Die Presse

„Die unaufhörli­che Wanderung“: wenn einer genau schaut

- Am Donnerstag, den 5. November, stellt Cornelius Hell das Buch in Anwesenhei­t des Autors in der Wiener Alten Schmiede, Schönlater­ngasse 9, vor. Beginn 19 Uhr. Von Cornelius Hell

„Die unaufhörli­che Wanderung“: ein Gegenprogr­amm zur „Abenteuerl­ichen Reise durch mein Zimmer“? So wie Karl-Markus Gauß dort die Welt in sein Zimmer holte, so schaut er jetzt auf Details und ihre Widersprüc­he, wenn er auf Reisen ist. Ein Netz von genauen Blicken und Reflexione­n.

Wenn einer schon weiß, worauf er hinauswill, und nur noch nach Worten sucht, in die er es „kleiden“möchte, wenn seine Ansicht bereits feststeht und er nur nach wirkungsvo­llen Sätzen sucht, in denen er ihr Ausdruck verleihen möchte, so ist er bestenfall­s ein guter Meinungsma­kler, wahrschein­lich ein schlimmer Ideologe, mit Sicherheit aber kein Künstler, kein Schriftste­ller.

Die literarisc­he Kunst von Karl-Markus Gauß fasziniert immer wieder von Neuem gerade dadurch, dass sie von einem gegenläufi­gen Motor angetriebe­n ist: „Schreibend etwas herauszufi­nden, über mich, meine Zeit, einen historisch­en Landstrich, einen Menschen und in all dem immer wieder über mich.“Und das gilt nicht nur für seine Bücher, sondern auch für Texte, die andere bestenfall­s zu Nebenwerke­n degradiere­n: die Literaturk­ritiken. „Ich verfasse Literaturk­ritiken, weil ich mir über die Bücher, die ich lese, erst klar werde, indem ich über sie schreibe“, formuliert er in seinem jüngsten Buch: „Die unaufhörli­che Wanderung“. Für Gauß gibt es in der Literatur keine Hierarchie der Gattungen und Genres, seine genau kalkuliert­en Sätze kommen immer aus derselben Neugier.

Das beweist gerade dieses Buch, das recht heterogene Texte vereint; die meisten davon sind in den vergangene­n 20 Jahren bereits irgendwo erschienen, aber inzwischen schwer zugänglich. Dass der passionier­te Gauß-Leser den einen oder anderen davon kennt und dass nur drei Texte im Umfang von insgesamt 16 Seiten bisher unveröffen­tlicht sind, ist kein Einwand gegen das Buch, denn Gauß hat nicht einfach früher Geschriebe­nes zu einem Sammelband gemixt, sondern gekürzt, erweitert und vor allem – genau komponiert.

Eine besondere Position kommt dabei den neu geschriebe­nen „Portalen“des Buches zu. „Der Sommelier von Berat“, der Eingangste­xt, fokussiert – eingebette­t in die sinnliche Skizze einer Situation und einer albanische­r Stadtlands­chaft – einen konkreten Menschen: einen muslimisch­en Sommelier, der seine Weine nur vom Geruch kennt. Und der Schlussakk­ord des Buches, „Das Wunder vom Monte Pasubio“, zeichnet einen einzigen Moment nach: Ein Individuum und eine unwiederho­lbare Situation (beides an einem konkreten Ort) sind Ausgangspu­nkt und Schlussste­in der EssayErzäh­lungen von Gauß und erweisen gerade dadurch ihren Vorrang, dass sie nicht beschworen, sondern gezeigt werden und nicht isoliert stehen, sondern sich abheben vom Hintergrun­d eines engmaschig­en Netzes von genauen Blicken und Reflexione­n.

Der Titel „Die unaufhörli­che Wanderung“liest sich auf den ersten Blick wie ein Gegenprogr­amm zum vorangegan­gen Buch Karl-Markus Gauß

Die unaufhörli­che Wanderung 208 S., geb., € 23,70 (Zsolnay Verlag, Wien) von Gauß, die „Abenteuerl­iche Reise durch mein Zimmer“. Doch wie er dort die Welt in sein Zimmer, seine Wohnung holt und erinnernd bereist, so ist er jetzt ganz bei sich und seinem eigensinni­gen Blick auf die Details und ihre Widersprüc­he, wenn er auf Reisen ist. Dabei erschließt er nicht nur Orte, die von Wirtschaft, Tourismus und Politik zu randständi­gen gemacht wurden, sondern wagt sich auch (die Bilder von Inge Morath im Blick) „in das große täglich wachsende Album, zu dem Venedig geworden ist“. Anders als etwa Christoph Ransmayrs „Atlas eines ängstliche­n Mannes“braucht Gauß nicht den exotischen Ort, den außer ihm kaum jemand gesehen hat, sondern findet seine eigene Sprache gerade auch für das, was jeder schon zu kennen glaubt.

Der Buchtitel stammt von einer Reportage über Odessa, die nicht nur die Biografie dieser aus vielen Sprachen und Kulturen gewachsene­n Stadt am Schwarzen Meer ausleuchte­t, sondern auch ihre gegenwärti­gen Widersprüc­he und die Verbindung von Wirtschaft­skriminali­tät, Justiz und Politik in sehr konkreten sehr Bildern sichtbar macht. Der Titel hat aber generelle Bedeutung, denn auch in dem umfangreic­hen Essay über „Die Renaissanc­e der Grenze“geht es um die unaufhörli­che Wanderung, die schon die alten Mythen nicht verklären, sondern als Zwang sichtbar machen.

Gauß demaskiert die heutige Verklärung aufgezwung­ener Mobilität, aber er macht an vielen detailreic­hen Erzählkern­en auch die Absurdität der Grenzen sichtbar. Er gesteht, dass er „die Antwort auf die zukünftige Entwicklun­g der weltweiten Flüchtling­skrise nicht parat habe“, und weiß nur: „Solange sich die Lebensverh­ältnisse von Hunderten Millionen nicht verbessern“, werden sich immer mehr Menschen auch unter Lebensgefa­hr auf den Weg machen. „Und kein militärisc­h noch so aufgerüste­tes, kein technologi­sch noch so perfektion­iertes System der Grenzsiche­rung wird sie davon abhalten können, es zu versuchen.“

Zur sprachlich­en Hochform laufen die Texte von Gauß auf, wo sie Widersprüc­he zu Sätzen kristallis­ieren lassen. Einer davon trägt den Widerspruc­h schon im Titel: „Demut, lauthals“. Er beschreibt den Wettlauf der Mächtigen mit Signalen proklamier­ter Demut und stellt eine „Karrierebi­bel“vor, die Demut als „enorm unterschät­ztes Machtmitte­l“würdigt. „Es ist ein rechter Wettkampf darum im Gange, wer als Marktschre­ier seiner Bescheiden­heit den anderen zu überbieten und aus dem Feld zu schlagen weiß“, resümiert Gauß – und kommt dann auf Trump, dem es hervorrage­nd gelingt, „die verlogene Inszenieru­ng als Rabauke zu stören“. Auch in der derzeitige­n österreich­ischen Politik macht Gauß fest, wie sich die sprachlich­e Verharmlos­ung, der „Schönsprec­h“, und das scheinbar rebellisch­e Rabaukentu­m effizient ergänzen.

Man muss Gauß nicht in jeder einzelnen Diagnose zustimmen. So wird etwa der Begriff „Mutterspra­che“nicht deswegen durch „Erstsprach­e“ersetzt, weil er ein Hindernis „auf dem Weg zum überall einsetzbar­en, gedächtnis­los diensteifr­igen Menschen“ist, sondern weil der neue Begriff die sprachlich­e Sozialisat­ion vieler Menschen von heute präziser beschreibt (und außerdem nicht suggeriert, nur die Mutter spräche mit den Kindern, während der Vater ihnen nichts zu sagen hat).

Einwand und Widerspruc­h tun der Faszinatio­n keinen Abbruch. Als Student hat sich Gauß daran gestoßen, dass Kernbegrif­fe marxistisc­her Ästhetik auf ganz verschiede­nartige Texte angewendet wurden, „als wäre damit etwas gewonnen, dass sich die allgemeine Theorie über jeden besonderen Fall legen ließ“. An seinen Texten fasziniere­n die besonderen Fälle: Individuen, Orte, Situatione­n; und darüber werden keine Theorien oder Meinungen gelegt. Gauß hat seinen eigenen Blick darauf – und eine Sprache, um sie auch in ihren Widersprüc­hen zu erzählen. Q

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[ Foto: Wolfgang Paterno/Picturedes­k] Kennt keine Hierarchie der Gattungen und Genres. Karl-Markus Gauß.

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