„Die unaufhörliche Wanderung“: wenn einer genau schaut
„Die unaufhörliche Wanderung“: ein Gegenprogramm zur „Abenteuerlichen Reise durch mein Zimmer“? So wie Karl-Markus Gauß dort die Welt in sein Zimmer holte, so schaut er jetzt auf Details und ihre Widersprüche, wenn er auf Reisen ist. Ein Netz von genauen Blicken und Reflexionen.
Wenn einer schon weiß, worauf er hinauswill, und nur noch nach Worten sucht, in die er es „kleiden“möchte, wenn seine Ansicht bereits feststeht und er nur nach wirkungsvollen Sätzen sucht, in denen er ihr Ausdruck verleihen möchte, so ist er bestenfalls ein guter Meinungsmakler, wahrscheinlich ein schlimmer Ideologe, mit Sicherheit aber kein Künstler, kein Schriftsteller.
Die literarische Kunst von Karl-Markus Gauß fasziniert immer wieder von Neuem gerade dadurch, dass sie von einem gegenläufigen Motor angetrieben ist: „Schreibend etwas herauszufinden, über mich, meine Zeit, einen historischen Landstrich, einen Menschen und in all dem immer wieder über mich.“Und das gilt nicht nur für seine Bücher, sondern auch für Texte, die andere bestenfalls zu Nebenwerken degradieren: die Literaturkritiken. „Ich verfasse Literaturkritiken, weil ich mir über die Bücher, die ich lese, erst klar werde, indem ich über sie schreibe“, formuliert er in seinem jüngsten Buch: „Die unaufhörliche Wanderung“. Für Gauß gibt es in der Literatur keine Hierarchie der Gattungen und Genres, seine genau kalkulierten Sätze kommen immer aus derselben Neugier.
Das beweist gerade dieses Buch, das recht heterogene Texte vereint; die meisten davon sind in den vergangenen 20 Jahren bereits irgendwo erschienen, aber inzwischen schwer zugänglich. Dass der passionierte Gauß-Leser den einen oder anderen davon kennt und dass nur drei Texte im Umfang von insgesamt 16 Seiten bisher unveröffentlicht sind, ist kein Einwand gegen das Buch, denn Gauß hat nicht einfach früher Geschriebenes zu einem Sammelband gemixt, sondern gekürzt, erweitert und vor allem – genau komponiert.
Eine besondere Position kommt dabei den neu geschriebenen „Portalen“des Buches zu. „Der Sommelier von Berat“, der Eingangstext, fokussiert – eingebettet in die sinnliche Skizze einer Situation und einer albanischer Stadtlandschaft – einen konkreten Menschen: einen muslimischen Sommelier, der seine Weine nur vom Geruch kennt. Und der Schlussakkord des Buches, „Das Wunder vom Monte Pasubio“, zeichnet einen einzigen Moment nach: Ein Individuum und eine unwiederholbare Situation (beides an einem konkreten Ort) sind Ausgangspunkt und Schlussstein der EssayErzählungen von Gauß und erweisen gerade dadurch ihren Vorrang, dass sie nicht beschworen, sondern gezeigt werden und nicht isoliert stehen, sondern sich abheben vom Hintergrund eines engmaschigen Netzes von genauen Blicken und Reflexionen.
Der Titel „Die unaufhörliche Wanderung“liest sich auf den ersten Blick wie ein Gegenprogramm zum vorangegangen Buch Karl-Markus Gauß
Die unaufhörliche Wanderung 208 S., geb., € 23,70 (Zsolnay Verlag, Wien) von Gauß, die „Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer“. Doch wie er dort die Welt in sein Zimmer, seine Wohnung holt und erinnernd bereist, so ist er jetzt ganz bei sich und seinem eigensinnigen Blick auf die Details und ihre Widersprüche, wenn er auf Reisen ist. Dabei erschließt er nicht nur Orte, die von Wirtschaft, Tourismus und Politik zu randständigen gemacht wurden, sondern wagt sich auch (die Bilder von Inge Morath im Blick) „in das große täglich wachsende Album, zu dem Venedig geworden ist“. Anders als etwa Christoph Ransmayrs „Atlas eines ängstlichen Mannes“braucht Gauß nicht den exotischen Ort, den außer ihm kaum jemand gesehen hat, sondern findet seine eigene Sprache gerade auch für das, was jeder schon zu kennen glaubt.
Der Buchtitel stammt von einer Reportage über Odessa, die nicht nur die Biografie dieser aus vielen Sprachen und Kulturen gewachsenen Stadt am Schwarzen Meer ausleuchtet, sondern auch ihre gegenwärtigen Widersprüche und die Verbindung von Wirtschaftskriminalität, Justiz und Politik in sehr konkreten sehr Bildern sichtbar macht. Der Titel hat aber generelle Bedeutung, denn auch in dem umfangreichen Essay über „Die Renaissance der Grenze“geht es um die unaufhörliche Wanderung, die schon die alten Mythen nicht verklären, sondern als Zwang sichtbar machen.
Gauß demaskiert die heutige Verklärung aufgezwungener Mobilität, aber er macht an vielen detailreichen Erzählkernen auch die Absurdität der Grenzen sichtbar. Er gesteht, dass er „die Antwort auf die zukünftige Entwicklung der weltweiten Flüchtlingskrise nicht parat habe“, und weiß nur: „Solange sich die Lebensverhältnisse von Hunderten Millionen nicht verbessern“, werden sich immer mehr Menschen auch unter Lebensgefahr auf den Weg machen. „Und kein militärisch noch so aufgerüstetes, kein technologisch noch so perfektioniertes System der Grenzsicherung wird sie davon abhalten können, es zu versuchen.“
Zur sprachlichen Hochform laufen die Texte von Gauß auf, wo sie Widersprüche zu Sätzen kristallisieren lassen. Einer davon trägt den Widerspruch schon im Titel: „Demut, lauthals“. Er beschreibt den Wettlauf der Mächtigen mit Signalen proklamierter Demut und stellt eine „Karrierebibel“vor, die Demut als „enorm unterschätztes Machtmittel“würdigt. „Es ist ein rechter Wettkampf darum im Gange, wer als Marktschreier seiner Bescheidenheit den anderen zu überbieten und aus dem Feld zu schlagen weiß“, resümiert Gauß – und kommt dann auf Trump, dem es hervorragend gelingt, „die verlogene Inszenierung als Rabauke zu stören“. Auch in der derzeitigen österreichischen Politik macht Gauß fest, wie sich die sprachliche Verharmlosung, der „Schönsprech“, und das scheinbar rebellische Rabaukentum effizient ergänzen.
Man muss Gauß nicht in jeder einzelnen Diagnose zustimmen. So wird etwa der Begriff „Muttersprache“nicht deswegen durch „Erstsprache“ersetzt, weil er ein Hindernis „auf dem Weg zum überall einsetzbaren, gedächtnislos diensteifrigen Menschen“ist, sondern weil der neue Begriff die sprachliche Sozialisation vieler Menschen von heute präziser beschreibt (und außerdem nicht suggeriert, nur die Mutter spräche mit den Kindern, während der Vater ihnen nichts zu sagen hat).
Einwand und Widerspruch tun der Faszination keinen Abbruch. Als Student hat sich Gauß daran gestoßen, dass Kernbegriffe marxistischer Ästhetik auf ganz verschiedenartige Texte angewendet wurden, „als wäre damit etwas gewonnen, dass sich die allgemeine Theorie über jeden besonderen Fall legen ließ“. An seinen Texten faszinieren die besonderen Fälle: Individuen, Orte, Situationen; und darüber werden keine Theorien oder Meinungen gelegt. Gauß hat seinen eigenen Blick darauf – und eine Sprache, um sie auch in ihren Widersprüchen zu erzählen. Q