London hat EU vor den Kopf gestoßen
Brexit. Brüssel und London versuchen, die Gespräche über ein gemeinsames Handelsabkommen noch zu retten. Vielleicht wurde aber schon zu viel diplomatisches Porzellan zerschlagen.
London. China nimmt für sich in Anspruch, das Pingpongspiel erfunden zu haben. Aber das Urheberrecht für das diplomatische Äquivalent eines ewigwährenden Hin-und-Her könnten die Führungen Großbritanniens und der EU mit gutem Recht für sich beanspruchen. Wenige Stunden vor dem nächsten EU-Gipfel, der morgen, Donnerstag, in Brüssel beginnt, gab es für eine Einigung in den Verhandlungen über die Beziehungen nach Inkrafttreten des Brexit zu Jahresende weiter keine Anzeichen.
Der britische Premierminister, Boris Johnson, hatte im Sommer Donnerstag, den 15. Oktober, zum Stichtag ausgerufen: Wenn bis dahin keine Vereinbarung „in Sicht“sei, werde London die Verhandlungen ergebnislos beenden. Die relativ weichen Worte „in Sicht“wurde umgehend in eine harte Deadline uminterpretiert, während EU-Chefunterhändler Michel Barnier stets Ende Oktober bis Anfang November als entscheidenden Zeitpunkt bezeichnete, um eine allfällige Einigung unter Dach und Fach zu bringen.
Der erhöhte Zeitdruck und intensivierte Gespräche brachten aber nicht den von Johnson geforderten „Tiger im Tank“. Stattdessen bleiben Staatsbeihilfen, Fischerei und Streitbeilegung seit vielen Monaten das umstrittene, unbewältigte Thema.
Der EU-Gipfel in Brüssel wird daher aller Voraussicht nach nicht das Ende der Post-Brexit-Verhandlungen ausrufen, sondern die Staats- und Regierungschefs werden den Spielraum ihres Gesprächsführers Barnier genau überdenken. Bei der Fischerei drängt Frankreich unverändert auf (s)eine harte Linie, aber Barnier selbst ersuchte die zuständigen EU-Minister schon, „Grundlinien für einen Kompromiss auszuarbeiten“. Umgekehrt stellte der britische Chefunterhändler, David Frost, bei der Frage der Regelgleichheit die Anerkennung von „Verpflichtungen, die man normalerweise nicht in einem Freihandelsabkommen findet“, durch
London in Aussicht.
Wesentlich erschwert hat eine Einigung das britische Binnenmarktgesetz, das nicht nur den bestehenden Brexit-Vertrag aushebelt, sondern auch gegen alle Warnungen durch das Londoner Unterhaus gepeitscht wurde. Die EUKommission reagiert mit der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens, ein symbolträchtiger, letztlich aber zahnloser Akt. Viel schwerer erweist es sich dagegen für die Regierung in London, zerschlagenes diplomatisches Porzellan zu kitten: „Nach diesem Fiasko wird die EU auf einem sehr harten und bindenden Mechanismus zur Streitbeilegung bestehen“, sagt ein Diplomat. Erste Vorschläge dazu wurden bereits ausgearbeitet.
Insbesondere bei der deutschen Regierung, die London traditionell als Verbündeten ansieht, habe London nun einen schweren
Stand. „Was da passiert ist, hat wirklich die europäische Position verhärtet, insbesondere die deutsche“, heißt es. „Für die Deutschen ist es unvorstellbar, das Völkerrecht zu brechen.“
„Kritischer Punkt erreicht“
Wie zur Bestätigung warnte der deutsche Europaminister, Michael Roth, gestern: „Wir befinden uns an einem sehr kritischen Punkt. Wir stehen extrem unter Druck, und die Zeit läuft ab.“In London sieht man dagegen den Ball im Feld der EU: „Es liegt letztlich an der EU, denselben guten Willen, denselben Pragmatismus und dieselbe Flexibilität zu zeigen, wie sie Großbritannien und unser Premierminister schon demonstriert haben“, sagte Außenminister Dominic Raab im Unterhaus.
Auf beiden Seiten richtete man sich daher schon auf eine Fortsetzung der Verhandlungen ein. Barnier betonte gestern: „Die EU wird in den kommenden Tagen und Wochen weiter an einem fairen Abkommen arbeiten.“Die Replik aus London dazu: „Die alte EUTaktik mit dem Spiel auf Zeit wird nicht aufgehen: Mittlerweile halten wir bei Mitte Oktober und haben eine Menge Arbeit vor uns, die längst erledigt sein könnte.“
Wie das Match zwischen Brüssel und London ausgeht, beunruhigt auch die Märkte. Man weiß aber auch hier nicht, wie es enden wird: „Das Pfund ist sehr schwach, aber es hat keinen Sinn, in die Währung zu investieren, weil ein No-Deal-Brexit wahrscheinlich ist“, warnte gestern die französische Bank SocGen. Dagegen meinten die Analysten der Danske Bank: „Die wahre Deadline ist nicht jetzt oder Ende Oktober, sondern am 31. Dezember. Und am Ende werden sie ein Abkommen schließen.“