Die Katastrophe ohne den einen großen Knall
Die Klimakrise hat die literarischen Genres befeuert und nicht nur ein neues Modell der Katastrophenfantasie hervorgebracht, sondern auch Romane, die versuchen, das große erdgeschichtliche Ganze zu erzählen.
Ich riss mich los, knickte jedoch mit dem Fuß auf der Schwelle der halb offenen Türe um. In dem Reflex, der mich zusammenzucken ließ, packte er meine Schulter, zog mich zurück, hielt meine Arme hinter dem Rücken und drückte mich an die Wand. Sein rechtes Ohr an meinem Mund biss ich fest zu.“So erzählt die emeritierte polnische Zoologin Zofia Kalin-Halzska kurz vor ihrem Tod einem Reporter von ihrer Vergewaltigung im Warschauer Ghetto.
Sie ist eine Figur aus „Erste Erde Epos“von Raoul Schrott und weiß berufsbedingt ganz genau, wie viel Evolution und somit wie viel Raubtier im menschlichen Gebiss steckt. Ein Wissen, an dem uns ihr Schöpfer teilhaben lässt. An besagter Stelle hält der österreichische Schriftsteller die Vergewaltigungserzählung kurz an, um über die säugetierartigen Merkmale des Reptiliengebisses zu referieren.
Schrott hat mit „Erste Erde Epos“2016 einen Schlüsseltext der Literatur des Anthropozäns (siehe Lexikon) vorgelegt. „Er erzählt in dem Werk aus der Perspektive der Gegenwart die gesamte Erdgeschichte seit dem Urknall und von den Verflechtungen des Menschen darin sowie dessen Einfluss auf biologische, geologische und atmosphärische Prozesse“, so die Germanistin Stephanie Langer. „Auf über 800 Seiten arbeitet Schrott sich auf sehr raffinierte Weise daran ab, was die Anthropozän-Diagnose für das Erzählen bedeutet. Er setzt dazu viele verschiedene zersplitterte Erzählfiguren – in der Regel Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – ein. Ihre Biografien verwebt er dann meist ausgehend von ihrem Fachgebiet mit der Erdgeschichte.“
Das Unerzählbare erzählbar machen
Unter der Leitung der Germanistin Eva Horn untersucht Langer an der Universität Wien in einem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt die Charakteristika der Poetik des Anthropozäns in der deutschsprachigen Literatur – auf inhaltlicher als auch auf formaler Ebene.
„Uns interessiert, was Literatur mit so einem unerzählbar großen und komplexen Thema überhaupt machen kann“, sagt Horn. „Wie erzählt man so riesige Zeiten und so riesige Räume? Wie bringt man das in den Erfahrungs- und Leseraum eines Publikums mit begrenzter Lebenszeit und beschränkter Aufmerksamkeitsspanne?“Bei Schrott gelinge das etwa durch eine Fülle an Formexperimenten und intertextuellen Referenzen, es gibt Reiseberichte, E-Mail-Passagen, Montagen von völlig heterogenen Texten und Geschehnissen, Figurengedichte, Verweise auf antike Dichtung.
Der gesellschaftliche Diskurs ums Anthropozän ist eng verknüpft mit der medial allgegenwärtigen Klimakrise. In der Literaturgeschichte ist diese Art von Katastrophe bislang eher ungewöhnlich. Horn: „Es handelt sich um eine Katastrophe ohne Ereignis.“Im prototypischen Katastrophenszenario der Literatur der Moderne ändere sich indes das Leben der Menschen von einem Moment auf den anderen. Es gibt einen großen Knall, etwa die nukleare Apokalypse, durch die alles zusammenbricht, oder einen Virus, der die Menschheit zum größten Teil auslöscht. „Solche Fantasien sind heute noch aktuell, zum Beispiel in ,Die Straße‘ von Cormac McCarthy.“In dem 2006 erschienen Roman reisen Vater und Sohn quer durch die USA. Sie sind zwei der wenigen Überlebenden nach einer nicht näher geschilderten Katastrophe, nach der Asche den Himmel verdunkelte, die Temperaturen sanken und keine Pflanzen mehr wuchsen.
In einem neuen Genre gegenwärtiger Katastrophenliteratur, der CliFi (siehe Lexikon), steht der Klimawandel mit seinen schleichenden Veränderungen im Zentrum. Schon im 19. Jahrhundert gab es Romane mit ähnlichen Fantasien. „Darin
Das Anthropozän ist eine Katastrophe ohne Ereignis. Literatur handelt davon, lang bevor es den Begriff gab.
Eva Horn,
Literaturwissenschaftlerin, Universität Wien
wird die Erde meistens immer kälter, wodurch sich die menschliche Spezies radikal verändert“, erklärt Horn. Ein Beispiel dafür ist „Time Machine“(1895) von H. G. Wells. Das Besondere an den Katastrophenszenarien der CliFi sei, dass diese versuchen, eine Realität auszuleuchten, auf die wir tatsächlich zusteuern. Nur wissen wir nicht, wie wir uns diese konkret vorstellen sollen – daher die Flut an Sachbüchern und Romanen über Extremereignisse in den vergangenen zwanzig Jahren. Der US-amerikanische Systemtheoretiker John Casti spricht in dem Zusammenhang von X-Events, die unvorhersagbar und plötzlich eintreten und die Lebensbedingungen der davon betroffenen Menschen radikal ändern.
Experimente mit Collagen und Comics
Im Mittelpunkt der Anthropozän-Romane, denen sich Horn und Langer widmen, stehen im Unterschied zu den Texten des CliFiGenres nicht X-Events und das Danach. Sie drehen sich um das große planetarische Ganze. Ein prominentes Beispiel aus der österreichischen Literatur ist der Roman „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“(2018). „Philipp Weiss erzählt darin eine große Familiengeschichte und bringt eine planetarische Dimension durch ganz unterschiedliche Zeitebenen, Schauplätze und Textformen ein“, sagt Langer. „Der fünfbändige Roman enthält eine Enzyklopädie, ein Notizbuch einer Forscherin und auch einen japanischen Comic, einen Manga.“
Ein völlig neues Phänomen seien solche Versuche, das Planetarische und damit verbunden sehr lange Zeiträume zu erzählen, aber keineswegs, betont Horn. „Die gab es schon, bevor Crutzen den Anthropozän-Begriff prägte, etwa bei Alexander von Humboldt und Gottfried Herder.“Ein wichtiger späterer Text über das – damals immer noch nicht benannte – Anthropozän, „Der Mensch erscheint im Holozän“(1979), stammt von Max Frisch. Auffällig auch bei dieser Erzählung: das Spiel mit Stil und Form durch eine Collagetechnik mit Notizen und ausgeschnittenen Abbildungen aus Lexika.
„Die Literatur ist ein fantastisches Medium der Verdichtung“, meint Horn, die derzeit an einer Kulturtheorie des Klimas arbeitet. „Wir haben heute den Bezug zum Klima verloren. Uns fehlt das Sensorium für atmosphärische Zustände“, stellt sie fest. Man redet vom Wetter, das Klima überlasse man der Wissenschaft mit ihren Großrechnern. „Aber es gab Zeiten, da erklärten sich die Menschen alle möglichen Zustände mit dem Klima: Krankheiten, Charaktereigenschaften, kulturelle Bräuche.“In Zeiten des Klimawandels sei es wichtig, sich daran zu erinnern. „Literatur hat das auf wunderbare Weise festgehalten.“