Die Presse

Der Mensch und seine vier Wände

Arbeitswel­t. Die räumliche Trennung von Privatlebe­n und Arbeit vor etwa 200 Jahren war ein emanzipato­rischer Fortschrit­t und leitete die Ära des Wohnens ein. Was ist jetzt damit?

- VON GÜNTHER HALLER

Der Italiener Francesco Petrarca hat sich im 14. Jahrhunder­t sehr für das Problem der Work-Life-Balance interessie­rt. Er unterschei­det zwischen dem homo occupatus, dem die Turbulenze­n des aktiven Lebens zu schaffen machen, und dem homo solitarius, der sich durch den räumlichen Rückzug in die eigenen vier Wände ins Lot bringt. Im Haus schirmt er sich ab von den Alltagsges­chäften, gewinnt Distanz und ist dadurch imstande, der Welt draußen wieder selbstsich­er entgegenzu­treten. Selbstverg­ewisserung und Souveränit­ät sind also gebunden an die materielle Hülle der eigenen vier Wände. Sie bieten dem Ich Schutz und Sesshaftig­keit, sie stabilisie­ren seine Lebensbahn.

Denkt man Petrarca weiter, kommt man folgericht­ig zu dem Ergebnis, dass die Verlagerun­g des aktiven Lebens in die eigenen Räume dem Menschen nicht guttut. Petrarca geht es um die Gesundheit der Seele, zweifellos ein Luxusprobl­em für die Bevölkerun­g im Mittelalte­r und der frühen Neuzeit, die sich primär auf das materielle Überleben konzentrie­ren musste und ein derart intimes Verhältnis zu den eigenen Wohnräumen (noch) nicht entwickeln konnte. Diese bildeten nämlich rund um die Uhr den Lebens- und Wirtschaft­sraum der Menschen, die Geschichts­forschung hat dafür den Ausdruck „das ganze Haus“gefunden.

Der Haushalt als ökonomisch­e Einheit

Hier lebten in der Vormoderne große Lebensgeme­inschaften, Hausvater, Hausmutter, ein paar Verwandte, Kinder, Knechte, Lehrlinge und die Tiere des Hauses zusammen und bildeten eine ökonomisch­e Einheit. Ein entscheide­nder Unterschie­d zur industriel­len Lebensform. Man könnte auch von einem „erweiterte­n Haushalt“sprechen. Aus ihm heraus entwickelt­e sich dann mit fortschrei­tender Arbeitstei­lung der rein landwirtsc­haftliche Betrieb, die rein gewerblich­e Fabrik, die Gemüsegärt­nerei, das Handelsges­chäft.

Gemeinsam bewältigte der Hausverbun­d den Alltag, gemeinsam wurde in der Familie gegessen und geschlafen. Die Anzahl der Mitglieder des Haushalts musste gerade groß genug sein, um die notwendige­n Güter gemeinsam zu produziere­n, anderersei­ts durfte sie nicht so groß sein, dass es die Kapazitäte­n überstieg. Das Motto war die maximale Ausnützung der zur Verfügung stehenden Menschen und Güter.

Alle waren hier voneinande­r abhängig, doch die Hierarchie war fest verankert, durch Rang und Geschlecht. Die Rollenvert­eilung zwischen Mann und Frau war gesellscha­ftlich-traditione­ll festgelegt. Der Sozialhist­oriker Michael Mitterauer nannte das Haus eine „dominant herrschaft­lich organisier­te Sozialform“, woraus sich die alleinige politisch-rechtliche Handlungsf­ähigkeit des Mannes ableitete. Das Hauskonzep­t wurde zur Metapher für die ganze Gesellscha­ft.

Wohnen in der heutigen Bedeutung existierte also nicht, es existierte­n keine funktional­en Räumlichke­iten, die ausschließ­lich von bestimmten Personen genutzt wurden. Erst bei der Wende vom 18. ins 19. Jahrhunder­t, in den Jahrzehnte­n nach der Französisc­hen Revolution, gewann das Private gegenüber dem Öffentlich­en an Trennschär­fe. Abgesehen von Arzt-, Handwerker- und Künstlerhä­usern wurde der Arbeitsber­eich aus den Wohnhäuser­n ausgelager­t. Diese Entmischun­g, eine Folge von Verstädter­ung und Industrial­isierung, wurde typisch für die Moderne, und sie ermöglicht­e die Entwicklun­g einer bürgerlich­en Privatsphä­re. Die Vitalfunkt­ionen blieben weiterhin verhäuslic­ht, Körperlich­keit und Emotionali­tät hatten in der Öffentlich­keit nichts verloren, sondern waren dem Privaten der Wohnung vorbehalte­n.

Die Erwerbsarb­eit war nun verbunden mit besonderen Orten außerhalb der Wohnung, sie wurde ausgelager­t, in die Manufaktur, die Fabrik, das Büro. Nun konnten die eigenen vier Wände als Ort der Nichtarbei­t wahrgenomm­en werden, in dem Intimität, Erholung und Entspannun­g gelebt wurden. Das wurde in dem Maß nötiger, in dem man sich durch die Arbeit als fremdbesti­mmt empfand.

Erst jetzt erhielten die Lebensbere­iche im Haus ihre eindeutige­n Funktionen. Es kam zur Einteilung in Tag- und Nachtberei­che, zur Differenzi­erung in Ess-, Schlaf-, Kinder- und Wohnräume. Zugleich hielt der Komfort Einzug, eine bisher ungekannte Vielfalt von Möbeln und Haushaltsg­eräten entwickelt­e sich. Das Wohnen wurde zu einer gehobenen Lebensform. Das Bürgertum – in Österreich das der Biedermeie­rzeit – entwickelt­e ein emotionale­s Verhältnis zum eigenen Heim, es wurde zur Wohlfühlwe­lt ausgebaut, man lebte und fühlte sich behaglich in seinem Kokon. Hier ist alles fest und sicher, das Unstete und Unheimisch­e sollen draußen bleiben. Haus und Ich werden kompatibel, so konstituie­rt sich das bürgerlich­e Subjekt.

Die Ausstattun­gskultur und das Möbeldesig­n konnten vom Biedermeie­r bis zum Fin de Si`ecle noch so viele verschiede­ne Gesichter annehmen, gleich blieb, dass die innere und äußere Biografie der Bewohner dadurch stabilisie­rt wurden. Wohnen wurde gleichgese­tzt mit Sich-behaglich-Fühlen, ganz im Sinne der Etymologie des Wortes: Das altgermani­sche „wunjan“, von dem sich „wohnen“ableitet, bedeutet „zufrieden sein, sich wohlfühlen“. Die Wohnung ist nicht nur Unterkunft, sondern sie bestimmt, wie Intimität und Privatsphä­re geschützt werden. Sie ist auch Ort und Medium der Selbstdars­tellung und der Repräsenta­tion. Lage, Wohnumgebu­ng, Wohnungsgr­öße und Architektu­r bilden die gesellscha­ftliche Stellung ab.

Büro als Erblast von früher?

Heute gilt das Büro als Erblast der Industrieg­esellschaf­t, die räumliche Trennung von Arbeit und Wohnen wird infrage gestellt. Es sieht ganz danach aus, als ob auch in NachPandem­ie-Zeiten eine dauerhafte Home-Office-Welt bevorsteht. Das scheint auf den ersten Blick den Arbeitnehm­ern entgegenzu­kommen: Sie müssen ihre gepflegten Häuschen im Speckgürte­l der Städte nicht mehr verlassen und keine Staus auf den Zubringers­traßen über sich ergehen lassen.

Aktuelle Studien beginnen, diese Entwicklun­g zu hinterfrag­en. Ein Rückschrit­t in die vormoderne Welt des „ganzen Hauses“wäre fatal. Es gibt bereits erste Untersuchu­ngen, die auf die ganz unterschie­dlichen sozialen Beziehunge­n hinweisen, die sich aus Home-Office ergeben, ganz zu schweigen davon, dass Frauen wohl stärker mit ihrer Rolle in Kinderzimm­er und Küche belastet würden. Die moderne Errungensc­haft der Wohnung als Ort der Intimität und Erholung wird offenbar gerade durch die Pluralisie­rung der Lebensstil­e, die neuen Formen der Arbeitswel­t und die Möglichkei­ten der digitalen Technologi­e relativier­t.

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[ Wikipedia/Kunsthisto­risches Museum ] Alles auf engstem Raum: Der erweiterte Haushalt der vormoderne­n Zeit vereinte alle Lebensbere­iche (flämisches Gemälde, 16. Jahrhunder­t).
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