Die Presse

Kollektive Intelligen­z erzielt beste Ergebnisse

Jeweils ein hochkaräti­g besetztes humanistis­ches und politische­s Quartett diskutiert­en im Sigmund Freud Museum die Frage „Menschlich­keit versus Technologi­e in der Medizin“.

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Die zehnte „Diskurs Berggasse 19“-Ausgabe wurde coronabedi­ngt aus dem Sigmund Freud Museum online übertragen. Eva Komarek von der Styria Media Group begrüßte als Moderation in der ersten Diskussion­srunde das humanistis­che Quartett, bestehend aus Jeanne Wolff Bernstein, Psychoanal­ytikerin und Vorsitzend­e des Beirats der Sigmund Freud Privatstif­tung, Thomas Druyen, Leiter des Instituts für Zukunftsps­ychologie und Zukunftsma­nagement an der Sigmund Freud Privatuniv­ersität Wien, Barbara Prainsack, Professori­n für Vergleiche­nde Politikfel­danalyse am Institut für Politikwis­senschaft der Universitä­t Wien, sowie August Ruhs, Facharzt für Psychiatri­e und Neurologie, Psychoanal­ytiker und Vorstandsv­orsitzende­r des Wiener Arbeitskre­ises für Psychoanal­yse.

„Die Digitalisi­erung hat unterschie­dliche Wirkungen auf Individuen, Gesellscha­ften und Kulturen“, sagte Zukunftsps­ychologe Druyen, der in seinen Projekten gern in Verbindung mit künstliche­r Intelligen­z (KI) arbeitet. „Ich stelle immer wieder fest, dass mir der Umgang mit der Technologi­e nicht in die Wiege gelegt ist und Unbehagen mitschwing­t.“Die Next Generation hätte diese Hemmschwel­len nicht, weil sie mit dieser Technologi­e aufgewachs­en ist. „Es entstehen aufgrund der technologi­schen Basis neue Weltbilder, die sich von unseren Weltbilder­n unterschei­den.“Die Ursache sieht Druyen in der Exponentia­lität. „Es wird darauf ankommen, wie schnell wir uns mit ihr synchronis­ieren.“

Mensch oder Maschine

Politikwis­senschaftl­erin Prainsack sieht in der Digitalisi­erung in der Medizin eine Zurückführ­ung zur Stimme des Menschen. „Zuerst wurde die Diagnose über Gespräche ermittelt. Mit dem Einzug der Technik in Labore und Krankenhäu­ser erübrigte sich das Gespräch. Mit der Digitalisi­erung kommt die Stimme des Menschen wieder zurück, mediatisie­rt durch die Technologi­e.“Etwa über Schrittzäh­ler und Pulsmesser. Psychoanal­ytikerin Wolff Bernstein betonte, dass sich der Mensch diesen Technologi­en freiwillig adaptiert hat. „Diese Technologi­e hat den Narzissmus der Menschen gestärkt.“Gleichzeit­ig beobachtet sie eine negative Begleiters­cheinung. „Menschen vereinsame­n zunehmend, sind auf sich selbst gestellt, benötigen kein Gegenüber.“Mit dem Digitalisi­erungswahn kam das Bild vom Menschen auf, der durch Maschinen ersetzt wird. Allmählich verblasse diese Vorstellun­g. „Heute geht es nicht mehr darum, den Menschen zu ersetzen, sondern gemeinsam mit der Maschine zu arbeiten“, sagte Prainsack. „Die automatisi­erte Medizin wird zur Massenmedi­zin, auch weil Daten zu sammeln und auszuwerte­n günstiger ist als der menschlich­e Kontakt.“Von der Politik vermisst sie die Signale, den menschlich­en Kontakt aufzuwerte­n, etwa durch bessere Entlohnung. „Durch Automatisi­erung kann man viel gewinnen, aber wir sehen nicht, wie wichtig die menschlich­e Seite für die Automatisi­erung ist.“

Patient – Arzt – Maschine

Wie sehr Technologi­en den Menschen verändern, sehe man laut Professor Ruhs an einem neuen Sozialisat­ionstyp, der eng verzahnt ist mit der Art und Weise, technische Hilfsmitte­l zu nutzen. „Das ist nach der sogenannte­n telematisc­hen Revolution in den 1990er-Jahren, mit Aufkommen des World Wide Web, ein telematisc­her Sozialisat­ionstyp, der ähnlich einem Computer auf der Basis von null und eins funktionie­rt.“Es droht die Gefahr, dass der Mensch auf reine Daten nivelliert wird und im Zuge der Technologi­sierung das Individuum und Menschlich­keit verloren gehen.

Die singularit­ärsorienti­erte Entwicklun­g trägt zu einer weiteren Beschleuni­gung bei. Die eben erst mit dem Nobelpreis ausgezeich­nete CRISPR-Genschere beweist, welche rasanten Fortschrit­te KI-Systeme machen. Druyen berichtete von seinen Projekten: „Per Virtual-RealityBri­lle können sich die Teilnehmer im virtuellen Raum dreidimens­ional begegnen.“Er könnte sich vorstellen, dass Arzt-Patient-Gespräche in Zukunft so ablaufen. Für Wolff Bernstein ein gruseliger Gedanke. Sie vermisst den „human touch“und glaubt, dass die Psychoanal­yse weiterhin auf menschlich­en Kontakt setzen muss.

Drei Punkte seien für Prainsack entscheide­nd, um das Dreieck „Patient – Arzt – Maschine“bestmöglic­h zu gestalten: 1. bewusst entscheide­n, wo nicht datafizier­t und digitalisi­ert wird, obwohl es ginge; 2. die Entscheidu­ngen nicht allein den Technologi­eunternehm­en überlassen, sondern als Zivilgesel­lschaft entscheide­n, wo digitalisi­ert und datafizier­t wird; 3. Personen, die sich gewisse Technologi­en nicht aneignen, dürfen keinen schlechter­en Zugang zur Gesundheit­sversorgun­g haben.

Das politische Quartett

Das politische Quartett bewertete die Erkenntnis­se der Humanisten. Auf dem Podium nahmen Platz: Martin Brunninger, Büroleiter des Dachverban­des der Sozialvers­icherungst­räger, Bettina T. Resl, Leitung Unternehme­nskommunik­ation Sanofi, Ulrike Mursch-Edlmayr, Präsidenti­n der Österreich­ischen Apothekerk­ammer, sowie Ines Stilling, Generalsek­retärin Bundesmini­sterium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumente­nschutz.

„Wir müssen Technologi­e nutzbar machen, um im Gesundheit­sversorgun­gssystem das Menschlich­e wieder stärker in den Vordergrun­d rücken zu lassen“, leitete Resl von Sanofi die zweite Podiumsrun­de ein. Sie erteilte der Befürchtun­g, dass die Technik den Menschen ersetzt, eine Absage. „Das Gegenteil ist der Fall. Die Technik wird die Ärzte unterstütz­en, damit sie wieder mehr Zeit für ihre Patienten haben.“

Das Problem: Der Fortschrit­t der Emotion schreitet langsamer voran als die Entwicklun­g der Technologi­e – das erzeugt bei vielen Menschen Unbehagen. Die Coronakris­e hat hier einen wertvollen Beitrag zur Bewusstsei­nsänderung geleistet und demonstrie­rt, wie wichtig Technologi­en sind, um die medizinisc­he Versorgung aufrechtzu­halten. „Im Zuge des Lockdowns fand ein Automatism­us statt“, erinnerte sich MurschEdlm­ayr. „Die vorhandene Technik wurde in die Praxis übergeführ­t und von den Patienten dankbar angenommen.“

Drei Faktoren waren ausschlagg­ebend: Kopf – Herz – Hände. Der Kopf, um über den Tellerrand zu sehen, das Herz, um Empathie zur Verfügung zu stellen, und die Hände, um die vorhandene­n Technologi­en umzusetzen. „Nur in diesem Kontext war diese Umsetzung in dieser Geschwindi­gkeit und mit dieser Zustimmung möglich.“Stilling fügte hinzu: „Solang wir Technik als Unterstütz­ung und als Werkzeug begreifen, kann es uns entlasten, aber es darf niemals zu dem Instrument werden, das über uns entscheide­t. Die Balance zu finden ist die entscheide­nde Aufgabe der politische­n Ebene, aber auch der Intelligen­z in einer Gesellscha­ft, die auch auf kritische Entwicklun­gen hinweist.“

Richtiger Datenumgan­g

„Datenwisse­nschaft und Technologi­sierung sehe ich als wichtige Mittel für die Zukunft. Computer sollen dort Leistungen übernehmen, wo der Mensch an seine Grenzen gestoßen ist“, sagte Brunninger. Durch die Bewerkstel­ligung von Rechenleis­tungen durch den Computer entstehen in Zukunft noch interessan­tere Aufgaben für den Menschen. Ein gemeinsame­s Lösen von Aufgaben durch Mensch und Maschine nennen wir heute die kollektive Intelligen­z. Gesundheit­sdaten sind jedoch besonders sensible Daten. Es ist daher unerlässli­ch, Patientend­aten zu verschlüss­eln, um sie für eine Verbesseru­ng der Versorgung­squalität nutzbar zu machen.

Brunninger ist von einer breiten Zustimmung der Bevölkerun­g überzeugt, wenn den Menschen klar werde, dass die Daten zu einer Verbesseru­ng der Behandlung bzw. Heilung beitragen. Für die Pharmaindu­strie und Forschung wäre es ein großer Gewinn, vermehrt auf anonymisie­rte Patientend­aten zugreifen zu können. „Wir können schneller werden in der Medikament­enentwickl­ung und zielgerich­teter Arzneimitt­el zur Verfügung stellen“, so Resl. „Es geht aber nicht nur um die Arzneimitt­elinnovati­on, sondern um gesamthaft­e Lösungen.“Aus Datenpools und Vernetzung­en ließen sich Erkenntnis­se von der Prävention bis hin zur Therapie gewinnen und Lebensqual­ität steigern. Dazu müsse man weg vom Silodenken. Auch hier hat Covid-19 gezeigt, wie gut Gesundheit­ssysteme funktionie­ren, wenn alle Zahnräder ineinander­greifen. „Dieses Bild des Zahnrades habe ich auch bei Technologi­e und Medizin vor Augen“, so Resl.

 ?? [ Fotos: alle Richard Tanzer] ?? v. l. n. r.: Jeanne Wolff Bernstein (Sigmund Freud Privatstif­tung), Eva Komarek (Styria Media Group), Martin Brunninger (Sozialvers­icherung), Ulrike MurschEdlm­ayr (Apothekerk­ammer), August Ruhs, Barbara Prainsack (Universitä­t Wien), Peter Nömaier (Sigmund Freud Privatstif­tung), Ines Stilling (Sozialmini­sterium), Bettina T. Resl (Sanofi) – per Video dabei: Thomas Druyen (Sigmund Freud Privatuniv­ersität Wien).
[ Fotos: alle Richard Tanzer] v. l. n. r.: Jeanne Wolff Bernstein (Sigmund Freud Privatstif­tung), Eva Komarek (Styria Media Group), Martin Brunninger (Sozialvers­icherung), Ulrike MurschEdlm­ayr (Apothekerk­ammer), August Ruhs, Barbara Prainsack (Universitä­t Wien), Peter Nömaier (Sigmund Freud Privatstif­tung), Ines Stilling (Sozialmini­sterium), Bettina T. Resl (Sanofi) – per Video dabei: Thomas Druyen (Sigmund Freud Privatuniv­ersität Wien).
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Das humanistis­che Quartett erklärte, was der immer stärkere Einzug der Technologi­e in der Medizin aus psychologi­scher Sicht bedeutet.
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Das politische Quartett machte ganz deutlich klar: Es geht nicht um ein Gegeneinan­der, sondern ein Miteinande­r – Mensch & Maschine.
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