„Weitere Verschärfung ist nicht angebracht“
Interview. Im Lockdown gab es sogar weniger Blinddarmoperationen, weil Betroffene Spitäler mieden. Das darf sich nicht wiederholen, sagt Chirurg Längle.
Die Presse: Mit dem Lockdown Mitte März wurden sämtliche nicht dringenden Operationen auf unbestimmte Zeit verschoben. Was genau bedeutet das? Friedrich Längle: Dass alle geplanten Eingriffe vorerst abgesagt wurden – und das quer durch die chirurgischen Fächer. Wir haben uns österreichweit in allen Spitälern darauf geeinigt, lediglich in akuten, nicht verschiebbaren Fällen wie etwa Blinddarm- und Gallenblasenentzündungen, Hirnblutungen, Knochenbrüchen und bei Krebspatienten zu operieren, um Ressourcen für Covid-19-Patienten freizuhalten.
Wie lang dauerte diese Pause? Bis Juni, dann wurden die Operationen wieder schrittweise aufgenommen. Ein annähernd 100-prozentiger Regelbetrieb war ab September möglich. In manchen Fächern allerdings mit langen Wartezeiten, in der Orthopädie etwa, wird es noch Monate dauern, bis alle Operationen nachgeholt sind.
Während des Lockdowns kam es zu Kollateralschäden, weil Ordinationen und Spitäler aus Angst vor Ansteckungen gemieden wurden. Können Sie ein paar Beispiele dafür nennen? Ich kann bestätigen, dass in manchen Regionen etwa weniger Blinddarmoperationen durchgeführt wurden als sonst. Und bei denen, die durchgeführt wurden, waren die Entzündungen in einem fortgeschrittenen Stadium.
Betroffene haben also trotz starker Schmerzen bis zuletzt gewartet, ehe sie zum Arzt gingen? Davon ist auszugehen. Ab August wurde in manchen Ambulanzen sogar beobachtet, dass Krebsdiagnosen sehr spät gestellt wurden, weil Patienten trotz Beschwerden keinen Arzt aufgesucht hatten. Ich kann Ihnen noch viele Beispiele aufzählen.
Die Zahl der Neuinfektionen steigt wieder, auch jene der Spitalspatienten. Wird man den Regelbetrieb im Winter dennoch aufrechterhalten können? Das sollte nach Möglichkeit versucht werden. Allein schon wegen des wichtigen Signals, dass sich die Menschen nicht fürchten dürfen, einen Arzt aufzusuchen, wenn sie Beschwerden haben. Steigende Infektionszahlen bedeuten nicht automatisch einen Anstieg von Spitalspatienten, wie die vergangenen Wochen gezeigt haben. Zudem haben wir in den Ordinationen und Spitälern gelernt, mit dem Virus zu leben. Alle Spitalsmitarbeiter tragen FFP2Masken, Personal und Patienten werden regelmäßig vorsorglich getestet, es gibt Zugangsbeschränkungen und Besucherregelungen. Die Spitäler sind also sehr gut darauf vorbereitet, weiterhin alle Routinebehandlungen und -eingriffe durchzuführen. Sollte es dennoch notwendig werden, auf einen Coronamodus umzustellen wie im März, wäre das binnen kürzester Zeit möglich.
Halten Sie die derzeitigen Maßnahmen zur Kontaktreduktion für angemessen?
Um diese Frage zu beantworten, ist es wichtig, das Ziel der Maßnahmen zu definieren. Das Ziel ist aus meiner Sicht, einen Kollaps des Gesundheitssystems zu verhindern. Im September hat sich gezeigt, dass die positiven Tests gestiegen sind, die Anzahl der Menschen, die im Spital oder auf der Intensivstation behandelt werden müssen, aber konstant ist. Ich halte daher eine weitere Verschärfung der Maßnahmen für nicht angebracht. Der Kontakt mit Hausverstand ist für mich der Weg für die nächsten Monate, auch, um andere Infektionen so gering wie möglich zu halten.
Was ist für Sie die wichtigste Erkenntnis aus dem Frühjahr? Rückblickend war es erschreckend zu sehen, wie verletzlich unser Gesundheitssystem ist. Ich hatte den Eindruck einer Kriegssituation. So manche Gesundheitsprobleme wie auch ganz andere Dinge haben ihren Stellenwert verloren, vieles hat sich relativiert. Es bestand eine gewisse Ohnmacht gegenüber dem Virus als Feind, den man zu wenig oder gar nicht kannte. Erst mit der Zeit waren eine verlässliche Diagnostik und erfolgreiche Therapie möglich.