Neues Leben in alten Industriegebieten
Graz. Innovativ konzipierte Wohn- und Arbeitswelten statt brachliegender Industrieareale: Darauf setzt Graz, um dem Bevölkerungswachstum zu genügen. Geplante Bestandsverdichtungen stoßen aber auch auf Kritik.
Wenn gegenwärtig in Graz von Stadtentwicklung die Rede ist, dann meint man damit in erster Linie die Schaffung von Wohnraum: Allein heuer und im kommenden Jahr wurden bzw. werden rund 6400 Wohneinheiten bezugsfertig, für die Jahre danach sind weitere 10.000 schon jetzt geplant. Zwei Maßnahmenbündel hebt Stadtbaudirektor Bertram Werle als wesentliche Strategien hervor: Zum einen steht die Neunutzung ehemaliger Industrie- und Gewerbegebiete auf der Agenda, zum anderen die Verdichtung im Bestand. Eine räumliche Ausdehnung des Siedlungsgebiets kommt nicht infrage. Das verbieten die Beckenlage und der die Stadt umgebende Grüngürtel, der laut Raumordnungskonzept auf jeden Fall unangetastet bleiben soll.
Kurze Wege
Vorzeigeprojekt ist das Reininghaus-Quartier, eines der größten zentrumsnahen Stadtentwicklungsvorhaben in Europa. Auf dem ehemaligen Brauerei-Areal, dessen Ausmaß jenem von 73 Fußballfeldern entspricht, entsteht derzeit Platz zum Wohnen und Arbeiten für rund 10.000 Menschen. Mehrere Wohnbauträger teilen sich die insgesamt 20 Baufelder auf. Gemeinsam mit der Stadt Graz haben sie einen Rahmenplan erstellt, der im Sinne einer „Stadt der kurzen Wege“(Werle) einen bunten Mix aus Wohnungen, Büros, Dienstleistungsbetrieben, Handelsflächen und Bildungseinrichtungen vorsieht.
21-Etagen-Turm
Blickfang wird das zukünftig höchste Haus der Stadt, ein 21-Etagen-Turm mit Dachrestaurant. Zwischen der Esplanade, der zentralen Verkehrsachse, und der vor Kurzem großzügig neu angelegten östlichen Umfahrung werden vor allem Eigentumswohnungen stehen, auf der anderen Seite frei finanzierte sowie geförderte Mietwohnungen. Dazwischen der „Reininghauspark“sowie einige erhaltene historische Brauereigebäude, die unter anderem einer kulturellen Nutzung zugeführt werden sollen. Die ersten Häuser sind bereits fertig und bezogen, mit der endgültigen Fertigstellung des gesamten Quartiers wird in etwa vier Jahren gerechnet.
Gleich nebenan wird die Industriebrache entlang der Südbahngleise und westlich des Hauptbahnhofs wiederbelebt: Die acht Hektar große Smart City im
Schatten des von ökologischen Forschungseinrichtungen genutzten Science Tower soll durch die Umsetzung innovativer Klimaschutzmaßnahmen ein energieeffizienter, ressourcenschonender und emissionsarmer Stadtteil werden. Auch hier ist die erste Etappe bereits fertig gestellt. Neue Straßenbahnlinien erschließen sowohl Reininghaus als auch die Smart City, den Individualverkehr versucht man durch eine drastische Limitierung der Abstellplätze zu drosseln.
Als drittes Großprojekt soll die bislang eher unattraktive Grazer Osteinfahrt umgestaltet und künftig als „Tor zur Stadt“Ankommende begrüßen. Geplant sind unter anderem neue Wohn- und Geschäftsbauten sowie die Aufstockung des Stadionturms und die Errichtung eines Parks.
Während die Neunutzung ehemaliger Industriegebiete weitgehend Zustimmung findet, stößt die Bestandsverdichtung auch auf Kritik. Besorgt sind viele Grazer über das Verschwinden kleiner innerstädtischer Grünflächen. „Jede Stunde werden in Graz zehn Quadratmeter Boden versiegelt“, sorgt sich Stefan Herzog vom KPÖ-Gemeinderatsklub. „In den vergangenen acht Jahren waren das 68 Hektar, dreimal die Fläche des Grazer Stadtparks.“
Kritische Bürgerinitiative
Auch architektonisch interessante Gründerzeitvillen werden im Stadtgebiet des Öfteren durch Wohnblöcke ersetzt. Klaus Scheiber will mit einer eigens gegründeten Bürgerinitiative diesem Vorgehen Einhalt gebieten. Denn: „Eine allfällige Neubebauung muss ortsbildgerecht sein und sich an die Bestimmungen des Landschaftsschutzgebietes am Stadtrand halten“, fordert er.
Umstritten ist, ob die Stadt Graz überhaupt so viel neuen Wohnraum braucht. Während Werle deren Schaffung als Notwendigkeit angesichts des anhaltenden Bevölkerungszuwachses verteidigt, glaubt Gerald Gollenz, Fachgruppenobmann der Immobilientreuhänder in der steirischen Wirtschaftskammer, dass das Angebot von Bauträgereinheiten, gesamtsteirisch gesehen, „die prognostizierte Haushaltsentwicklung übersteigt“.