Coronapolitik: Was ist der Plan?
Pandemie. Warum die Ampel-Idee ein Comeback erlebt, der Bund abwartet und die Länder sehr unterschiedlich reagieren.
Wien. Die Coronastrategie der Regierung war schon einmal klarer. Während Bundesmaßnahmen im Raum stehen, breitet sich ein Fleckerlteppich an Regeln übers Land. Warum wer derzeit zögert, was jetzt gilt und was vielleicht kommt. Ein Überblick:
1 Wie dramatisch ist die Lage, und wie ist die Aussicht für den Winter?
Die gute Nachricht lautet: Es bestehe kein Grund für Alarmismus, sagt Peter Klimek vom Complexity Science Hub Vienna, der für die Regierung Pandemie-Prognosemodelle erstellt. Ja, die Infektionszahlen nehmen zu, aber es seien derzeit kein unkontrolliertes Wachstum und keine großflächige Überlastung des Gesundheitssystems in Sicht. Die weniger gute Nachricht: Die bisherigen Maßnahmen reichen nicht, um die Fallzahlen nachhaltig zu senken. Das ginge nur mit einer drastischen Einschränkung sozialer Kontakte.
Für den Winter skizziert Klimek folgendes wahrscheinliches Szenario: Vom jetzigen Niveau aus steigen und sinken die Zahlen in unregelmäßigen Schüben: „Wenn die Zahlen steigen, wird man Maßnahmen verschärfen, und die Menschen nehmen Einschränkungen in Kauf, sinken die Zahlen, sinkt auch das Risikobewusstsein wieder.“Und dann steigen die Zahlen – und so weiter. An lokale Hotspots und Orte unter Quarantäne „werden wir uns gewöhnen müssen“, so Klimek. Lokal werde auch das Gesundheitssystem an seine Grenzen kommen. Ob diese ambivalente Ausgangslage reicht, damit Österreich als Wintertourismusziel attraktiv sein könnte, sei freilich fraglich, so der Forscher. Allerdings: „Fraglich ist auch, ob aus epidemiologischer Sicht eine Reisetätigkeit überhaupt wünschenswert ist.“
Ein großes Fragezeichen sind auch die Weihnachtsfeiertage: „Da kommt alles zusammen, was nur zusammenkommen kann: Die Generationen treffen aufeinander, es wird gesungen, auswärts gegessen, gereist. Man muss jetzt beobachten, wie sich Thanksgiving in den USA auswirkt, das könnte uns Hinweise geben“, sagt Klimek. Und: Wichtig sei „schon jetzt, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass an ein normales Weihnachten nicht zu denken ist.“
2 Warum zögert die Regierung bei bundespolitischen Maßnahmen? Worauf wartet man?
Es ist eine Kommunikation der kleinen Schritte, begleitet vom Raunen über einen zweiten Lockdown: Schon länger stehen Verschärfungen auf Bundesebene im Raum, am Freitag wurde es zumindest etwas konkreter: Am Montag soll es nicht nur eine Bund-Länder-Videokonferenz geben, es sollen auch Maßnahmen präsentiert werden. Welche? Das wurde nicht konkretisiert. Warum aber nimmt sich der Bund zurück? Warum zögert man? Das hat vielleicht persönliche Gründe: Der Gesundheitsminister gilt als einer, der
Entscheidungen gern länger überdenkt. Anschober selbst verwendet die Formel vom „richtigen Zeitpunkt“. Der ergebe sich, so heißt es auf Nachfrage, aus der Kombination der Informationen über die Ausbreitungssituation, der Wirkung potenzieller Maßnahmen und dem Zeitabstand zwischen ihnen und der vermuteten Akzeptanz der Bevölkerung.
Aber es geht natürlich auch um Politik. Nachdem der Bund Anfang Herbst eher hektisch Länder und Bezirke mit neuen Maßnahmen überrollte und es hieß, die Ampel und die Idee der Regionalisierung seien quasi „tot“, versucht man es nun doch mit der vor allem von den Grünen präferierten „Fleckerlteppich“-Strategie. Bezirke und Länder sollen ihre neuen rechtlichen Möglichkeiten wahrnehmen. Sie sollen gezielt Maßnahmen setzen und – wenn sich die Situation ändert – rasch wieder aufheben. Und sie sollen somit auch die Verantwortung für unpopuläre Maßnahmen übernehmen. (Was eventuell ein Grund ist, warum manche Länder derzeit doch nach Bundesregeln rufen.) Der Bund
hingegen greift in diesem Modell nur subsidiär ein, wenn regionales Pandemiemanagement nicht ausreicht. Ein Hintergedanke ist wohl auch: Es braucht auch noch Eskalationspotenzial nach oben.
Die Frage ist auch, was der Bund gegen Cluster im Privaten überhaupt machen könnte. „Im Wesentlichen geht es darum, die Bevölkerung an Bord zu holen und mit unterschiedlichsten lokalen Führungspersönlichkeiten zu reden, um SuperspreadingEvents zu vermeiden“, sagt Klimek. Das könnten Leiter in Religionsgemeinschaften, Schuldirektoren oder Betreiber von Fitnessclubs sein. „Das ist wichtiger als jede Sperrstunden-Debatte.“
Tatsächlich wird aber mit einer bundesweiten Vorverlegung der Sperrstunde gerechnet. Auch ein Verbot der Plastikvisiere, die mit dem Mund-Nasen-Schutz gleichgestellt sind, hat Anschober in Aussicht gestellt. Mehrere internationale Studien bescheinigen den Visieren schon länger eine schlechte Schutzfunktion. Dass man sie noch nicht verboten hat, dürfte mit dem Verständnis für die Gastronomie zu tun haben bzw. deren Widerstand. Aus der Wirtschaftskammer heißt es: Die Senkung der Infektionszahlen habe oberste Priorität, jedoch „sollte die Energie dort eingesetzt werden, wo die meisten Ansteckungen passieren – im privaten Bereich. Gesichtsvisiere spielen dabei eine sehr untergeordnete Rolle und stehen im Einklang mit der Covid-19-MaßnahmenVerordnung.“
3 Welche unterschiedlichen Strategien verfolgen die Bundesländer?
Der Appell des Bundeskanzlers, Maßnahmen zu setzen, hat in einigen Ländern zu einer Verschärfung der Regelungen geführt, in anderen nicht. Die bevorstehende Wintersaison spielt dabei die entscheidende Rolle: Vor allem Tirol und Salzburg befürchten massive wirtschaftliche Auswirkungen durch die Einschränkungen des Reiseverkehrs.
Tirol hat den Zugang zu Alters- und Pflegeheimen beschränkt und bei Veranstaltungen eine Obergrenze von 250 Besuchern eingezogen. Die Vorverlegung der Sperrstunde auf 22 Uhr gilt schon länger. Salzburg hat die Gemeinde Kuchl unter Quarantäne gestellt, die Registrierungspflicht in der Gastronomie eingeführt und in einigen Bezirken die Schüler ab der neunten Schulstufe wieder in
Homeschooling geschickt. Und die Universität Salzburg setzte am Freitag die Präsenzlehre aus und stellte auf Fernbetrieb um.
Auch in Tirol wurde am Freitag die Schulampel in fünf Bezirken auf Orange gestellt, womit Oberstufenschüler entweder Schichtbetrieb oder Homeschooling haben. Andere Bundesländer verzichten auf diese Maßnahme – auch Oberösterreich, wo in Wels die Ampel seit Donnerstagabend auf Rot steht. In der Steiermark will man bis Montag warten, ob der Bund schärfere Regeln verfügen wird. Sollte dies nicht der Fall sein, werde man dies selbst machen, so Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer. Er sieht Probleme beim Tragen der Maske bei kleineren Vereinen und im privaten Bereich.
In Wien, wo die Infektionszahlen ebenfalls hoch sind und immer noch fast die Hälfte aller derzeit Infizierten daheim ist, wird dagegen nicht über weitere Verschärfungen nachgedacht. Das liege aber nicht am fehlenden Wintertourismus, versichern die Verantwortlichen, sondern an der Entwicklung: Die Zahlen gehen zurück. Am Freitag gab es nur noch 230 neue Fälle, da war man schon bei mehr als 600. Das sei kein statistischer Ausreißer, sondern eine Trendwende. Und ein
Zeichen, dass die bereits gesetzten Maßnahmen – raschere Testergebnisse und die Registrierungspflicht in der Gastronomie – wirken würden.
4 Warum sind in Tirol die Zahlen so hoch, wo doch Tirol so vom Wintertourismus abhängt?
In der Stadt Innsbruck und dem Bezirk Innsbruck Land sind 32 Cluster besonders in Altersheimen aufgetreten, wie Elmar Rizzoli, Leiter des Tiroler Einsatzstabs, erklärt. Einer der Cluster umfasst mehr als 80 Personen. Zwei miteinander verheiratete Mitarbeiter, beide Covid-19-positiv, haben die Infektion in zwei Altersheime getragen. 141 Fälle pro 100.000 Einwohner sind in Innsbruck, 120 in Innsbruck Land bis vergangenen Dienstag innerhalb von sieben Tagen aufgetreten. Daher war die rote Ampelschaltung unvermeidlich, die ab 100 Fällen gilt. Die Zahlen sind (einzigartig in Europa) „risikoadjustiert“. Heißt: Die absoluten Fallzahlen (in Innsbruck zuletzt 160) werden mit Parametern über Rückverfolgungsquote, Spitäler-Auslastung, Altersverteilung korrigiert. Für Studentenheime gibt es Entwarnung, es kommt eher in Wohngemeinschaften zu Infektionen.