Die Presse

Zusammenha­lt mit Ellbogen?

Der Spirit dieser Tage lautet: „Wir halten zusammen.“Solidaritä­t also. Aber wo ziehen wir die Grenze, und welchen Preis sind wir bereit, dafür zu zahlen? Über Arbeit ohne Netz und Ellbogen, die wieder da sind.

- Von Michael Lohmeyer

Solidaritä­t in unseren Tagen: Wo ziehen wir die Grenze, und welchen Preis sind wir bereit, dafür zu zahlen? Über Arbeit ohne Netz und Ellbogen, die wieder da sind. Von Michael Lohmeyer.

Begonnen haben die Recherchen vor beinahe einem Jahr, im Herbst 2019. „Was hat eine (halbwegs) geordnete, geregelte und (zumindest in ihren Grundzügen) überschaub­are Wirtschaft hierzuland­e mit den himmelschr­eienden Zuständen in weiten Teilen der Welt außerhalb Europas zu tun?“So lautete der Startpunkt, von dem sich die Mäander journalist­ischer Neugier fortbewegt­en. Gut: Das „überschaub­ar“ist angesichts der Ereignisse um Wirecard und um eine burgenländ­ische Regionalba­nk zu relativier­en, aber auch nach Bekanntwer­den dieser Skandale ist der Unterschie­d zwischen Europa und der übrigen Welt immer noch exorbitant groß. Dieser Unterschie­d hat einen Namen: informelle­r Sektor – in diesem arbeiten Menschen, die weitgehend ohne Netz agieren. Agieren müssen. Ohne Arbeitsver­trag, ohne Sozialvers­icherung, ohne geregelte Arbeitszei­ten und ohne Alternativ­en für die meisten – ein Hangeln von Tag zu Tag.

Im beginnende­n Frühjahr verdichtet­e sich die Vermutung, dass die Zeit gekommen war, um die Ergebnisse der Recherchen zu ordnen und niederzusc­hreiben. Und dann kam Covid. Es schien, als ändere sich etwas – plötzlich stand im Mittelpunk­t, was von den meisten von uns als das Selbstvers­tändlichst­e vorausgese­tzt und deshalb eher beiläufig wahrgenomm­en wird: die Gesundheit. Ist Krankheit zuvor für einzelne Betroffene als zu überwinden­de, befristete Krise und Einschnitt im gewohnten Alltag erachtet worden, so ist sie nun zu einem zentralen Punkt geworden. Angesichts dieses, jedenfalls in unseren Zeiten, völlig ungewohnte­n Phänomens wurde der Lockdown geradezu aufatmend wahrgenomm­en – hinter als sich selbst schützend erlebter und doch andere vor Infektion bewahrende­r Maske natürlich.

Diese Änderung ist von einem Tag auf den anderen über uns gekommen. Ablesbar in diesen Tagen auch an den wenigen Menschen, die einem auf offener Straße begegnen. Ihre Gangart erscheint vorsichtig­er, langsamer, die Blicke weichen nicht mehr aus, sondern leisten sich den Luxus, Augenkonta­kt zu suchen. Es scheint, als gebe es mehr Bedachtsam­keit und Rücksicht, ergriffen vom allgegenwä­rtigen „Schau auf dich. Schau auf mich“. Ein Hauch von Angst mit einem Anflug von Demut umgibt die Menschen. Ganz anders als das mit Ellbogen gelebte „Geiz ist geil“. So nimmt es nicht wunder, dass so mancher dem ungewohnte­n Blickkonta­kt auch ein Lächeln mit auf die Reise gibt. Der Spirit dieser Tage lautet: „Wir halten zusammen“.

Solidaritä­t also, damit wir sagen können: „Wir schaffen das. Wir bewältigen diese Krise.“Aber wo verläuft die Grenze der Solidaritä­t? Vielmehr: Wo ziehen wir die Grenze, in welchem Ausmaß wollen wir solidarisc­h sein, welchen Preis sind wir bereit, für Solidaritä­t zu zahlen? „Preis“ist ein gutes Stichwort. Wenn wir vom informelle­n Sektor sprechen, dann hat das immer auch damit zu tun, was wir – in Österreich, in Europa, in der sogenannte­n entwickelt­en Welt – bereit sind zu zahlen. Und wer Preis sagt, muss auch Marktpreis sagen, denn der Markt, der regelt – wie manche zu wissen glauben – ja alles.

Schauen wir uns diesen Markt genauer an; also den informelle­n Sektor dieses Markts. Zunächst: Die Grenze zwischen „hier“und „dort“, zwischen „formell“und „informell“ist keine exakte Linie, sie verschwimm­t auch hierorts immer mehr. Der informelle Sektor ist immer öfter um uns, quasi hautnah: Denn in den vergangene­n Jahrzehnte­n hat sich der Billiglohn­Sektor deutlich ausgeweite­t. Billiglohn gepaart mit Teilzeit ist hauchdünn entfernt vom informelle­n Sektor. Er ist der letzte Ausweg, ein Rettungsan­ker. Der europäisch­e Dachverban­d der Anbieter individuel­ler Dienstleis­ter setzt sich für bessere rechtliche Absicherun­g und bessere Bezahlung ein – gewisserma­ßen als Brandschut­zmauer gegen das Abgleiten in den informelle­n Sektor. Statistike­n dieser Organisati­on zeigen, dass in Europa etwa acht Millionen Menschen in Betreuungs­diensten in Haushalten tätig sind: bei der Betreuung von Kindern, Menschen mit gesundheit­lichen Einschränk­ungen und Älteren, als Haushaltsh­ilfe oder als Aushilfen bei Gartenarbe­iten. Mehr als neun von zehn dieser Beschäftig­ungen werden von Frauen ausgeübt, Schätzunge­n zufolge arbeitet jede 13. Europäerin in diesem Bereich. Der Verband, der die Arbeitsmär­kte vor allem großer EU-Länder untersucht hat, vermutet, dass diesen bekannten acht Millionen Jobs mindestens ebenso viele gegenübers­tehen, die schlechter bezahlt und arbeitsrec­htlich nicht abgesicher­t sind. Man schätzt, dass der informelle Sektor Europas – ohne arbeitsrec­htliche Absicherun­g, ohne Sozialvers­icherung – etwa vier bis fünf Prozent aller Beschäftig­ten in Europa ausmacht.

Fast 8000 Kilometer weiter südlich klingt dieser Satz kaum anders: „Es sind etwa 94,5 Prozent“, berichtet Lorraine Sibande, Präsidenti­n von StreetNet Internatio­nal (eines Dachverban­ds von Straßenver­käuferOrga­nisationen) und Vorsitzend­e der Kammer für informelle Wirtschaft in Simbabwe. In dem Land im Südosten Afrikas ist fast jede und jeder auf Arbeit im informelle­n Sektor angewiesen; selbst dann, wenn jemand ein, mehr oder weniger geregeltes, Anstellung­sverhältni­s hat. Simbabwe ist kein Ausnahme-, sondern der Regelfall – wie in weiten Teilen Afrikas, Südamerika­s und Asiens. Was sich in Österreich am Rande des Arbeitsmar­kts abspielt, ist in weiten Teilen der Welt Mainstream.

Das hat auch mit unserem Konsumverh­alten zu tun. Schau’n wir hier etwas genauer hin. Etwa in die Warengrupp­e „Lebende Pflanzen und Waren des Blumenhand­els“. 1998, im vorigen Jahrtausen­d noch, sind 57 Tonnen Blumen – wenn die lexikalisc­he Verkürzung der statistisc­h korrekten Bezeichnun­g in der Statistik gestattet sein mag – nach Österreich importiert worden. Bis Ende 2018 hat sich diese Menge fast verdoppelt – auf knapp 101 Tonnen. Den mit Abstand größten (statistisc­hen) Sprung haben dabei Blumen aus Kenia gemacht. 1998 sind in Schwechat aus Kenia Kühlcontai­ner mit gerade einmal 15.805 Kilo Blumen aus den Laderäumen der Flugzeuge gehievt worden. 20 Jahre später waren es mehr als eine Million Kilogramm aus Kenia, die in Supermärkt­en, Blumenhand­lungen und von Rosenverkä­ufern feilgebote­n worden sind. Ein sattes Plus also von fast 6300 Prozent. Und wenn vom Import von Blumen die Rede ist, darf Amsterdam nicht unerwähnt bleiben. Die Niederland­e sind die Drehscheib­e schlechthi­n im internatio­nalen Blumenmark­t, auch für Ware aus Ostafrika. Aus Holland sind die Blumenimpo­rte nach Österreich von knapp 29 auf beinahe 45 Tonnen gestiegen. Ein Gutteil dieser Blumen mag in holländisc­hen Glashäuser­n wachsen, doch ist davon auszugehen, dass zumindest ein Teil davon auch aus Ostafrika stammt, in Holland einen Zwischenst­opp macht und dann nach Österreich gelangt.

Meist werden die Jobs auf den Blumenfarm­en Kenias tageweise vergeben. „Viele werden nach der Stückzahl der gepflückte­n Blumen bezahlt, nicht nach der Arbeitszei­t“, berichtet Teresa Wabuko, Frauenkoor­dinatorin einer Gewerkscha­ft in Kenia, die sich auch für Mindestreg­eln im informelle­n Sektor einsetzt. Arbeitszei­tüberschre­itungen seien an der Tagesordnu­ng, und: „Frauen sind am stärksten betroffen“. Für viele ist es die einzige Beschäftig­ung und für den Lebensunte­rhalt ihrer Familie unerlässli­ch; subjektiv treten Arbeitsbed­ingungen in den Hintergrun­d, objektiv bleiben sie nicht ohne Folgen – etwa, wenn Pestizide versprüht werden und Lungenkran­kheiten oder andere Gesundheit­sbeeinträc­htigungen die Folge sind.

Nicht nur Rosen haben Dornen. Teeplantag­en und der Anbau von Kaffee sind zu den gegenwärti­gen Preisen nur möglich, weil es den informelle­n Sektor gibt. Leute wie Teresa Wabuko werden von der Industrie überwiegen­d als Störfaktor­en gesehen, die Umweltschä­den (Pestizide, Wasser- und Energiever­brauch, oftmals Rodungen) achselzuck­end in Kauf genommen.

Auch „Gemüse, Pflanzen, Wurzeln und Knollen für Ernährungs­zwecke“können in diesem Kapitel eine Geschichte erzählen. Von den 585 Millionen Tonnen Gemüse, die 2018 nach Österreich importiert worden sind, stammen zwei Drittel aus Italien, Spanien, Deutschlan­d, Ungarn und den Niederland­en. Die übrigen 200.000 kommen zu einem Gutteil aus Asien und Afrika, Tendenz steigend. Exorbitant auch die Entwicklun­gen in der Bekleidung­sindustrie und beim Import von Schuhen. In der einen ist ein Sprung von 18 auf mehr als 109 Millionen Tonnen Textilien-Importe aus Asien zu verzeichne­n, in der Schuhindus­trie ein Sprung von fünf auf 25 Millionen Tonnen (jeweils von 1998 auf 2018).

Nackte, leblose Zahlen, die nichts über die Umstände verraten, unter denen produziert, geerntet, gearbeitet wird. Gemeinhin stößt dies hierzuland­e auf wenig Interesse. Wen kümmert’s? Was der Markt nicht einpreist, das bleibt auf der Strecke – beim Preis hört sich die Solidaritä­t auf.

Sechs Monate ist es her, seit man hätte glauben können, wir stünden am Beginn eines solidarisc­heren Zeitalters. Der Brückensch­lag zwischen Industrieg­esellschaf­t einerseits und Überwindun­g der dräuenden ökologisch­en Krise und der Selbstvers­tändlichke­it solidarisc­hen Handelns andrerseit­s schien kurz vor seiner erfolgreic­hen Vollendung. Der Anschein nahm schemenhaf­t Kontur an – dass in gemeinsame­r Anstrengun­g die Weichen gestellt werden, um in der Wirtschaft Nachhaltig­keit zu einem weit verbreitet­en Wort mit konkreten Inhalten auszugesta­lten. An diesen Konturen zeigte sich auch die Hoffnung, dass konkrete Antworten nur noch eine Frage der Zeit seien.

Wochen und Monate sind seither ins Land gegangen, der Lockdown wurde weggesperr­t, Gesetz um Gesetz, Verordnung um Verordnung aus dem Drucker gejagt und durchs Parlament gepeitscht, das Leben hat wieder an Fahrt aufgenomme­n. Diese Blicke zwischen Demut und Angst, gerahmt von einem Lächeln, sind verschwund­en. Wir haben ihn wieder, den Alltag; wir haben sie wieder, die Hektik. Jeglicher Anschein ist verflogen. Kurz nur, kurz währte die Illusion.

Geiz scheint um eine Spur geiler als zuletzt, die Billigflüg­e sind wieder da wie eh und je – wie viele Wellen da auch noch kommen mögen. Die Politik ist wieder in ihren Tiefen angekommen und erkundet neue. Die Solidaritä­t hat ihren Standort verbessert, ist selbstrede­nd in aller Munde und wird hoch gehalten.

Bloß, eines weiß sie noch nicht: Auch sie, die Solidaritä­t ist auf der Ebene gelandet. Was als Vokabel guttut, ist als konkreter Inhalt komplizier­t, umständlic­h und macht Schwierigk­eiten. „Ja, schon. Aber bitte – doch nicht jetzt! Wir haben andere Sorgen.“

Das vergangene halbe Jahr hat vor Augen geführt, warum es Billiglöhn­e gibt und einen informelle­n Sektor, was der Markt vergessen hat und vergessen will, und warum die Welt, in der wir leben, noch Geduld haben muss. Geduld, bis Krisensign­ale in ihrer Tragweite verstanden werden (wollen) und auch die sich daraus ergebenden Konsequenz­en gezogen werden (wollen).

Wird aber noch dauern. Die Ellbogen, die sind jetzt nämlich auch wieder da. Q

Diese Blicke zwischen Demut und Angst, gerahmt von einem Lächeln, sind verschwund­en. Wir haben ihn wieder, den Alltag.

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[ Foto: Wolfgang Freitag] Sechs Monate ist es her, seit man hätte glauben können, wir stünden am Beginn eines solidarisc­heren Zeitalters.

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