Thiem vor nächster Kraftprobe
Zeitreise. Fast auf den Tag genau vor zehn Jahren schlug Dominic Thiem als 17-jähriger Nobody erstmals in der Wiener Stadthalle auf. Erinnerungen an die Anfänge, legendäre Matches gegen Muster und Tsonga – und den Titelcoup 2019.
Dominic Thiem tritt am Dienstag beim Erste Bank Open in Wien auf. Anlass zum Rückblick auf ein turbulentes Jahrzehnt.
Wien. 2020 ist alles anders. Dominic Thiem kommt bei den Erste Bank Open in der Wiener Stadthalle (Hauptbewerb ab Montag) nicht wie sonst üblich in den Genuss, zu Hause schlafen zu können. Auch er musste am Freitag im Hotel einchecken, sich in die Blase begeben, in der die Stardichte enorm hoch ist. Sieben Top-Ten-Spieler haben ihr Kommen zugesagt, angeführt wird das Feld vom Weltranglistenersten Novak Djokovic.´
Anstatt einer ausverkauften Stadthalle werden dieses Mal pro Session (Nachmittag und Abend) je 1000 Zuschauer erlaubt sein. Die Vorfreude auf das Heimturnier ist bei Thiem dennoch groß, an den letztjährigen Finaltriumph gegen Diego Schwartzman denkt der 27-Jährige „fast jeden Tag“. Angefangen hat seine Reise in Wien mit einer Niederlage in der Qualifikation, sie liegt zehn Jahre zurück. Erinnerungen an das turbulente Jahrzehnt des Dominic Thiem. 2010
Fast auf den Tag genau vor zehn Jahren, am 23. Oktober 2010, bestreitet Thiem sein erstes Match auf der ATP-Tour. Mit einer Wildcard für die Qualifikation ausgestattet, trifft der 17-jährige Jungspund in der großen Halle D, der Haupthalle, auf den Türken Marsel Ilhan. Thiem ist zu diesem Zeitpunkt nur Insidern bekannt, das große Zugpferd des heimischen Tennis heißt Jürgen Melzer, der das Turnier in diesem Jahr wenige Tage später sogar zum zweiten Mal gewinnen wird.
Der junge Niederösterreicher liefert Ilhan, der Nummer 93 der Weltrangliste, einen großen Kampf, unterliegt nur knapp mit 7:6, 4:6, 3:6. Körperlich noch ein Jugendlicher, ist Thiems Talent unübersehbar. 2011
Zwölf Monate später und mit der Empfehlung der Finalteilnahme im Juniorenbewerb der French Open darf sich der 18-Jährige erstmals im Hauptbewerb versuchen. Das Los beschert ihm ein unvergessliches Duell mit Thomas Muster, der acht Jahre später sogar für einige Monate sein Coach sein soll. Es ist ein ganz besonderes Match, für beide.
Muster, der Nationalheld, dem die Unterstützung der 7500 Fans bei seinem Abschied von der großen Bühne gewiss ist, kämpft wie in alten Tagen, gegen seinen 26 Jahre jüngeren Kontrahenten steht er beim 2:6, 3:6 aber auf verlorenem Posten. Thiem, der aufgrund seiner Jugend und den weitaus schnelleren Schlägen als Favorit galt, hielt bei seinem ersten Auftritt vor einer derartigen Kulisse der mentalen Belastungsprobe stand. Später gesteht er: „Mir ist ein riesiger Stein vom Herzen gefallen.“Im Achtelfinale folgt gegen den Belgier Steve Darcis (ATP 95) das Aus (2:6, 2:6). 2012
In seinem ersten vollen Jahr als Profi ist das Stadthallenturnier das Highlight in Thiems Turnierkalender. Als Nummer 394 der Weltrangliste ist er allerdings immer noch gegen jeden Gegner im Hauptbewerb krasser Außenseiter. Nach einem Sieg über den Slowaken Luka´sˇ Lacko (ATP 51) verliert Thiem im Achtelfinale mit 3:6, 6:7 gegen den Australier Marinko Matosevic (ATP 55). Sein langjähriger Trainer, Günter Bresnik, ist mit der Entwicklung seines Schützlings zufrieden. „Er ist körperlich besser geworden, hat sich spielerisch verbessert und steht für attraktives Tennis. Das wird ein richtig Guter.“ 2013
Thiem entwickelt sich kontinuierlich weiter, 2013 sind die Fortschritte deutlich erkennbar. Siege über Daniel Gimeno-Traver (ATP 70) und Jaroslav Pospisil (ATP 213) bescheren ihm ein Duell mit Jo-Wilfried Tsonga (ATP 8). Der ÖTV-Youngster begeistert die Fans in der Stadthalle – und er hat tatsächlich Chancen, sein erstes Match gegen einen Top-10-Spieler zu gewinnen. Letztlich ist es die mangelnde Chancenauswertung (nur eine von acht Breakmöglichkeiten genutzt) sowie die fehlende Routine in den entscheidenden Momenten, die zur knappen 4:6, 6:3, 6:7 (3)-Niederlage führen. Für Thiem liefert dieses Match den Nachweis, dass er bereits mit der Spitze mithalten kann. Tsonga bescheinigt ihm „unglaubliches Potenzial“. 2014
Bei seinem vierten Antreten im Hauptbewerb ist Thiem als Top-40-Spieler zum Auftakt erstmals Favorit, gegen den variantenreich spielenden Niederländer Robin Haase (ATP 72) findet der 21-Jährige beim 3:6, 6:3, 3:6 aber keine Lösung. 2015
Die nächste Enttäuschung: 6:2, 6:7, 4:6 gegen den aufschlagstarken und unangenehm zu bespielenden Polen Jerzy Janowicz (ATP 65). 2016
Erstmals schlägt Thiem in Wien als Top-10-Spieler auf. Die Erwartungen sind enorm, die Erinnerungen an die Erstrundenniederlagen 2014 und 2015 erhöhen den Druck. Nach dem glatten Sieg gegen Landsmann Gerald Melzer folgt erneut das frühe Aus, diesmal im Achtelfinale: 2:6, 5:7 gegen den Serben Viktor Troicki, der alle sieben Breakchancen Thiems abwehrt. 2017
Thiem ist mittlerweile eine etablierte Kraft in den Top 10 (seit Juni 2016), er will nun endlich auch in Wien sein ganzes Können abrufen. Hinter Alexander Zverev als Nummer zwei gesetzt, schlägt er zunächst den Russen Andrej Rublev (ATP 35) mit 6:4, 6:3. Mit dem zweiten Viertelfinale nach 2013 klappt es dennoch nicht. Der französische Routinier Richard Gasquet (ATP 32) gewinnt verdient mit 4:6, 7:5, 6:1. Nach dem verlorenen zweiten Satz kann Thiem nicht mehr zusetzen. Offene Wunden zwischen den Zehen limitieren ihn zudem körperlich. 2018
Die Vorzeichen sind gut wie nie: Zwei Monate vor dem Stadthallenturnier erreicht Thiem bei den US Open das Viertelfinale und liefert sich dort ein episches Duell mit Rafael Nadal (6:7 im fünften Satz). Wenig später gewinnt er in St. Petersburg seinen ersten Titel in der Halle, die Form stimmt.
In Wien schlägt er zunächst Ruben Bemelmans (ATP 134) und Sam Querrey (ATP 56) – und auch die Zuversicht vor dem ersten Wien-Viertelfinale seit fünf Jahren ist groß. Gegen einen stark spielenden Kei Nishikori (ATP 11) hat Thiem beim 3:6, 1:6 in nur 69 Minuten allerdings keine Chance. Thiem und die Stadthalle, das ist immer noch keine ganz große Liebesgeschichte. 2019 2019 ist das bis dato beste Jahr Thiems. Titel in Indian Wells, Barcelona, Kitzbühel und Peking lassen das Selbstvertrauen gen Himmel steigen, nun soll es endlich auch in Wien klappen. Und tatsächlich, Thiem steigert sich von Runde zu Runde – und spielt sich letztlich in einen Rausch.
Nach Erfolgen über Jo-Wilfried Tsonga (ATP 36), Fernando Verdasco (ATP 40), Pablo Carren˜o Busta (ATP 34) und Matteo Berrettini (ATP 11) besiegt er im Finale Diego Schwartzman (ATP 15) mit 3:6, 6:4, 6:3. „Für mich ist ein Traum in Erfüllung gegangen.“