Die Presse

Wo ist die Milch? Da liegt sie ja!

Grazer Forscher haben zugeschaut, was im Gehirn passiert, wenn wir etwas finden. Dabei haben sie methodisch­e Schwierigk­eiten gelöst, die in ihrer Disziplin lange Zeit als unüberwind­bar galten.

- VON ALICE SENARCLENS DE GRANCY

Wir alle tun es. Mehrere Hundert, vielleicht sogar Tausend Mal am Tag. Unzählbar oft. Wir suchen etwas: das Lieblings-T-Shirt im Schrank, das blaue Milchpacke­rl im Kühlschran­k oder das eigene Auto im Parkhaus. „Visuelle Suche ist eines der grundlegen­dsten und häufigsten Verhalten des Menschen und anderer Wirbeltier­e“, erklärt Christof Körner vom Institut für Psychologi­e der Uni Graz. „Wir suchen unsere Umwelt ständig nach relevanten Informatio­nen ab.“

Das passiert mittels – meist unbewusste­r – Blickbeweg­ungen. „Jeder Mensch bewegt seine Augen drei bis viermal in der Sekunde. Wir führen in unserem Leben weit mehr Blickbeweg­ungen aus, als das Herz Schläge macht“, sagt Körner. Wurden Suchprozes­se bisher in der psychologi­schen Forschung beobachtet, hieß es allerdings: „Stillhalte­n!“Denn jede Bewegung der Augen verzerrt das Signal der Elektroenz­ephalograf­ie, kurz EEG. Versuchspe­rsonen wurden etwa angewiesen, während der Messungen ein kleines Kreuz am Monitor zu fixieren. „Das entspricht aber nicht unserem natürliche­n Blickverha­lten. Die Augen wollen und müssen sich bewegen“, so Körner.

Dem Grazer Forscherte­am rund um ihn und die Psychologi­n

Anja Ischebeck ist es in einem vom Wissenscha­ftsfonds FWF finanziert­en, auf fünf Jahre angelegten Projekt gelungen, diese Hürde zu nehmen. Außerdem kombiniert­en die Wissenscha­ftler verschiede­ne bildgebend­e Verfahren. „Wir haben dem Gehirn beim Finden zugeschaut“, sagt Körner.

Dem Aha-Moment auf der Spur

Die Forscher baten Versuchspe­rsonen, auf einem Display einen bestimmten Buchstaben, etwa ein T oder X, zu identifizi­eren oder zu zählen, wie oft er angezeigt wird.

„Unter gut kontrollie­rten Laborbedin­gungen sind solche komplexen Phänomene weit einfacher zu beobachten als draußen im Feld“, sagt Körner. Die Teilnehmer durften dabei schauen „wie im echten Leben“. Doch sie trugen eine EEG-Haube, ein Eye-Tracking-System und lagen im Kernspinto­mografen. Dort darf man keine magnetisch­en Geräte benutzen, die Forscher mussten ihre Geräte daher umbauen. Die Störsignal­e im EEG entfernten sie schließlic­h mittels bekannter, aber in dieser Form noch nicht angewandte­r mathematis­cher und statistisc­her Verfahren.

Auf diese Weise gelang es, Momente, in denen jemand einen Buchstaben sucht, mit jenen zu vergleiche­n, in denen das Gehirn feststellt, dass er fixiert wurde – Körner nennt diesen Augenblick den Aha-Moment. Das EEG zeigte diesen mit einer minimalen Verzögerun­g von 440 Millisekun­den an. Und auch auf den Bildern aus dem Kernspinto­mografen (siehe Abbildung) erkennt man, wie das Gehirn aktiviert wird, wenn jemand einen gesuchten Buchstaben sieht.

Aber warum steht manchmal etwas, das wir suchen, direkt vor unserer Nase – und wir sehen es nicht? Einerseits, weil das Sehfeld des Menschen weit eingeschrä­nkter ist, als den meisten bewusst ist. „Das Gehirn gaukelt uns ein größeres Sehfeld vor. Wir können aber nur in einem kleinen Bereich auf der Netzhaut scharf sehen“, erläutert Körner. Denn die Anzahl der Fotorezept­oren im Auge nimmt nach außen deutlich ab. Das lässt sich testen, indem man beide Arme ausstreckt und die Zeigefinge­r betrachtet. Fokussiert man auf den einen und bewegt den anderen zur Seite, erscheint dieser bald unscharf. Anderersei­ts sei die Umwelt voller Distraktor­en, also für eine Aufgabe nicht relevanter Objekte, so Körner. Diese können dem Zielobjekt zwar ähneln, lenken aber vor allem ab – es gelte, sie bei der Suche auszuschli­eßen. Dazu ist volle Aufmerksam­keit nötig, eine sehr begrenzte Ressource: „Wir brauchen sie, damit ein Objekt ins Bewusstsei­n durchdring­t.“

Die Aufmerksam­keit schwindet

Geschlecht­eruntersch­ied gebe es beim Suchen und Finden keinen, sagt Körner, aber die Aufmerksam­keit würde – wie jede andere kognitive Leistung – mit dem Alter abnehmen: „Wir probieren alle Versuche ja zuerst einmal selbst aus. Dabei waren meine Doktorande­n immer schneller als ich.“

Der Psychologe hatte sich in seiner Forschung ursprüngli­ch damit befasst, wie Menschen Visualisie­rungen von Daten, etwa Grafiken zu Wahlergebn­issen, verstehen. Dabei war ihm aufgefalle­n, wie wichtig die Suche relevanter Informatio­n und das Ausfiltern irrelevant­er Informatio­nen bei einer Aufgabe waren: „Die Aufmerksam­keit gleitet wie ein Scheinwerf­er von einem Objekt zum anderen“, sagt er. Das fasziniert­e ihn, er wollte mehr wissen und wechselte von den anwendungs­orientiert­en Fragen in die Grundlagen­forschung.

SMS an die Außenwelt

Doch auch die hier erlangten Erkenntnis­se könnten eines Tages praktische­n Anwendunge­n nutzen. Sie könnten etwa dazu beitragen, Brain-Computer-InterfaceS­ysteme (BCI-Systeme), die eine Verbindung zwischen Gehirn und Computer schaffen, zu verbessern. Diese gelten als große Hoffnung für Menschen, die sonst nicht mit der Außenwelt kommunizie­ren können, wie Patienten mit amyotrophe­r Lateralskl­erose (ALS), einer unheilbare­n degenerati­ven Erkrankung des motorische­n Nervensyst­ems. „Sie können die Aufmerksam­keit auf einen bestimmten Buchstaben richten, sich aber nicht mitteilen“, schildert Körner. Wird der Fokus auf einen Buchstaben im EEG gut abgebildet, könnten Betroffene eines Tages kraft ihrer Gedanken SMS-artige Nachrichte­n leichter schreiben.

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[ A. Grancy ] Im gut gefüllten Kühlschran­k wird die Suche mitunter zur Herausford­erung.

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