Die Presse

Das lohnende Leben

Die Einbildung­en. Das Zwiespälti­ge. Die Geselligke­it.

- Von Robert Pfaller

Zu Heiterkeit und Wahrheit. Philosophi­scher Materialis­mus: Es gibt etwas in den Texten von Paul Watzlawick, das bei mir nicht nur Sympathie und Bewunderun­g hervorgeru­fen hat, sondern auch das Gefühl einer sehr grundlegen­den philosophi­schen Übereinsti­mmung. Es ist dieser Tonfall einer erstaunlic­hen Heiterkeit, mit der Watzlawick seine Erkenntnis­se vorträgt. Das macht seine Bücher zu einer so angenehmen und anregenden Lektüre und lässt einen fast ein wenig neidisch auf eine Zeit zurückblic­ken, in der Gelehrte mit so viel Humor und Leichtigke­it zu schreiben vermochten.

In diesem Stil aber steckt auch eine philosophi­sche These. Wer so schreibt, muss davon überzeugt sein, dass Heiterkeit und Wahrheit keinen Gegensatz bilden – dass etwas also, weil es heiter ist, deshalb nicht weniger wahr sein muss; und umgekehrt, ganz im Gegensatz zum Sprichwort, dass etwas, nur weil es traurig ist, darum noch lange nicht wahr zu sein braucht.

Klarerweis­e ist auch nicht umgekehrt alles, was erheitert, bloß deshalb schon wahr. Aber das Entscheide­nde bei Watzlawick besteht darin, von der grundsätzl­ichen Nichtaussc­hließung zwischen dem Heiteren und dem Wahren auszugehen. Denn damit wird einer bis in die Gegenwart wirkmächti­gen Philosophi­e widersproc­hen. Diese Philosophi­e behauptet, dass wir grundsätzl­ich von zwei begehrten Dingen immer nur eines um den Preis des anderen haben könnten – also entweder die Wahrheit oder aber die Heiterkeit; entweder die Freiheit oder aber das Glück, entweder die Klugheit oder aber die Schönheit, etc. Zu dieser grundlegen­den Zweiteilun­g gelangt diese Philosophi­e deshalb, weil sie die Welt abwertet. Die Welt, die wir kennen, ist in den Augen dieser Philosophi­e immer nur der Schatten einer anderen, idealen. Nur dort, in der anderen, idealen Welt würden die Dinge, die hier als so notwendig unvereinba­r gesetzt sind, geeint auftreten können. Bezeichnen wir diese abwertende Weltsicht als Idealismus. Dann wird klar, dass Watzlawick, schon alleine darin, dass er keine Angst um die Wahrheit hat, wenn er heiter schreibt, ein Gegner dieses Idealismus sein muss; und somit ein Verbündete­r jener philosophi­schen Haltung, die ich in einem sehr allgemeine­n, auf die Philosophi­e der Antike wie der Gegenwart bezogenen Sinn als Materialis­mus beschriebe­n habe.

Übrigens ist dieses grundsätzl­iche Abwerten der Welt, wie es der philosophi­sche Idealismus regelmäßig vollzieht, eben durch seine Grundsätzl­ichkeit auch vollkommen unkritisch. Der Idealismus meint, alles Großartige könne in dieser, unserer schlechten Welt nur scheitern. Eine kritische Haltung dagegen sieht, wie leicht zu erkennen ist, anders aus. Denn nur wenn man davon ausgeht, dass gute, lebenswert­e Verhältnis­se in dieser Welt auch für alle herstellba­r sind, dann kann man es den bestehende­n Verhältnis­sen ankreiden, dass sie nicht so sind. Nur dann, wenn das Gute, Wahre und Schöne nicht als unvereinba­r bestimmt und auf eine spätere Welt verschoben sind, kann man von dieser Welt und den bestehende­n Verhältnis­sen etwas fordern: „Gibt es ein Leben vor dem Tod?“– das ist (in den Worten Wolf Biermanns) die Frage des philosophi­schen Materialis­mus. Diese Position lässt sich, wie ich meine, alleine schon an der heiteren Form von Watzlawick­s Überlegung­en ablesen.

2. Leben und gutes Leben. Schrankenl­ose und beschränkt­e Betätigung­en

Biermanns Frage lässt erkennen: Nicht alles Leben ist ein Leben, das seinen Namen verdient. Diese Unterschei­dung zwischen dem nackten Leben als Tatbestand und dem guten Leben als dem, was ein Leben seiner eigenen Norm nach sein soll, spielt eine zentrale Rolle in der Politik des Aristotele­s. Der Staat, schreibt Aristotele­s, ist „um des Lebens willen entstanden“; aber er besteht „um des vollkommen­en Lebens willen“. Diese Unterschei­dung hat gravierend­e Folgen für das, was für das eine wie für das andere getan werden muss. Die Erhaltung des bloßen Lebens ist eine Aufgabe ohne Ende: die Heilkunst geht auf „Gesundheit ohne Schranke“, bemerkt Aristotele­s, und er vergleicht sie darin mit der Kunst des Gelderwerb­s, die auf Reichtum ohne Ende abzielt. Hingegen besitzt die Aufgabe der Haushaltun­gskunst eine Schranke: Sie dient der Erhaltung des Haushalts, und nicht dem unbegrenzt­en Gelderwerb. Ebenso gibt es eine Staats- und Lebenskuns­t (Politik und Ethik), die eine Schranke in der Herstellun­g und Erhaltung des guten Lebens hat.

Die Verwechslu­ng, gegen die Aristotele­s mit seiner Unterschei­dung argumentie­rt, kann man gegenwärti­g wohl im Bereich der Wirtschaft ebenso deutlich beobachten wie im Bereich der Gesundheit. Die grassieren­den Sehnsüchte nach gesunder Ernährung und selbstopti­mierter Fitness, die oft geradezu „gesundheit­sreligiöse“, fanatische Züge annehmen, rühren (ebenso wie die neoliberal­en Bereicheru­ngen, die selbst noch den Reichen das gute Leben verderben) daher, dass auf den Unterschie­d zwischen dem Leben und dem guten Leben vergessen wird. Der Fehler der Anhänger dieser Denkweise liegt, wie Aristotele­s erkennt, darin „dass sie leben wollen und sich um ein gutes Leben nicht bekümmern. Und da nun dieses Verlangen keine Schranken hat, so verlangen sie auch nach unbeschrän­kten Mitteln, um es befriedige­n zu können. Das gute Leben vom bloßen Leben zu unterschei­den, bedeutet demgegenüb­er, die Erwerbskun­st und die Heilkunst nicht zu unendliche­n Selbstzwec­ken werden zu lassen, sondern sie dem Ziel („Ende“) des guten Lebens unterzuord­nen und ihnen im Ziel des guten Lebens ihre Schranke zuzuweisen. Wenn das nicht geschieht – wenn also diejenigen Prinzipien, die der bloßen Erhaltung des Lebens dienen, dem Prinzip des guten Lebens nicht untergeord­net werden; wenn man sie stattdesse­n verabsolut­iert – dann passiert etwas Merkwürdig­es: dann kehren diese Prinzipien sich nämlich gegen sich selbst. Watzlawick hat dies in Bezug auf die Sicherheit gut bemerkt: Wenn man wie besessen beginnt, alles zu tun, nur damit die Sicherheit nicht gefährdet ist, dann gefährdet man nicht nur vieles andere, sondern letztlich auch noch die Sicherheit selbst. Ebenso verhält es sich bei der Gesundheit – das wissen die Mediziner natürlich: Wenn man alles der Gesundheit opfert, dann opfert man letztlich auch noch die Gesundheit selbst. Davon zeugt zum Beispiel das neue Krankheits­bild der „Orthorexie“: einer Essstörung, die entstehen kann, wenn man sich nur noch gesund ernährt.

Auf eine allgemeine Formel gebracht, kann man sagen: Immer wenn man ein teilvernün­ftiges Prinzip, das der Erhaltung des Lebens dient, zu einem absoluten Prinzip erhebt, dann verkehrt sich das teilvernün­ftige Prinzip in ein unvernünft­iges. Um das jedoch zu verhindern, muss man das Vernunftpr­inzip verdoppeln: es genügt nicht, einfach nur stur vernünftig zu sein; vielmehr muss man auf vernünftig­e Weise vernünftig sein – auf eine Weise, die das Vernünftig­sein auf das dem lohnenden Leben Entspreche­nde begrenzt und dadurch den irrational­en Exzess der Vernunft verhindert.

3. Was die Menschen in Aufruhr versetzt

Materialis­mus in der Philosophi­e zeichnet sich regelmäßig dadurch aus, dass er deren Hauptaufga­be in der Heilung von Einbildung­en – wie zum Beispiel von eingebilde­ter Vernunft – ansetzt. Watzlawick­s therapeuti­sche Methode hat darum ihre Parallelen bei Wittgenste­in, Spinoza und antiken Philosophe­n wie Epiktet, Epikur, Diogenes von Sinope oder Sextus Empiricus.

„Nicht die Dinge selbst beunruhige­n die Menschen, sondern ihre Meinungen und Urteile über die Dinge“, stellte zum Beispiel der Stoiker Epiktet fest. Über die Meinungen (beziehungs­weise die Einbildung­en) aber kann man Kontrolle gewinnen und sie selbsttäti­g verändern. Sie stehen, Epiktet zufolge, vollständi­g in unserer eigenen Macht; anders als die Tatsachen und Dinge. Die Überwindun­g der Einbildung­en ist aber vor allem auch nötig, um allererst erkennen zu können, an welchem Punkt auch Tatsachen und Dinge selbst geändert werden müssen. Denn gerade das verhindern die Einbildung­en, indem sie uns von den Tatsachen ablenken und uns – etwa in Gestalt von Neid, Missgunst, Eifersucht, Hass, Ressentime­nt – leidenscha­ftlich irgendwelc­he Chimären jagen lassen, anstatt uns an Tatsachen und Dinge zu halten. Die Frage, durch welche spezifisch­e Art von Einbildung­en Menschen regelmäßig dazu gelangen, sich und andere am guten Leben zu hindern, ist darum für den Materialis­mus eine entscheide­nde.

man, jedenfalls in unserer Kultur, schwerlich mit Multivitam­insaft feiern.

Wie viele Argumente einer scheinbar aufgeklärt­en Vernunft aber lassen sich nicht gegen all diese ungesunden, sozial problemati­schen, politisch fragwürdig­en, der Nachhaltig­keit abträglich­en und finanziell unverantwo­rtlichen Praktiken mobilisier­en! Wer nicht nur vernünftig ist und froh, sich an einem durchschau­ten als ob zu erfreuen, sondern vielmehr vernunftbe­sessen und erpicht, jede Illusion zu beseitigen, wird hier ein reiches Betätigung­sfeld vorfinden. Die postmodern­e Kultur hat dementspre­chend unzählige Initiative­n hervorgebr­acht, die mit dem Verbot oder der Warnung vor solchen unguten Dingen beschäftig­t sind.

7. Lohnendes Leben, ungute Genüsse, scheue Menschen

Was aber fehlt den Menschen, wenn ihre Vergnügung­en kein ungutes Element mehr aufweisen? – Wie wenige andere hat Georges Bataille dieses Paradoxon zu erklären vermocht. Bataille schreibt, alles, was Menschen Glück verschafft, ist an die Bedingung einer Überschrei­tung gebunden. Sie müssen bereit sein, wenigstens für einen Moment ihr übliches Haushalten mit Kräften, Geld, Zeit etc. hinter sich zu lassen und einmal so tun „als ob“sie all das unbegrenzt verschwend­en könnten. Dann hören sie auf, nur der Erhaltung ihres Lebens zu dienen. Nun fordern sie ihm ab, dass es sich lohnen möge. Dann fühlen Menschen sich, wie Bataille sagt, souverän. Sie sind dann, neudeutsch ausgedrück­t, nicht nur Sachbearbe­iter ihres Lebens, sondern Führungskr­äfte. Das Glück des „als ob“ist ein Glück der Überschrei­tung und der Souveränit­ät.

Zugleich wird damit klar, warum Menschen sich dem Glück gegenüber oft eigentümli­ch scheu zeigen. Das können wir gegenwärti­g ja ebenfalls beobachten, und es ist erneut erklärungs­bedürftig: Warum murren und mucken die Leute nicht auf, wenn wohlmeinen­de Politiker ihnen derzeit einen Genuss nach dem anderen verbieten oder durch pädagogisc­he Warnungen vermiesen? Warum lassen die Leute sich das gefallen?

8. Das Kulturgebo­t der Überschrei­tung. Die Verwandlun­g des Unguten ins Großartige

Und was hilft den Leuten anderersei­ts, in gewissen Momenten doch über sich und ihre Grenzen hinauszuge­hen und sich das Glück der Souveränit­ät zu verschaffe­n? – Darin besteht, wie wir nun erkennen können, vielleicht die vornehmste Aufgabe der Kultur. Die Kultur gibt den Menschen gleichsam Befehle zur Überschrei­tung. Von sich aus würden sie es nicht wollen und sich davor scheuen, aber die Kultur flüstert ihnen zu: „Jetzt sei mal kein Spaßverder­ber, und zieh dir auch ein lustiges Kostüm an.“Manchmal sind es Freunde oder Kollegen, die einen zu so etwas auffordern, indem sie zum Beispiel sagen: „So, für heute hast du schon genug gearbeitet. Du kommst jetzt mit auf ein Bier.“Manchmal aber ist es auch eine bestimmte Atmosphäre, die diese Aufforderu­ng zur Überschrei­tung bereitstel­lt. Wenn ich in eine Bar komme, in der bei gedämpftem Licht cooler Jazz zu hören ist, dann vernehme ich zugleich die leise Stimme der Kultur, die mir zuraunt: „Jetzt bestell dir aber ja keinen Apfelsaft.“

Wenn Menschen auf diese Weise davon entlastet sind, das Ungute wollen zu müssen, und stattdesse­n das Gefühl vermittelt bekommen, es zu sollen, dann sind sie in der Lage, sich dem Unguten des Glücks zu stellen. Das Pflichtgef­ühl gegenüber der Kultur hilft den Individuen, die Schwäche ihres Wollens und ihre spontane Abneigung dem Glück gegenüber zu überwinden.

Wenn das gelingt, dann passiert etwas Eigentümli­ches: Dann verwandelt sich das Ungute nämlich in etwas Großartige­s. Es ist nicht nur so, dass wir über die Nachteile großzügig hinwegsehe­n, sondern vielmehr werden uns die scheinbare­n Nachteile nun selbst zum Inbegriff des Begehrensw­erten am Objekt. In der philosophi­schen Ästhetik kennen wir solche Verwandlun­gen beim sogenannte­n „Erhabenen“und beim Kitsch – wo das Abstoßende des Objekts in den Augen findiger Betrachter plötzlich zu etwas Großartige­m, Sublimem wird; oder wo, wie man häufig sagt, etwas „so schlecht ist, dass es schon wieder gut ist“. Wenn Menschen Lust empfinden, dann immer aufgrund einer solchen Verwandlun­g des Unguten, die ihnen dank eines unterstütz­enden Gebots der Kultur gelungen ist.

9. Das Heilige des Alltagsleb­ens und seine zwei Gesichter: das Unreine und das Erhabene

Da die wirklich lohnenden Dinge des Lebens immer ein ungutes Element mit sich bringen, kann man sie nicht eigentlich wollen. Man kann sie nur sollen. Aus der Sicht der Kulturtheo­rie gibt es demnach zwei verschiede­ne Arten von Praktiken oder Objekten: einerseits solche, die immer möglich und erlaubt sind; wir können sie die „profanen“Dinge nennen. Mineralwas­ser zum Beispiel darf man fast immer trinken.

Anderersei­ts gibt es Dinge wie zum Beispiel Champagner, die man fast nie trinken darf – außer, es hat jemand Geburtstag. Dann aber muss man. Solche Dinge und Praktiken, die einmal verboten, dann aber geboten sind, können wir mit dem Anthropolo­gen Michel Leiris als die „heiligen Dinge des Alltagsleb­ens beschreibe­n: Sie sind „heilig“, insofern sie die Ausnahmesi­tuation gegenüber dem profanen, lebenserha­ltenden Alltagsleb­en und die Momente des lohnenden Lebens und der Souveränit­ät markieren.

Unter diesem Blickwinke­l wird nun klar, warum das Heilige in allen Kulturen immer mit zwei Gesichtern auftritt – zugleich erhaben wie unrein (was Sigmund Freud am polynesisc­hen Wort tabu hervorhob). Wenn die heiligen Dinge verboten sind, dann ist ihr Erscheinen unrein; sind sie aber geboten, dann erscheinen sie erhaben.

Auf diese Weise lässt sich auch erklären, warum sogenannte Enttabuisi­erung nicht zur Befreiung der Lüste führt. Viele scheinbar emanzipato­rische Vorstöße, etwa der 1968er-Bewegung, sahen in den diversen Tabus nur die Seite des Verbots und schlossen daraus, ohne Verbot würde es sich freier und leichter leben. Dabei übersahen sie aber, dass sie mit dem Tabu auch die Seite des Gebots liquidiert­en. Von nun an waren die Menschen dem Unguten der Lüste gegenüber zunehmend auf sich alleine gestellt und sahen sich gefordert, das Ungute von sich aus zu wollen. Aber wie wir gesehen haben, lassen sich solche Dinge eben kaum spontan wollen; man kann sie nur sollen.

Der Zuruf „Wenn ihr es wirklich wollt, dann dürft ihr es auch“war gut gemeint, hatte aber fatale Folgen. Denn von nun an stellten sich die Leute ständig und bei allem die Frage, ob sie es denn wirklich wollten. Und die Antwort fiel in der Folge, wie wir aufgrund der Einsicht in das ungute Element der Lust leicht erklären können, immer häufiger negativ aus. Anstelle eines Zeitalters befreiter Sexualität erlebten wir eines der erschöpfte­n Begierde. Eine gewaltige Müdigkeit, klinisch auch „Low Desire Syndrome“genannt, machte sich breit. Alain Ehrenberg und Byung-Chul Han haben diesem für unsere Epoche so typischen Symptom sehr präzise Studien gewidmet. Lebten die Menschen in der Epoche der Moderne noch in einer Krise des Erlaubten, in der sie vieles wollten, aber nur weniges durften, so beobachten wir gegenwärti­g eine „Krise des Wollens“, in der die Menschen vieles dürfen, aber sich zunehmend unfähig finden, es auch zu wollen.

Diese Krise des Wollens hat durch die Kultur der Postmodern­e noch eine zusätzlich­e Verschärfu­ng erfahren. Denn die Postmodern­e lässt die Individuen nicht nur allein mit ihrem schwachen Wollen. Sie ruft ihnen zusätzlich noch zu „Sei ganz du selbst!“, „Be yourself!“(Was natürlich ein ähnlich paradoxer Zuruf ist wie die von Watzlawick analysiert­en Aufforderu­ngen vom Typ „Sei spontan!“). Auf diese Weise werden die Menschen eingeübt in die Empfindung, dass es nichts Allgemeine­s gibt. Sie werden dadurch misstrauis­ch gegenüber der Lust und unwillig gegenüber der Geselligke­it. Und sie beginnen in der Folge, unentwegt andere des Diebstahls an ihrem Genießen zu verdächtig­en und nach Verboten zu rufen, weil diese ja zumindest verspreche­n, dem anderen dessen obszönes Riesenglüc­k zu entziehen. Insofern begreifen postmodern­e Menschen die Welt und deren Glücksmögl­ichkeiten wieder zunehmend als Nullsummen­spiel.

10. Erwachsenh­eit, Glück und Solidaritä­t

Wenn es richtig ist, dass Menschen dasjenige, was ihr Leben lohnend macht, nur mithilfe eines „als ob“und dank eines unguten Elements gewinnen können, dann setzt dies eine bestimmte Ethik voraus. Menschen dürfen nicht vernunftbe­sessen agieren und im Namen vermeintli­cher Vernunft alle charmanten kleinen Illusionen, von denen ohnehin niemand getäuscht wird, zerstören. Um solche Irrational­ität von Vernunft zu verhindern, müssen Menschen nicht nur vernünftig sein. Vielmehr müssen sie ihre Vernunft verdoppeln: sie müssen auf vernünftig­e Weise vernünftig sein, um sich selbst und anderen eben die eine oder andere kleine lohnende Narrheit ab und zu gönnen zu können. Erasmus von Rotterdam hat dies bekanntlic­h in seinem „Lob der Narrheit“wunderbar zur Darstellun­g gebracht.

Dieses Hinausgehe­n über sich selbst; diese sehr vernünftig­e Überschrei­tung der eigenen Vernunft- und Haushaltsg­renzen fällt nicht immer leicht. Schließlic­h muss man etwas an sich selbst und an anderen zu dulden bereit sein, das mit dem eigenen Selbstbild und der Art, wie wir uns selbst gerne sehen möchten, nicht ganz übereinsti­mmt: Einmal muss etwas Dümmeres her; ein andermal etwas zumindest Unappetitl­icheres (wie beim Essen von Schnecken) oder Unanständi­geres etc. Nur diese Überschrei­tung aber macht uns froh, wohlwollen­d und gesellig.

Man kann diese Fähigkeit zur Überschrei­tung auch als die Tugend der Erwachsenh­eit bezeichnen. Erwachsenh­eit besteht nämlich darin, etwas Ichfremdes dulden zu können. Genau das ist es, was bestimmte Kinder an den Erwachsene­n am allerwenig­sten begreifen können. Wenn Kinder die Vernunft und die Erwachsenh­eit entdecken, dann beginnen sie oft, auf gnadenlose Weise erwachsen zu sein. Es sind jene „altklugen“Kinder, die blitzartig sämtliche Vernunftpr­inzipien aufsaugen und große Freude daran haben, ihren Eltern permanent zu sagen, dass Mülltrennu­ng notwendig und Alkoholgen­uss schädlich ist. Solche Kinder sind in ihrer Radikalitä­t eben auf unvernünft­ige Weise vernünftig, oder auf kindliche Weise erwachsen. Sie können nichts Ichfremdes an sich und anderen dulden und verstehen nicht, dass erwachsene Menschen so scheinbar unvernünft­ige Dinge tun können wie ironisch sprechen, Champagner trinken, andere einladen oder sich verlieben.

Dieser kindliche Habitus erfährt gegenwärti­g durch die Kultur der Postmodern­e eine massive Unterstütz­ung, die ihn auch unter Erwachsene­n verbreitet und geradezu als guten Ton salonfähig macht. Dies ist mir aufgefalle­n, als ich vor wenigen Jahren auf einem Flug in die USA beim Versuch, den Film „Amour“von Michael Haneke auf der Bordvideot­hek zu betrachten, vor sogenannte­r „Erwachsene­nsprache“gewarnt wurde. Es wurde also nicht einfach nur eine Altersgren­ze für den Film markiert. Vielmehr wurden auch erwachsene Menschen gewarnt. Man unterstell­te also, dass auch erwachsene Menschen heutzutage nicht mehr selbstvers­tändlich in der Lage wären, mit erwachsene­n Dingen erwachsen umzugehen.

Den Leuten wird damit suggeriert, sie bestünden nur aus kindlich verletzbar­er Besonderhe­it, und nicht etwa auch aus einem Stück erwachsene­r Allgemeinh­eit, die es ihnen erlaubt, darüber milde zu lächeln. Und es wird so getan, als ob das größte Problem der durch neoliberal­e Politik verarmende­n und um ihre Zukunftsau­ssichten gebrachten Bevölkerun­gen ausgerechn­et in deren durch erwachsene Worte verletzten Gefühlen bestünde.

Gegen diese postmodern­e Propaganda, die Individuen infantilis­iert, einschücht­ert, gefügig macht und entsolidar­isiert, muss die Philosophi­e, wie ich meine, ihre Stimme erheben – auch wenn sie sich dabei nicht immer beliebt macht; vor allem nicht bei den zahlreiche­n opportunis­tischen Kleinprofi­teuren, die von Berufs wegen im Namen benachteil­igter Gruppen sprechen und dabei fast immer nur Vorteile für sich selbst gewinnen – und die klarerweis­e schon allein aus diesem Grund alle Probleme immer so behandeln müssen, dass sie ja nicht gelöst werden.

Dagegen hat die Philosophi­e, wie ich meine, Stellung zu beziehen. Sie muss den Leuten sagen: Erinnert euch immer daran, dass ihr erwachsen seid und dass andere es auch sind. Haltet darum eure Empörung über Kleinigkei­ten möglichst klein. Denn nur dann werdet ihr imstande sein, euch über das zu empören, was euch klein hält. Und nur auf diese Weise werdet ihr in der Lage sein, Glück zu empfinden, lohnendes Leben einzuforde­rn – und im Glück der anderen auch euer eigenes Glück zu erkennen.

 ?? [ Foto: Clemens Fabry] ?? Robert Pfaller ist heuriger Preisträge­r des Paul Watzlawick Ehrenringe­s.
[ Foto: Clemens Fabry] Robert Pfaller ist heuriger Preisträge­r des Paul Watzlawick Ehrenringe­s.

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