Striptease im Raumschiff
Der Schlüssel zum Werk von Roberto Bolano:˜ „Cowboygräber“, ein chilenisches Schicksal.
Das literarische Werk von Roberto Bolan˜o, Chiles irrlichterndem, 2003 viel zu früh verstorbenem Meistererzähler, brauchte Gewöhnung, bis es mitteleuropäische Leser erreichte. Inzwischen liegen 16 deutsche Übersetzungen seiner Romane, Erzählungen und Gedichte vor. Dem Hanser Verlag verdanken wir die deutschsprachige Edition dreier aus dem Computer-Archiv des Verstorbenen gefilterter Erzählungen: „Cowboygräber“.
Seit Bolan˜os Sterben – er litt an einer (nicht von Alkohol verursachten) Leberzirrhose – rückte bei uns eine junge, dem Surrealismus entwöhnte Lesergeneration nach. Mit der Lektüre der „Cowboygräber“bekommt die nun den Schlüssel zum gesamten Werk des Chilenen in die Hand. Denn die relativ kurzen Erzählungen verdichten sich zur Essenz der Poetik Bolan˜os. Alles erscheint fragmentarisch, aber jedes Fragment gehört zu einer Einheit, die in ständiger Bewegung ist. Sie sind Stücke eines Puzzles, wobei keines vergessen wird, sondern immer neu auftaucht. Daher wirkt dieser nachgelassene Text brandneu und vertraut, als omnipräsenter Arturo Bolan˜o vulgo Arturo Belano, dessen biografische Fakten in Kunstträume und Mirages entschwinden.
So erlebt der Autor-Held einelate inamerikanische Wirklichkeit, die außer Poesie wenig Trost, wohl aber Gewalt und apokalyptische Ereignisse, zuletzt sogar eine blendende Sonnenfinsternis, bereithält. Deshalb der Zwang zum unentwegten Reisen. In den hier vorliegenden Erzählungen,
„infrarealistisch“strukturiert, dürfen fiktive Nazis oder deutsche Messerschmitt-Flugzeuge auftauchen. Alles, was in Bolan˜os großen Texten eine Rolle spielt, kehrt hier wieder. Man könnte auch ausposaunen: Wer diese drei Erzählungen liest, findet sich in Bolan˜os Kosmos tadellos zurecht!
Die spanische Edition beginnt mit der Erzählung „Vaterland“(patria) und schiebt „Sepulcros de Vaqueros“an die zweite Stelle. Im Deutschen umgekehrt. Als Leser erachte ich den Tausch als sinnvoll, weil vorerst, unaufgeregt, das Reisen in Bus, Flugzeug oder Schiff durchexerziert wird, wobei insbesondere Mexiko-Stadt vorteilhaft abschneidet. Außerdem bricht hier, wieder einmal, der Schalk durch, indem der Held nach dem Bücherstöbern und auch Bücherstehlen in das nächste vormittägliche Kino geht, sich in die erste Reihe setzt und zu Masturbieren beginnt. Natürlich als Kunstform: „Das Problem bestand nun darin, meine Orgasmen mit den besten Szenen des Films kurzzuschließen, was beim ersten Anscheinen eine heikle Angelegenheit sein konnte. Als ich zum Beispiel ,Barbarella‘ ansah, kam ich bei der erstbesten Gelegenheit (der Striptease-Szene im Raumschiff )“.
Solche Idylle ist freilich nur in der mexikanischen Kapitale möglich, denn bald muss der Held nach Chile zurück, „denn wir Lateinamerikaner sollen alle nach Chile gehen, um die Revolution zu unterstützen“. Indes, in der Nacht des Militärputsches gegen Allende am 11. September 1973, schließt sich unser Held einer kommunistischen Nachtwache an – vergisst aber das ihm anvertraute Losungswort.
In allen drei Geschichten erreichen den Helden merkwürdige Telefonanrufe, deren Botschaften immer dringlicher auf Variationen einer möglichen Poetik eingehen. Dies steigert sich in der dritten Erzählung, die wohl aus Boshaftigkeit in Französisch-Guyana beginnt, einer Portion Land, von dem wohl nur wenige wissen, dass es EU-integriert auf dem neuen 50-Euro-Schein als gar nicht so winziger Punkt aufscheint. Dort beginnt ein Telefonmarathon, der schließlich in die Abwasserkanäle führt, wo über Instruktionen ein surrealistischer Untergrund entstehen soll, denn „der offizielle Surrealismus ist ein verdammter Sauhaufen“.
Die deutsche Ausgabe endet mit einem sehr brauchbaren Nachwort von Heinrich von Berenberg, Freund, Übersetzer und Interpret Bolan˜os. Er informiert kundig über das Verwenden von Nazi-Metaphern in Zusammenhang mit politischen Gewaltbrüchen aus der neueren lateinamerikanischen Geschichte. Das editorische Original dagegen glänzt mit dem Abdruck einiger Seiten aus Bolan˜os Zettelkasten zum Thema.