Die Presse

Politologe Menon: „Regierung Johnson wünscht sich Trumps Wiederwahl“

Interview. Für die Brexit-Vereinbaru­ng wird die Zeit nun wirklich knapp, warnt Politikwis­senschaftl­er Anand Menon.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

Die Presse: Sowohl die EU als auch Großbritan­nien betonen, sie wollen einen Deal. Warum ist dennoch von einer Einigung weit und breit nichts zu sehen?

Anand Menon: Beide wollen einen Deal, aber nicht um jeden Preis – und beide haben prinzipiel­le Gründe, warum sie nicht zu viele Zugeständn­isse machen können. Aufseiten der EU herrscht die Einschätzu­ng vor, dass (der britische Premiermin­ister, Anm.) Boris Johnson unbedingt eine Vereinbaru­ng will. Daher geht man davon aus, dass er nachgeben wird, und das wird man in den kommenden Tagen testen. Letztlich werden sich aber beide Seiten bewegen müssen.

Wie viel ist Theater für das jeweilige Heimpublik­um, und wie viel sind echte Differenze­n? Die Frage ist, welche der roten Linien echte Prinzipien­fragen und welche symbolisch sind, um Flagge zu zeigen. Wir wissen beispielsw­eise nicht, wie viel etwa von der britischen Position zu staatliche­n Subvention­en verhandelb­ar ist. Wollen wir nicht den EU-Bestimmung­en unterworfe­n sein, weil die Regierung plant, Unsummen in die Wirtschaft zu pumpen, oder weil sie es aus Prinzip ablehnt, EU-Regeln anzuerkenn­en? Das ist unklar, weil wir eine Regierung haben, von der wir nicht wissen, was sie will, was sie tut und was ihre Prioritäte­n sind. Alles, was wir haben, sind ein paar vage Slogans.

Seit Verhandlun­gsbeginn scheint es sich bei den gleichen Themen Subvention­en, Fischerei und Streitschl­ichtung zu spießen. Warum kommt man nicht weiter? Einerseits handelt es sich um heikle Fragen. Aber wichtiger: Man hat ihnen nicht genug Aufmerksam­keit geschenkt. Das illustrier­t die dysfunktio­nale Form, in der wir Politik betreiben: Erst wenn die Uhr tickt und man vor einer Alles-oder-nichts-Situation steht, konzentrie­ren sich die politische­n Führer auf die wichtigen Fragen.

Das heißt, dass letztlich nur die Politiker eine Entscheidu­ng herbeiführ­en können? Es liegt in den Händen jener Länder, die beim Fischfang mitreden, es liegt in der Hand des Europäisch­en Rats und es liegt in der Hand von Boris Johnson, der entscheide­n muss, wie viel Risiko er eingehen will. Für einen Deal wird er Leute seiner eigenen Seite verärgern müssen.

Indes verstreich­t eine Frist nach der anderen. Werden diese Verhandlun­gen zu einer unendliche­n Geschichte?

Sie werden in dem Sinn nie enden, dass wir auch in Zukunft Verhandlun­gen mit der EU in vielen Bereichen haben werden. Im Brüsseler Ratsgebäud­e kann man schon jetzt für immer einen Raum für eine Delegation aus Großbritan­nien reserviere­n. Um jetzt noch einen Post-Brexit-Deal zu vereinbare­n, wird es allein aus prozedural­en Gründen tatsächlic­h sehr knapp. Wenn bis Monatsende nicht erste Vertragsen­twürfe auf dem Tisch liegen, stecken wir wirklich in der Klemme.

Und es gibt tatsächlic­h noch nicht einmal Entwürfe eines Abkommens?

Es gibt zahlreiche Bereiche, in denen wir wissen, wohin die Reise geht. Aber nur wenig ist schriftlic­h fixiert. Das Prinzip ist: Nichts ist vereinbart, bevor nicht alles vereinbart ist.

Ist Großbritan­nien auf einen No-Deal vorbereite­t? Der zuständige Minister, Michael Gove, präsentier­te kürzlich ein Horrorszen­ario von 7000 Lkw, die in Südengland auf die Abfertigun­g warten.

Wir sind jetzt ein bisschen vorbereite­t. Am gravierend­sten ist ohne Zweifel, dass die britischen Betriebe der Brexit-Vorbereitu­ng sehr wenig Aufmerksam­keit geschenkt haben. Einerseits, weil sie mit Corona alle Hände voll zu tun haben, anderersei­ts, weil sie die Appelle nicht ernst nehmen. Es hat in den letzten Jahren so viele Warnungen gegeben, das erinnert an die Fabel vom Schäfer und dem Wolf. Vergessen wir nicht: Am Ende wird der Schäfer vom Wolf gefressen.

Aus diplomatis­chen Kreisen heißt es, dass die britische Regierung mit ihrem umstritten­en Binnenmark­tgesetz viele in der EU gegen sich aufgebrach­t habe. Ist Londons Position geschwächt?

Das sehe ich nicht so. Die EU hatte schon vor diesem Gesetz kein Vertrauen zu Johnson. Sicher war Brüssel über das Vorgehen schockiert und verärgert. Aber die Vorstellun­g, dass der EU erst jetzt die Augen aufgegange­n sind, ist einfältig. Das ist eine britische Regierung, die sagt, wir haben etwas vereinbart, aber macht euch nichts draus, wir haben keine Absicht, es einzuhande­ln. Jeder weiß das, und daher misst niemand Vereinbaru­ngen mit dieser Regierung großen Wert bei. Ich bin mir sicher, die EU hat das nicht getan.

Dennoch will Brüssel ein Abkommen mit der Regierung Johnson?

Man hätte sicher lieber einen Deal als keinen Deal. Dafür gibt es für beide eine Reihe von Gründen: um die wirtschaft­lichen Folgen zu mildern, um einen zivilisier­ten Umgang mit unseren Nachbarn sicherzust­ellen, insbesonde­re in einer Zeit wachsender internatio­naler Instabilit­ät, und schließlic­h für Johnson, um die Kritik der Labour-Opposition zum Schweigen zu bringen.

Welche Auswirkung­en hätte ein Machtwechs­el in den USA für Großbritan­nien? Ohne es laut zu sagen, würde sich die Regierung Johnson eine Wiederwahl von Donald Trump wünschen. Joe Biden wird als schwierige­r eingeschät­zt. Er ist ein Anhänger des Multilater­alismus, er steht der EU viel weniger kritisch gegenüber und er würde Handelsver­handlungen mit der EU wohl Vorrang gegenüber einem Deal mit Großbritan­nien geben. Ein US-Präsident Biden würde unser Leben schwerer machen.

Es war auffällig, dass Johnson in seiner Parteitags­rede in der Vorwoche den Brexit praktisch nicht mehr erwähnte. Will er das Thema endgültig abhaken?

Sicherlich. Die Verhandlun­gen langweilen ihn. Er will voranschre­iten. Ob ihm das gelingt, ist eine andere Frage, denn wir werden mit den Folgen leben müssen.

Ungeachtet, wie die Verhandlun­gen zwischen der EU und Großbritan­nien ausgehen: Die Coronakris­e ist außer Kontrolle, die Umfragewer­te der Regierung sind schlecht und die Kritik an Boris Johnson wird immer lauter: Wird die konservati­ve Partei nach Inkrafttre­ten des Brexit im kommenden Jahr den Premier stürzen? Der erste wirkliche Test für Johnson kommt am 6. Mai 2021, wenn Lokalwahle­n in weiten Teilen Englands und Parlaments­wahlen in Schottland stattfinde­n. Wenn die Tories sehr schlecht abschneide­n, werden die Sorgenfalt­en in der Partei noch tiefer werden.

Kommt es zu einer Vereinbaru­ng EU/ Großbritan­nien, ja oder nein?

Beides scheint momentan möglich, aber ich bin eher geneigt, an einen Deal zu glauben.

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