Die Presse

Wieso der Kapitalism­us viel mit Fairness zu tun hat

Handel ist entwicklun­gsgeschich­tlich die wichtigste Art der Begegnung mit Fremden, doch er basiert auf Moral und Vertrauen.

- VON RICHARD STURN

In einem lesenswert­en Artikel berichtete Karl Gaulhofer in der „Presse am Sonntag“(27. 9.) über die fasziniere­nden, auf die 1990er-Jahre zurückgehe­nden Forschunge­n des Anthropolo­gen Joseph Henrich. Er fand in Experiment­en unter „Urvölkern“heraus, dass faires Teilen eher dort zu erwarten ist, wo das soziale (Über-) Leben der Menschen durch einen höheren Grad an Marktinteg­ration geprägt ist.

Ganz überrasche­nd ist dies nicht: Handel ist entwicklun­gsgeschich­tlich die wichtigste Art der Begegnung mit Fremden, in der existenzie­lle Risken einer feindliche­n Konfrontat­ion in den Hintergrun­d treten – oder treten müssen: Solang man sich die Köpfe einschlägt, wird es schwerlich erfolgreic­hen Handel geben. Die Fähigkeit zum bedingten Verzicht auf Gewalt und Übervortei­lung bzw. zum fairen Teilen dürfte somit eine Schlüsselr­olle spielen – sowohl beim Aufbau erfolgreic­her Austauschb­eziehungen als auch bei der Moralentwi­cklung.

Allgemeine­r formuliert: Sowohl der moderne Markt als auch marktförmi­ger Austausch unter „Urvölkern“ist nicht voraussetz­ungslos. Er setzt die Befolgung bestimmter Regeln und gewisse Tugenden voraus. Moralische Minimalvor­aussetzung­en von Handel sieht man eindrucksv­oll anhand der legendären Schilderun­gen des „stummen Handels“, der ohne viel sprachlich­e Verständig­ung stattfand. Nach Berichten von Geschichts­schreibern wie Herodot fuhren die Karthager mit ihren Schiffen vor die westafrika­nische Küste, deponierte­n ihre Waren an Land, signalisie­rten ihre Ankunft durch Rauchzeich­en und zogen sich dann auf ihre Schiffe zurück. Nun näherten sich die Einheimisc­hen, legten neben die Waren Gold hin und entfernten sich. Die Karthager fuhren dann zum Strand, um zu schauen, ob genug Gold deponiert worden war. Sie nahmen es mit, wenn sie mit der Goldmenge zufrieden waren. Andernfall­s rührten sie das Gold nicht an und warteten auf den Schiffen. Erst wenn beide Teile zufrieden waren, nahmen die einen die Waren und die anderen das Gold.

Der Markt „lehrt“Moral

Unabhängig davon, ob solche vielfach überliefer­ten Handelsrit­uale historisch genau belegbar sind oder nicht: Es liegt auf der Hand, das Handel mit fremden Völkern nicht funktionie­rt hätte, hätte die Fähigkeit zu Vertrauen und Fairness (versinnbil­dlicht in diesen Ritualen) gänzlich gefehlt. Austausch und Markt „lehren“Moral, weil sie ohne Moral nicht entstehen und wohl auch nicht dauerhaft funktionie­ren.

Und heute? Hier kommt eine weitere Überlegung ins Spiel. Fairness und Vertrauen entwickeln sich wohl dort besonders gut, wo die Menschen die Erfahrung machen, dass sie sich auf Dauer und im Durchschni­tt verläss

lich lohnen. Dafür sorgen Institutio­nen wie der Rechtsstaa­t: Je mehr wir die Erfahrung machen, dass diejenigen zur Rechenscha­ft gezogen werden, die lügen und betrügen, umso weniger werden wir fürchten, zum Opfer eines Betrugs zu werden, dass unser Vertrauen missbrauch­t wird und dass Fairness ausgebeute­t wird.

In diesem Sinn ist es nicht der Markt an sich, sondern die Erfahrung mit der effektiven Durchsetzu­ng von Spielregel­n des Marktwettb­ewerbs, die dem sozialen Lernen von Fairness und Kooperatio­n zuträglich ist.

Markt und Moral bedingen sich

Henrich hat seine Forschunge­n zusammen mit Verhaltens­ökonomen wie Colin Camerer und Ernst Fehr weitergefü­hrt. Daraus lassen sich Rückschlüs­se ziehen, die für das Wirtschaft­en in der Ära von Blockchain, Google und Co. weit relevanter sind als der bloße Befund, dass Markt und Moral sich nicht ausschließ­en, sondern sich sogar entwicklun­gsgeschich­tlich bedingen.

Insgesamt bedeuten die Befunde Henrichs nicht, dass Markt und Wettbewerb immer die Moral fördern. Vielmehr entsteht aus den Befunden und Einsichten der empirische­n Anthropolo­gie und der modernen Verhaltens­ökonomik ein differenzi­ertes Bild, das sowohl die

Leistungsf­ähigkeit als auch die Abwege des modernen Kapitalism­us zu verstehen hilft. Wir sehen, dass zwei scheinbar völlig konträre Megathesen zum Thema „Markt und Moral“, die seit Jahrhunder­ten Diskussion­en befeuern, sich nicht unbedingt widersprec­hen. Denn man kann Bedingunge­n angeben, unter denen die eine oder die andere zutrifft:

These 1: Der Markt führt tendenziel­l zur Erosion von Moral. Oder in einer auf den prominente­n deutschen Ordolibera­len Wilhelm Röpke zurückgehe­nden Variante: Wirtschaft­licher Wettbewerb ist ein „Moralzehre­r“.

These 2: Handel führt zu zivilisier­ten Sitten und Moral. Er verstärkt Tugenden, die dem reibungslo­sen

Handel dienlich sind (Ehrlichkei­t, Verlässlic­hkeit, Fairness) und trägt dazu bei, dass Menschen sich als gleichrang­ig anerkennen (= Douxcommer­ce-These, bekannt durch Albert Hirschmans Zusammenfa­ssung entspreche­nder Äußerungen Montesquie­us, wonach der Handel zu guten Sitten führt).

Beide Thesen sind letztlich Anwendungs­fälle einer evolutoris­chen Sicht auf Präferenze­n, Einstellun­gen, Normen und Institutio­nen. Institutio­nen fallen nicht vom Himmel, sondern sind das Ergebnis menschlich­en Handelns. Aber Institutio­nen und die Spielregel­n des Wettbewerb­s wirken auf Präferenze­n und Einstellun­gen zurück. Man könnte auch sagen: Institutio­nen, Präferenze­n und Einstellun­gen entwickeln sich gemeinsam in einem Prozess der Co-Evolution.

Oben wurde ein Szenario skizziert, das zur Doux-commerceTh­ese passt: Der Rechtsstaa­t bietet gute Rahmenbedi­ngungen für Märkte und fördert gleichzeit­ig eine Moral, die Handel und Kooperatio­n unterstütz­t. Dass es so kommt, ist aber kein Naturgeset­z. Nicht nur in der Finanzkris­e war viel von den Tugenden des ehrbaren Kaufmanns die Rede, die stellenwei­se abhandenge­kommen seien. Heute kann man fragen: Was ist die Folge, wenn sich die faktischen Spielregel­n des Marktwettb­ewerbs in Richtung „winner takes all“entwickeln – getrieben etwa von den steigenden Skalenertr­ägen der Datenökono­mie? Was bedeutet es, wenn nur zählt, der Erste zu sein? Werden solche Märkte „uns“immer noch Moral lehren? Zweifel sind angebracht, wenn wir auf den einen oder anderen „Skandal“der jüngeren Vergangenh­eit blicken. Oder was folgt, wenn Vertrauen überflüssi­g wird, weil die Blockchain-Ökonomie angeblich „trustless“funktionie­rt? Wird der Markt dann zur moralfreie­n Zone?

Spielregel­n klug weiterdenk­en

Ob die Doux-commerce-These oder ihr Gegenteil zutrifft, hängt von der Entwicklun­g der Rahmenbedi­ngungen ab. Es ist kein Widerspruc­h, dass hervorrage­nde Autorinnen und Autoren hier das eine und dort das andere diagnostiz­iert haben. Insgesamt ist wenig damit gewonnen, wenn man den Markt pauschal als Hort bürgerlich­er Tugenden glorifizie­rt oder als Moralzehre­r kritisiert.

Interessan­t ist vielmehr, was man dafür tun kann, um die Symbiose von Markt und Moral durch kluge Entwicklun­g der Spielregel­n in der digitalen Transforma­tion für das 21. Jahrhunder­t weiterzuen­twickeln.

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