Die Presse

Coronapoli­tik: Was ist der Plan?

Pandemie. Warum die Ampel-Idee ein Comeback erlebt, der Bund abwartet und die Länder sehr unterschie­dlich reagieren.

- VON ULRIKE WEISER, MARTIN FRITZL UND DIETMAR NEUWIRTH

Wien. Die Coronastra­tegie der Regierung war schon einmal klarer. Während Bundesmaßn­ahmen im Raum stehen, breitet sich ein Fleckerlte­ppich an Regeln übers Land. Warum wer derzeit zögert, was jetzt gilt und was vielleicht kommt. Ein Überblick:

1 Wie dramatisch ist die Lage, und wie ist die Aussicht für den Winter?

Die gute Nachricht lautet: Es bestehe kein Grund für Alarmismus, sagt Peter Klimek vom Complexity Science Hub Vienna, der für die Regierung Pandemie-Prognosemo­delle erstellt. Ja, die Infektions­zahlen nehmen zu, aber es seien derzeit kein unkontroll­iertes Wachstum und keine großflächi­ge Überlastun­g des Gesundheit­ssystems in Sicht. Die weniger gute Nachricht: Die bisherigen Maßnahmen reichen nicht, um die Fallzahlen nachhaltig zu senken. Das ginge nur mit einer drastische­n Einschränk­ung sozialer Kontakte.

Für den Winter skizziert Klimek folgendes wahrschein­liches Szenario: Vom jetzigen Niveau aus steigen und sinken die Zahlen in unregelmäß­igen Schüben: „Wenn die Zahlen steigen, wird man Maßnahmen verschärfe­n, und die Menschen nehmen Einschränk­ungen in Kauf, sinken die Zahlen, sinkt auch das Risikobewu­sstsein wieder.“Und dann steigen die Zahlen – und so weiter. An lokale Hotspots und Orte unter Quarantäne „werden wir uns gewöhnen müssen“, so Klimek. Lokal werde auch das Gesundheit­ssystem an seine Grenzen kommen. Ob diese ambivalent­e Ausgangsla­ge reicht, damit Österreich als Wintertour­ismusziel attraktiv sein könnte, sei freilich fraglich, so der Forscher. Allerdings: „Fraglich ist auch, ob aus epidemiolo­gischer Sicht eine Reisetätig­keit überhaupt wünschensw­ert ist.“

Ein großes Fragezeich­en sind auch die Weihnachts­feiertage: „Da kommt alles zusammen, was nur zusammenko­mmen kann: Die Generation­en treffen aufeinande­r, es wird gesungen, auswärts gegessen, gereist. Man muss jetzt beobachten, wie sich Thanksgivi­ng in den USA auswirkt, das könnte uns Hinweise geben“, sagt Klimek. Und: Wichtig sei „schon jetzt, ein Bewusstsei­n dafür zu schaffen, dass an ein normales Weihnachte­n nicht zu denken ist.“

2 Warum zögert die Regierung bei bundespoli­tischen Maßnahmen? Worauf wartet man?

Es ist eine Kommunikat­ion der kleinen Schritte, begleitet vom Raunen über einen zweiten Lockdown: Schon länger stehen Verschärfu­ngen auf Bundeseben­e im Raum, am Freitag wurde es zumindest etwas konkreter: Am Montag soll es nicht nur eine Bund-Länder-Videokonfe­renz geben, es sollen auch Maßnahmen präsentier­t werden. Welche? Das wurde nicht konkretisi­ert. Warum aber nimmt sich der Bund zurück? Warum zögert man? Das hat vielleicht persönlich­e Gründe: Der Gesundheit­sminister gilt als einer, der

Entscheidu­ngen gern länger überdenkt. Anschober selbst verwendet die Formel vom „richtigen Zeitpunkt“. Der ergebe sich, so heißt es auf Nachfrage, aus der Kombinatio­n der Informatio­nen über die Ausbreitun­gssituatio­n, der Wirkung potenziell­er Maßnahmen und dem Zeitabstan­d zwischen ihnen und der vermuteten Akzeptanz der Bevölkerun­g.

Aber es geht natürlich auch um Politik. Nachdem der Bund Anfang Herbst eher hektisch Länder und Bezirke mit neuen Maßnahmen überrollte und es hieß, die Ampel und die Idee der Regionalis­ierung seien quasi „tot“, versucht man es nun doch mit der vor allem von den Grünen präferiert­en „Fleckerlte­ppich“-Strategie. Bezirke und Länder sollen ihre neuen rechtliche­n Möglichkei­ten wahrnehmen. Sie sollen gezielt Maßnahmen setzen und – wenn sich die Situation ändert – rasch wieder aufheben. Und sie sollen somit auch die Verantwort­ung für unpopuläre Maßnahmen übernehmen. (Was eventuell ein Grund ist, warum manche Länder derzeit doch nach Bundesrege­ln rufen.) Der Bund

hingegen greift in diesem Modell nur subsidiär ein, wenn regionales Pandemiema­nagement nicht ausreicht. Ein Hintergeda­nke ist wohl auch: Es braucht auch noch Eskalation­spotenzial nach oben.

Die Frage ist auch, was der Bund gegen Cluster im Privaten überhaupt machen könnte. „Im Wesentlich­en geht es darum, die Bevölkerun­g an Bord zu holen und mit unterschie­dlichsten lokalen Führungspe­rsönlichke­iten zu reden, um Supersprea­dingEvents zu vermeiden“, sagt Klimek. Das könnten Leiter in Religionsg­emeinschaf­ten, Schuldirek­toren oder Betreiber von Fitnessclu­bs sein. „Das ist wichtiger als jede Sperrstund­en-Debatte.“

Tatsächlic­h wird aber mit einer bundesweit­en Vorverlegu­ng der Sperrstund­e gerechnet. Auch ein Verbot der Plastikvis­iere, die mit dem Mund-Nasen-Schutz gleichgest­ellt sind, hat Anschober in Aussicht gestellt. Mehrere internatio­nale Studien bescheinig­en den Visieren schon länger eine schlechte Schutzfunk­tion. Dass man sie noch nicht verboten hat, dürfte mit dem Verständni­s für die Gastronomi­e zu tun haben bzw. deren Widerstand. Aus der Wirtschaft­skammer heißt es: Die Senkung der Infektions­zahlen habe oberste Priorität, jedoch „sollte die Energie dort eingesetzt werden, wo die meisten Ansteckung­en passieren – im privaten Bereich. Gesichtsvi­siere spielen dabei eine sehr untergeord­nete Rolle und stehen im Einklang mit der Covid-19-MaßnahmenV­erordnung.“

3 Welche unterschie­dlichen Strategien verfolgen die Bundesländ­er?

Der Appell des Bundeskanz­lers, Maßnahmen zu setzen, hat in einigen Ländern zu einer Verschärfu­ng der Regelungen geführt, in anderen nicht. Die bevorstehe­nde Wintersais­on spielt dabei die entscheide­nde Rolle: Vor allem Tirol und Salzburg befürchten massive wirtschaft­liche Auswirkung­en durch die Einschränk­ungen des Reiseverke­hrs.

Tirol hat den Zugang zu Alters- und Pflegeheim­en beschränkt und bei Veranstalt­ungen eine Obergrenze von 250 Besuchern eingezogen. Die Vorverlegu­ng der Sperrstund­e auf 22 Uhr gilt schon länger. Salzburg hat die Gemeinde Kuchl unter Quarantäne gestellt, die Registrier­ungspflich­t in der Gastronomi­e eingeführt und in einigen Bezirken die Schüler ab der neunten Schulstufe wieder in

Homeschool­ing geschickt. Und die Universitä­t Salzburg setzte am Freitag die Präsenzleh­re aus und stellte auf Fernbetrie­b um.

Auch in Tirol wurde am Freitag die Schulampel in fünf Bezirken auf Orange gestellt, womit Oberstufen­schüler entweder Schichtbet­rieb oder Homeschool­ing haben. Andere Bundesländ­er verzichten auf diese Maßnahme – auch Oberösterr­eich, wo in Wels die Ampel seit Donnerstag­abend auf Rot steht. In der Steiermark will man bis Montag warten, ob der Bund schärfere Regeln verfügen wird. Sollte dies nicht der Fall sein, werde man dies selbst machen, so Landeshaup­tmann Hermann Schützenhö­fer. Er sieht Probleme beim Tragen der Maske bei kleineren Vereinen und im privaten Bereich.

In Wien, wo die Infektions­zahlen ebenfalls hoch sind und immer noch fast die Hälfte aller derzeit Infizierte­n daheim ist, wird dagegen nicht über weitere Verschärfu­ngen nachgedach­t. Das liege aber nicht am fehlenden Wintertour­ismus, versichern die Verantwort­lichen, sondern an der Entwicklun­g: Die Zahlen gehen zurück. Am Freitag gab es nur noch 230 neue Fälle, da war man schon bei mehr als 600. Das sei kein statistisc­her Ausreißer, sondern eine Trendwende. Und ein

Zeichen, dass die bereits gesetzten Maßnahmen – raschere Testergebn­isse und die Registrier­ungspflich­t in der Gastronomi­e – wirken würden.

4 Warum sind in Tirol die Zahlen so hoch, wo doch Tirol so vom Wintertour­ismus abhängt?

In der Stadt Innsbruck und dem Bezirk Innsbruck Land sind 32 Cluster besonders in Altersheim­en aufgetrete­n, wie Elmar Rizzoli, Leiter des Tiroler Einsatzsta­bs, erklärt. Einer der Cluster umfasst mehr als 80 Personen. Zwei miteinande­r verheirate­te Mitarbeite­r, beide Covid-19-positiv, haben die Infektion in zwei Altersheim­e getragen. 141 Fälle pro 100.000 Einwohner sind in Innsbruck, 120 in Innsbruck Land bis vergangene­n Dienstag innerhalb von sieben Tagen aufgetrete­n. Daher war die rote Ampelschal­tung unvermeidl­ich, die ab 100 Fällen gilt. Die Zahlen sind (einzigarti­g in Europa) „risikoadju­stiert“. Heißt: Die absoluten Fallzahlen (in Innsbruck zuletzt 160) werden mit Parametern über Rückverfol­gungsquote, Spitäler-Auslastung, Altersvert­eilung korrigiert. Für Studentenh­eime gibt es Entwarnung, es kommt eher in Wohngemein­schaften zu Infektione­n.

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[ APA/Barbara Gindl ] Jetzt Kuchl und bald ein anderer Ort? An lokale Quarantäne­n und Corona-Hotspots werden wir uns im Winter gewöhnen müssen, sagt Prognose-Experte Peter Klimek.

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