona-Epidemie, die voraussichtlich zu einem neuen Anstieg von Armut und Hunger weltweit führen wird.
Doch eine Enzyklika ist kein Blueprint für die Zukunft. Sie sollte zur vertieften Reflexion der zentralen Weltfragen anregen, nicht jedoch zu unqualifizierten Polemiken.