Trumps Kapitel in der Geschichte ist noch nicht fertig geschrieben
Wäre Trump immer so höflich aufgetreten wie zuletzt im TV, fiele seine Beurteilung durch Historiker weniger negativ aus, als Twitter vermuten lässt.
Er kann auch anders. In der jüngsten TV-Debatte gegen seinen demokratischen Herausforderer Joe Biden versuchte sich Donald Trump in Höflichkeit und Fairness. Inhaltlich blieb er zwar angriffig und mitunter polemisch, aber er ließ meist ausreden, hörte zu, war wesentlich ruhiger als in der vergangenen Debatte. Ja, er lobte sogar die Journalistin. In der Rückschau könnte Trump sogar etwas lernen: Es geht auch mit Kinderstube. Sein Satz zu Biden „Sie sind doch seit Jahrzehnten in der Politik, warum haben Sie die Pläne, die Sie immer vorstellen, nicht längst umgesetzt?“funktionierte besser als jede aggressive Attacke. Und: Seine Korruptionsvorwürfe gegen Biden wegen dessen in jedem Fall äußerst peinlich auftretenden Sohns Hunter mögen nicht sehr gehaltvoll sein. Wir stellen uns ganz kurz vor: Trumps Schwiegersohn Jared Kushner wäre mit osteuropäischen Geschäftspartnern und -praktikern ähnlich aufgefallen wie Hunter Biden, die halbe Welt würde „Impeachment“brüllen.
Ob dieser singuläre TV-Auftritt Trumps reichen wird, das Ruder herumzureißen, darf bezweifelt werden. In allen Umfragen – auch in den sagenumwobenen Swing States – liegt Biden vorn. Das war zwar bei Hillary Clinton ähnlich, aber diesmal schwören alle Meinungsforscher, bessere und genauere Umfragen im Feld gehabt zu haben. Sollte also Biden als Erster durchs Ziel gehen, hat das freilich einen einzigen Grund: Donald Trump. Joe Biden wird nicht US-Präsident, weil er persönlich, politisch oder programmatisch punkten hätte können, sondern weil er nicht Donald Trump ist. Was wurde aus der Change-Bewegung Barack Obamas für das neue Jahrhundert, ach was: Jahrtausend, dessen Nummer zwei Biden war? Nicht viel mehr als ein hübsches Bild auf Facebook und ein gutes Vortragshonorar für den Ex-Präsidenten.
Vor knapp vier Jahren stand der britisch anmutende Titel „Keep Calm!“auf Seite eins dieser Zeitung mit der vorsichtigen Empfehlung: „Bei aller berechtigten und notwendigen Kritik an den menschenverachtenden, gefährlichen, beleidigenden und sexistischen Aussagen des neuen Mannes: Weder die Welt noch die USA werden untergehen. (...) Trump
muss „dem System“nun trauen, es hat ihn an die Spitze gelassen. Vieles spricht dafür, dass jenes und verfassungsrechtliche „Sicherheitsvorkehrungen“weder zum Atomkrieg noch zur Errichtung von Internierungslagern führen werden. Es wird rauer, ungemütlicher und in Europa teurer werden. Die Sicherheitspolitik dürfte erstmals tatsächlich selbst auf dem Kontinent geschultert werden müssen. Wirtschaftspolitisch bedauerlich ist der Sieg der Populisten links wie rechts: Trump garantiert das Aus für einen theoretisch sinnvollen Freihandelspakt zwischen den USA und der EU.“
Manche dieser Prognosen stimmen zum Glück, manche leider auch. Noch ist der freie Handel mit den USA nicht tot, aber bedroht. Leider steht Europa noch immer nicht auf eigenen militärische Füßen. Auch wenn seine Sätze auf Twitter absurd bis verrückt zu lesen waren, daran wird Geschichte nicht gemessen. In die ging Trump leider mit seinem völligen Versagen in weiten Phasen des Umgangs mit der Covid-19-Pandemie ein, die er anfangs verleugnete, später verdrängte, dann nicht konsequent bekämpfte und zuletzt wieder als ihr Patient unterschätzte. Seine Wirtschaftspolitik war aus Sicht seiner Wähler effizienter, als seine Gegner das wahrhaben wollen. Der neue Protektionsimperialismus, den auch die Chinesen schätzen, könnte nach Trump weiter Schule machen. Und außenpolitisch? Zumindest hat Trump keinen neuen Krieg angezettelt.
Zu Ende ginge das Kapitel Trump als blaues Auge auf dem Mount Rushmore, wenn er im Fall einer Niederlage diese fair eingesteht. Sollte er das nicht tun, sondern parapolitisch oder -militärisch Widerstand leisten, wäre die Calmness der Welt endgültig am Ende.
Zum Schluss noch einmal der Kommentar von 2016: „Vor allem belegt der Sieg Trumps eines: Wir, die Medien, liegen in der Einschätzung bevorstehender Referenden erschreckend oft weit daneben.“Hoffentlich muss ich das nicht noch einmal schreiben.