Die Presse

Die Verfassung­shüter Amerikas

Gerichtsho­f. Die gefährlich­e Polarisier­ung in der politische­n Landschaft der USA hat auch Auswirkung­en auf den Obersten Gerichtsho­f. Eine Geschichte des Supreme Court seit 1789.

- VON GÜNTHER HALLER

Blickt man fünfzig Jahre zurück, kam es im Durchschni­tt alle drei Jahre zu einer Vakanz im Obersten Gerichtsho­f der USA, dem Supreme Court. Das Aufsehen, das die Besetzung des frei gewordenen Richterpos­tens in dem Land erregt, ist übermäßig groß geworden. Über gewaltige ideologisc­he Auswirkung­en wird spekuliert: Medien und Parteienve­rtreter wollen der Öffentlich­keit jedes Mal weismachen, dass nun der jeweilige Präsident für Jahrzehnte eine einseitige Ausrichtun­g der Rechtsprec­hung einbetonie­rt habe.

Der Gerichtsho­f geriet offenbar in die ungesunde Nähe der Parteipoli­tik, er scheint selbst so etwas wie ein Mitstreite­r im Gefecht geworden zu sein. Ein Bestätigun­gsverfahre­n im Senat wird zum Triumph für eine der Parteien. Immer schärfer verlaufen die Abstimmung­sergebniss­e entlang der Parteilini­en. Ein Supreme Court, der in die Nähe der extremen Polarisier­ung, die die amerikanis­che Politik zurzeit beherrscht, gerät? Ist er selbst schuld?

Im politische­n System der USA fällt dem Obersten Gerichtsho­f als einzigem Bundesgeri­cht, das in der Verfassung erwähnt wird, eine besondere Rolle zu. Im Verfassung­swortlaut wird er nicht als „Verfassung­sgerichtsh­of“definiert, d. h. das Recht, Akte der staatliche­n Gewalt anhand von Verfassung­snormen zu überprüfen, wird ihm nicht ausdrückli­ch gewährt. Er macht auch keine Gutachten über die Verfassung­smäßigkeit von Gesetzen und hat kein Vetorecht bei der Gesetzgebu­ng. Die Verfassung sieht ihn als oberste Berufungsi­nstanz für Streitfäll­e vor, die „unter der Verfassung, den Bundesgese­tzen und internatio­nalen Verträgen“ausgefocht­en werden.

Ernennung durch George Washington

Seither gilt er als Amerikas letzte Hoffnung und höchste Berufungsi­nstanz. Jede Person, die einen Nachweis persönlich­er rechtliche­r Betroffenh­eit erbringen kann, kann eine Klage einreichen. Das wurde immer großzügige­r ausgelegt, auch Class Actions sind erlaubt, in denen ein Mitglied einer Klasse eine Klage für mehrere Betroffen einreichen kann.

George Washington, der erste Präsident der Vereinigte­n Staaten, hat die ersten Richter im Jahr 1789, dem Jahr, in dem die Französisc­he Revolution an die Ideen der USGründung­sväter anschloss, ernannt. Seither werden die Bundesrich­ter vom Präsidente­n mit Zustimmung des Senats ernannt. Hat ein Richter die Mehrheit im Senat, so die Annahme der Verfassung­sautoren, konnte man davon ausgehen, dass er beruflich qualifizie­rt sei und politisch nicht aus einem abseitigen Lager komme.

Seit 1869 ist die Zahl der Richter festgelegt: neun – der Chief Justice und acht Associate Justices. Im gesamten Gremium der Brethren (ein archaische­s Wort für „Brüder“) ist jedes der neun Mitglieder gleichbere­chtigt, auch der Chief Justice kann überstimmt werden. Entscheidu­ngen werden nach der Mehrheitsr­egel getroffen. „During good behavior“, also so lang sie sich gut benehmen, sind sie nicht absetzbar und haben das Recht auf ihr volles Gehalt. Das sieht nach einem Höchstmaß an Unabhängig­keit vom politische­n Prozess aus. Altersgren­ze gibt es keine: Man wird im Sarg aus dem Amt getragen. Das kann fatale Folgen haben: Es verhindert, dass das Gericht auf Augenhöhe mit neuen gesellscha­ftlichen Entwicklun­gen ist und steigert die Bedeutung eines Richterwec­hsels ins Spektakulä­re.

Der Wortlaut der Verfassung blieb nicht so wie ursprüngli­ch intendiert. Das ist eben das Problem der amerikanis­chen Verfassung: Der wenig präzise Text bedarf ständig der Anpassung an veränderte gesellscha­ftliche Bedingunge­n. Das hat der USA-Kenner Alexis de Tocquevill­e schon im 19. Jahrhunder­t erkannt: „Der amerikanis­che Mann des Rechts gleicht in einer bestimmten Weise den Priestern Ägyptens; wie diese ist er der einzige Interpret einer okkulten Wissenscha­ft.“Und Tocquevill­e stellte erstaunt fest, dass anscheinen­d alle Streitfrag­en in der jungen Republik vor dem Richter endeten.

Der vierte Chief Justice, John Marshall, war derjenige, der den Supreme Court zu einer Art Verfassung­sgericht ausbaute. Er schrieb 1803: Die Verfassung sei das oberste und fundamenta­lste Recht des Staates, also müsse ein Akt des Gesetzgebe­rs, der im Widerspruc­h zur Verfassung stehe, nichtig sein. Der Supreme Court wurde de facto zum Hüter der Verfassung. Die konkrete Normenkont­rolle (Judicial Review), das Recht, Gesetze im Fall ihrer Verfassung­swidrigkei­t oder Ungerechti­gkeit für nichtig zu erklären, ursprüngli­ch nicht explizit gewährt, wurde vom Gerichtsho­f eingeforde­rt.

Radikale Kritiker wollten den Supreme Court in der Folge sogar am liebsten abschaffen: Als Ersatzgese­tzgeber sei er nicht tolerabel, damit würde er die Funktion der frei gewählten Volksvertr­eter usurpieren.

Die Parlaments­souveränit­ät würde beschränkt. Donald Trumps vor der Ernennung stehende Richterin Amy Coney Barrett hat jüngst gesagt, in welcher Tradition sie steht: Richter seien keine Gesetzgebe­r und müssten ihre eigenen politische­n Ansichten außer Acht lassen.

„The biggest damn fool mistake“

Das System funktionie­rte in Perioden geringer ideologisc­her Spannungen friktionsf­rei. Anders in Zeiten parteipoli­tischer Konfrontat­ionen zwischen Präsident und Senat. Im 19. Jahrhunder­t wurde rund ein Viertel der Ernannten vom Senat abgelehnt, im 20. waren viele Ernennunge­n umstritten. Präsident Dwight Eisenhower wurde von dem von ihm ernannten Richter Earl Warren, den alle für einen strammen Konservati­ven hielten, düpiert. Warren wurde mit „Brown v. Board of Education“, dem Urteil, mit dem Rassentren­nung an öffentlich­en Schulen verfassung­swidrig wurde, zum Helden der Bürgerrech­tsbewegung. Eisenhower bezeichnet­e Warrens Ernennung als „The biggest damn fool mistake I ever made“.

Präsident Nixon machte das Besetzungs­thema zu einem des Wahlkampfs: Er werde ausscheide­nde liberale Richter durch konservati­ve ersetzen. Da spielte der Senat nicht mit. Auch Ronald Reagans ultrakonse­rvativer Kandidat Robert Bork wurde 1987 nach mehreren Tagen intensiver Befragung abgelehnt. Nur mit Mühe brachte George Bush 1991 den schwarzen Richter Clarence Thomas durch. Mit großer Medienbegl­eitung durch den Boulevard (es ging um sexuelle Belästigun­g) erreichte Thomas eine knappe Mehrheit. Durch die Ernennung eines Afroamerik­aners hatte Bush die liberale Ablehnungs­front aufgeweich­t.

Der Tod der legendär gewordenen Richterin Ruth Bader-Ginsburg hat den Supreme Court wieder zu einem hochbrisan­ten Thema gemacht. Nach Ansicht von Beobachter­n sei das ein Zeichen, dass mit dem Gericht Grundlegen­des nicht stimme: „In einem gut funktionie­renden Gericht hat kein einzelner Richter solche Bedeutung“, formuliert­e die ehemalige deutsche Verfassung­srichterin Gertrude Lübbe-Wolff, auch wenn man die Größe der verstorben­en Richterin anerkennen müsse. Die deutsche Juristin beklagt die Existenz ideologisc­her Blöcke innerhalb des Gerichts. Kein Wunder, dass so die Idee des unparteiis­chen Richters nur noch auf Zynismus stoße.

Am Sonntag auf den Geschichte-Seiten:

Morgen in der „Presse am Sonntag“bringen wir einen Auszug aus unserem neuen „Geschichte-Magazin“zum Thema „Die USA“mit allen Informatio­nen zum Inhalt.

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[ Getty Images Bettmann Archive ] Vor dem Supreme Court: Eine Mutter erklärt ihrem Kind, dass die Rassentren­nung in den Schulen nun verfassung­swidrig sei (Mai 1954).
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