Protest gegen Abtreibungsverbot
Polen. Das Verfassungsgericht verfügte praktisch ein vollständiges Verbot von Abtreibungen. Rechtskatholische Kreise jubeln, viele Frauen gehen auf die Barrikaden.
Warschau. Derartige Ausschreitungen hat der vornehme Warschauer Stadtteil Z˙oliborz schon lang nicht mehr erlebt. Nur mit dem massiven Einsatz von Tränengas konnte die Polizei in der Nacht zum Freitag verhindern, dass über 100 wütende Frauen zum Wohnhaus von PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyn´ski vordringen konnten.
Die Frauen waren von der Parteizentrale der Regierungspartei zur Villa von Polens starkem Mann gezogen. Nach einem Urteil des PiS-dominierten Verfassungsgerichts wollten sie sich Gehör verschaffen über einen Spruch, der auf ein praktisch vollständiges Abtreibungsverbot in Polen hinausläuft. Auch in weiteren Großstädten wie Danzig, Posen und Łod´z´ kam es zu Frauenprotesten, die am Freitagabend in einen großen „Frauenstreik“-Marsch mündeten.
Das Verfassungsgericht hatte am Donnerstag unter Vorsitz der Kaczyn´ski loyal ergebenen Gerichtspräsidentin, Julia Przyłebska˛ (PiS), in einem bahnbrechenden Urteil mit 13 von 15 Stimmen entschieden, dass 98 Prozent der rund 1100 Abtreibungen (bei einer Bevölkerung von 38 Millionen) illegal seien. Das Lebensrecht eines jeden Menschen einschließlich des Fötus sei höher zu gewichten als der allfällige frühe Tod des Neugeborenen oder dessen schwere Behinderung, hieß es in der Urteilsbegründung.
„Sieg für Polens katholische Taliban“
Das Verfassungsgericht ist nach dem Wahlsieg der rechtsnationalen Partei „Recht und Gerechtigkeit“(PiS) völlig der Regierungspartei untergeordnet worden. Oppositionsvertreter unter den 15 Richtern gibt es keine mehr. 14 Verfassungsrichter wurden von PiS nach 2015 nominiert, einer – der parteilose Leon Kieres – war 2015 noch mit Unterstützung der liberalen Bürgerplattform (PO) bestimmt worden.
Am Donnerstag stimmte Kieres gegen das praktisch totale Abtreibungsverbot. Die zweite Gegenstimme kam vom früheren PiSAbgeordneten Piotr Pszczołkowski.´ Er verteidigt aus berufsethischen Gründen immer wieder die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts, steht damit aber auf verlorenem Posten. „Das ist ein Sieg für Polens katholische Taliban“, kommentierte die bekannte Philosophin und Frauenrechtlerin Magdalena Sroda.´ Vor allem in rechtskatholischen Kreisen wurde das Urteil jedoch freudig begrüßt. „Die Verfassungsrichter haben großen Mut bewiesen“, hieß es etwa.
Harte Nuss für die Regierungspartei
Das Verfassungsgericht war in der Abtreibungsfrage Ende 2019 von 119 Abgeordneten angerufen worden. Die meisten stammen aus dem Regierungslager der PiS, aber auch Vertreter der oppositionellen Bauernpartei PSL sowie der rechtsextremen „Konföderation“hatten die Anfrage unterschrieben. Etwa ein Drittel der PiS-Abgeordneten unterschrieb nicht, mehrheitlich weil es wie Kaczyn´ski hinter dem Abtreibungskompromiss von 1993 steht. Demnach sind Abtreibungen nur nach Vergewaltigung oder Inzest, bei einem Gesundheitsrisiko für die Frau und im Fall von schwerwiegender und lebensbedrohlicher Schädigung des Fötus erlaubt. Die meisten Abtreibungen wurden bisher in Polen mit „schwerwiegender oder lebensbedrohlicher Schädigung des Fötus“begründet. 2019 waren dies 1074 von 1100 legal durchgeführten Abtreibungen. Dies sind fast 98 Prozent der ohnedies wenigen Abtreibungen. Diese von ultra-katholischen Kreisen als „eugenetische Abtreibungen“bezeichneten Eingriffe sind nach dem Verfassungsurteil nun verboten.
Für die PiS stellt das Verfassungsgerichtsurteil allerdings eine harte Nuss dar. Das Parlament muss nun die bisherigen Abtreibungsparagrafen deutlich verschärfen. Die Regierung hat in den vergangenen fünf Jahren ähnliche Gesetzesinitiativen immer wieder auf die lange Bank geschoben. Vor allem Parteichef Kaczyn´ski gilt – in der eigenen Fraktion – als eher liberal in solchen weltanschaulichen Fragen.