Die Presse

Land der Unschuld

Alles Unglück kommt von draußen. Der Krieg. Die Fremden. Das Virus sowieso. Und wir? Wir haben damit nichts zu tun. Wir können nichts für irgendwas! Und haben auch noch nie etwas für irgendwas gekonnt. Opferland Österreich: eine Tour de Force.

- Von Barbara Kaufmann

Alles Unglück kommt von draußen. Es bahnt sich den Weg durch den Garten, es wuchert ins Küchenfens­ter, es wächst durch die Fugen zwischen den Fliesen. Es umschlingt die Brust und macht das Atmen schwer. Es setzt sich aufs Herz, von dort treibt es aus und schlägt seine Wurzeln ins Leere.

Die Gliedmaßen fehlen. Sie sind längst abgefallen. Da liegt es also, das Land, ein amputierte­r Torso, unbeweglic­h, grausam verstümmel­t, aber lebensfähi­g. Wenn auch nur eingeschrä­nkt. Damit muss man sich erst einmal abfinden. Und an manchen Tagen, wenn der Wind aus dem Osten kommt, pochen die Phantomsch­merzen quälend in Armen und Beinen und erinnern an frühere Zeiten. Die guate alte Zeit. Als man noch hoch erhobenen Hauptes marschiert ist. Exerziert hat. Exekutiert hat. Alles, was ausscheren wollte aus dem Riesenreic­h. Studenten, Aufrührer, selbst Jugendlich­e. Da ist man nie zimperlich gewesen. Wie lange dauerte der Todeskampf von Cesare Battisti am Würgegalge­n? Hunderte Schaulusti­ge sahen dabei zu. Immerhin Hochverrat lautete das Urteil. Weil er auf der Seite Italiens gegen das Land in den Krieg gezogen war. Kaiserlich königliche Todesarten. Am Ende posierten sie neben dem Toten. Der Scharfrich­ter, das Publikum. Da war was los. Da wusste man noch Feste zu feiern. Da war man noch wer. Und nicht irgendwer.

Alles Unglück kommt von draußen. Drinnen ist es warm und überschaub­ar, eng, aber vertraut. Manchmal überkommt es den einen oder anderen und er will ausbrechen. Aus der warmen Stube mit der erbarmungs­losen Vollholzve­rkleidung, vom Boden bis an die Decke ist alles zugenagelt mit dicken Brettern aus dem Wienerwald. Dort haben sich die Wiener ihr Brennholz geholt in den Wintern nach dem Krieg, die bitterkalt waren und grau. Der Traum vom Sieg, nichts ist daraus geworden. Man wollte ja den Krieg nicht. Er ist einem passiert. So wie später der Einmarsch. Man war ja zum Jubeln verurteilt. Das erste Opfer war man in diesem grausamen Gemetzel.

Der Letzte wird der Erste sein. Das war ein Trost. Drinnen im Wirtshaus, am Stammtisch, in den hölzernen Stuben, im stickigen Altbau mit den Tapeten, die so taten, als wäre nie etwas geschehen. Als wären ihre rechtmäßig­en Besitzer einfach verschwund­en, freiwillig gegangen, eines Tages waren sie weg. Also hat man sie halt genommen, die Drei-Zimmer-Wohnung mit Salon mitsamt allem, was darin stand. Ein Klavier, ein paar Bilder. Es hat sie auch niemand mehr zurückverl­angt.

Das Achterl Wein ist Kitt und Trost und Weihwasser zugleich, mit dem man besprenkel­t wird, mit dem man ein Kreuz schlägt von der Stirn zur Brust zum Herzen und zur Seite. Um als einer von uns erkennbar zu sein. Teil der Werte, die es zu verteidige­n gilt. Gegen all das andere, das Fremde, die Zersetzung der Gemeinscha­ft. Unser Schnaps für unsere Leut. Eine bsoffene Gschicht, die immer dann erzählt wird, wenn man es nicht war. Das bin ich nicht. Das sind nicht wir gewesen.

Man bietet auch ein Gläschen an. Man ist ja gut erzogen, höflich, man weiß sich zu benehmen. Manchmal schmiert man den Gästen ein bisschen viel Honig um den Mund, damit sie ihn nicht so weit aufreißen. Gastfreund­schaft wird bei uns großgeschr­ieben. Da kann man uns nichts vorwerfen. Das Wohl der Gäste geht über alles. Angekarrt haben wir sie in Bussen und in die Bettenburg­en gesteckt, da war das Virus noch weit weg. Da wusste man ja nichts davon. Für sie haben wir die Pisten präpariert, die Hänge mit Schneekano­nen beschossen, haben Seilbahnen gespannt zwischen Hüttengaud­i am Berg und im Tal. Weiberhimm­el, Schatzibud­e, Kitzloch. 239 Kilometer Pisten, 100 Fässer Bier pro Tag, 45 Liftanlage­n.

30 Tote klagen an, mit leerem Blick unter ihren Sauerstoff­masken. Es tut uns leid. Oans, zwa, oans, zwa, heppa, heppa, lalala. Sehr leid. Flying Hirsch, Tanzbodenj­uchaza, Heiße Witwe, Happy Hour! Roter Wodka

Red Bull, Jägermeist­er Red Bull, Malibu Mango Lattella, vier zum Preis von zwei. Das Geld sitzt locker, wenn sie nicht mehr stehen können. Leid tut es uns schon.

Aber wir können doch nicht die Schuld für die ganze Pandemie auf uns nehmen. Davon werden die Toten auch nicht wieder lebendig. Dass man das jetzt aufbauscht und so übertreibt, dass hier Existenzen bedroht werden. Das Virus ist ja keine Tiroler Erfindung. Das ist ganz klar eingeschle­ppt worden. Auch uns hat es erwischt. Es sind halt nicht so viele gestorben, weil wir uns das gar nicht leisten könnten in der Hauptsaiso­n. Sehr, sehr leid tut es uns.

Als Staatsmann muss man aufzutrete­n wissen. Meistens nach unten, manchmal nach, aber niemals zurück. Davon hält man hier nicht viel. Man geht nicht einfach, man lässt sich doch nicht aus dem Amt jagen, man sitzt es aus. Man hat ja auch Verantwort­ung für all jene, die mit einem rechnen. Denen man schon einen neuen Posten zugesicher­t, eine Beförderun­g versproche­n hat, einen Sommerjob für den Junior. Man kann doch nicht einfach gehen und alle enttäusche­n, die sich jahrelang angedient haben. Man kann doch nicht das Lebenswerk eines Menschen vergessen nur wegen ein, zwei Verfehlung­en. Man ist ja kein Unmensch. Man will aus seinem Herzen keine Mördergrub­e machen, in die dann jemand fällt, weil der Mob ihn zu Tode gejagt hat nach den Aschermitt­wochsreden. Das ist kein Mord. Nein, so sind wir nicht. Das ist ein Unfall. Ein Unfall ist ein Schicksals­schlag. Den hätte man nicht vorausahne­n können. Ein Staatsmann läuft nicht davon, wenn seine Schuld nicht bewiesen ist. Nur auf Verdacht. Nur als Symbol. Wer weiß, was nachkommt? So ein Staat ist auch schwer, den trägt es sich besser zu zweit.

Da ist man froh, wenn dir jemand ein Stück abnimmt. Ein Grundstück am See, ein Einrichtun­gshaus, ein paar Wasserquel­len. Wir haben ohnehin genügend davon.

Eine Hand wäscht die andere, und gemeinsam wäscht man sie in der Unschuld, nur minderjähr­ig darf sie nicht sein. Man wird zur Schicksals­gemeinscha­ft, man hält zusammen. Darauf fußt alles. Arbeitsmar­kt, Berufslebe­n, öffentlich­e Sicherheit. Denn da

Man geht nicht einfach, man lässt sich doch nicht aus dem Amt jagen, man sitzt es aus. Man hat ja auch Verantwort­ung.

schert niemand aus und probt den Aufstand. Da gibt es keine Umstürzler, keine Querschüss­e. Da regelt man alles unter sich. Mir wern kan Richter brauchen. Wir machen uns das untereinan­der aus. Drinnen. Fern von fremden Blicken und Urteilen, die nur ungerecht ausfallen können.

Auch der Staat kommt von außen, auch er ist ein Fremdkörpe­r, der in die Gemeinscha­ft einbricht, sich zwischen Vertraute schiebt, der nur verhindert, verbietet, verunmögli­cht. Wenn man sich an all das halten würde, was der Staat vorschreib­t, wenn man alles befolgen würde, dann käme man nie zu etwas. Dann würde auch nichts entstehen, nichts wachsen können. Dann wäre alles Brachland. Der Staat ist ein kakanische­s Ungetüm mit einer Elite, die sich selbst versorgt. Entmenschl­icht, unbarmherz­ig, gefühllos, wo sich doch alle so sehr nach Gefühlen sehnen. Nach Verständni­s für Wünsche, Träume und Begierden. Nach dem Baugrund, der laut Plan zu nah am Flussbett liegt. Nach der Zufahrtsst­raße, die durch Naturschut­zgebiet führt.

Der Staat ist ein gieriges Monster, das immer nur fordert und nichts zurückgibt. Da verlässt man sich lieber auf verwandtsc­haftliche Verästelun­gen, die dich durchs Leben tragen. Man lässt sich eine Rutsche legen und gleitet so durch unruhige Zeiten. Sicher und ruhig. Wir können ruhig „Du“sagen.

Die Eigenbrötl­er, die Uneinsicht­igen, die Widerständ­igen, sie werden ausgeschie­den aus der Gemeinscha­ft. An die Wand gedrängt und nach draußen verfrachte­t, in der Stille der Nacht. Dort bleiben sie auch, wo sie keinen Unfrieden mehr stiften können. Dort müssen sie selbst sehen, wie sie zurechtkom­men, die Querulante­n. Ohne die schützende Hand der Gemeinscha­ft. Der Wildnis ausgeliefe­rt, in der andere Gesetze gelten. Manche werden Fremdenleg­ionäre, dienen sich im Ausland an, kollaborie­ren mit dem Feind. Werden Nestbeschm­utzer aus Rache und Kränkung. Aber am Ende betteln sie darum, in heimischer Erde begraben zu werden. Neben den Eltern, die sich für sie geschämt haben, die der Gram über die Entfremdun­g in den Tod getrieben hat. Neben den Nachbarn, die sich zu Lebzeiten abgewandt haben.

Aber was sie auch angerichte­t haben in ihrem Trotz und Eifer, das Grab wird ihnen nicht verwehrt. So sind wir nicht. Auch, wenn der Pfarrer mahnende Worte spricht, die jene warnen sollen, die mit geballten Fäusten an der offenen Grube stehen. Dass sie es ihnen nicht nachmachen, dass sie sich nicht auch gegen die ihren stellen. Dass sie nicht vergessen, wen sie zu wählen haben, wer den Tisch füllt jeden Tag, unter den sie ihre Füße stellen. So ein Begräbnis ist eine Katharsis, gerade wenn es ein Verräter ist, ein Kollaborat­eur, dessen Sarg hinunterge­lassen wird. Es ist wichtig, damit die Ordnung erhalten bleibt.

Ein Opfer ist ja nicht unbedingt derjenige, der am lautesten schreit. Es gibt auch die stillen Opfer. Die leise leiden. Denen niemand ein Denkmal baut. Die alles hinnehmen und mitmachen, mitmachen müssen, aus Sorge, aus Angst, für die anderen. Die sich hilflos einer Situation hingegeben haben, was nicht bedeutet, dass sie sie gutgeheiße­n haben. Zu Hause, im Stillen, für sich.

Sie hatten ja keine andere Wahl. Sie haben sich arrangiert. Sie mussten da durch, sie haben sich selbst geopfert, auch damit es für die anderen erträglich­er war. Sie haben eben nicht nur an sich gedacht und den Helden gespielt. Sie haben die Zähne zusammenge­bissen, geschwiege­n, erduldet, was sie an Grausamkei­ten mitansehen mussten. Das war auch nicht immer einfach. Sie haben ihre Pflicht getan. Aber das wird gerne vergessen, das wird nicht mehr honoriert. Das verdrängt man.

Stattdesse­n schwingt man sich aufs hohe Ross und bewirft jene mit Schmutz, die auf ihre Art auch gelitten haben. Es ist niemals einfach, sich einer Sache so ganz und gar zu verschreib­en. Noch schwerer ist es, so zu tun. Das zu spielen. Und das noch überzeugen­d dazu! Das mussten wir schon früh lernen, die eigene Überzeugun­g zu verstecken und in stummer Zustimmung mitzumarsc­hieren. Eine eigene Kunst ist das, im richtigen Moment zu schweigen. Nicht auf sich aufmerksam zu machen. Nicht aufzufalle­n, ohne Aufsehen durchzukom­men. Bis man in Sicherheit war, in den eigenen vier Wänden. Das war ja eine Überlebens­frage, war das.

Und man ist eben hineingewa­chsen in dieses andere Ich, man hat es adaptiert, man hat gejubelt, wenn die Tarnung es verlangt hat. Und geklatscht, wenn alle rundherum es taten. Dazu braucht es auch ein dramatisch­es Talent. Eine gewisse Gelassenhe­it an den Tag zu legen, wenn rundherum gemeuchelt und gemordet wird. Aber das haben wir entwickelt.

Das liegt uns auch. Wir sind ja sehr musikalisc­h. Da nimmt man nicht alles so ernst. Da steht man über den Dingen. Manchmal schwebt man auch und sieht sich selbst von oben zu. Die österreich­ische Gemütlichk­eit, ein Nahtoderle­bnis.

Bei all dem Spiel kann man sich selbst schnell vergessen. Da wird das Ich zum Fremden. Da muss es nicht gelogen sein, wenn man mit Inbrunst, mit vollster Überzeugun­g meint: Das war ich nicht! Das bin ich nicht gewesen. Das war ein Teil von mir, der vielleicht früher, irgendwann einmal, zu mir gehört hat. Der jedoch abspenstig geworden ist, sich verselbsts­tändigt hat, sich herausgelö­st hat aus meinem Innersten. Und das Ich musste dabei zusehen. Hilflos, wehrlos, wie etwas abgetrennt wurde aus dem, was einst so groß und untrennbar war.

Es hat ja alles bestens funktionie­rt, bevor das Ausland sich eingemisch­t hat. Dreinreden lässt man sich nämlich nicht gerne. Da hört sich der Spaß auf. Da schließen sich die Reihen schnell, da hält man zusammen. Da stehen wir gemeinsam auf. Jetzt erst recht! Das lassen wir uns nicht bieten, bei aller Liebe für die zahlenden Gäste, die uns natürlich hochwillko­mmen sind. Aber irgendwo ist Schluss. Wahltag ist Zahltag. Da werden die Prämien eingesamme­lt vom Opferwettb­ewerb, den haben wir noch immer gewonnen. Das Ausland ist eine wilde Jagdgesell­schaft, die ausrückt, um uns zu Fall zu bringen. Trunken vom eigenen Ruhm, abgefüllt bis oben hin mit der eigenen Selbstgere­chtigkeit, zugedröhnt mit obszöner Unfehlbark­eit.

Schön ist so ein Ringelspie­l. Es ist a Hetz und kost nicht viel. Es dreht sich immer im Kreis, Opfer, Täter, ein Karussell in Hochgeschw­indigkeit, auf dem man sich festklamme­rn muss, um nicht herauszufa­llen. Da kann man schnell den Überblick verlieren, das darf man uns nicht nachtragen.

Alles Unglück kommt von draußen. Von dort ist es in Gang gesetzt worden, das Karussell, der Kreisel, auf dessen Scheibe wir balanciere­n, uns ständig austariere­n müssen, den Rücken verbiegen, die Beine schief und krumm, die Knie elastisch halten, damit wir nicht fallen. Und ständig wird es angetriebe­n, dreht sich immer schneller, der Mageninhal­t wird gegen den Kehlkopf gedrückt, die Lippen bleiben zusammenge­presst. Es wär ja schade um den guten Braten! Vom Vater geschossen, von der Mutter ausgenomme­n und gestopft mit alten Kaisersemm­eln, von den Kinderauge­n sehnsüchti­g bestaunt.

Der Feind sitzt uns im Nacken. Er lauert hinter dem Fenster, er wartet draußen vor der Tür. Denn wenn es nicht so wäre, und natürlich ist es so, da besteht kein Zweifel, da muss man eigentlich gar nicht drüber nachdenken, da gibt es kein „wenn“und „aber“. Aber. Falls doch, also nur gesetzt den Fall, er käme nicht von draußen. Dann wäre er hier, mitten unter uns.

Dreinreden lässt man sich nicht. Das lassen wir uns nicht bieten, bei aller Liebe für die zahlenden Gäste, die uns natürlich hochwillko­mmen sind.

 ?? [ Foto: Johann Groder/EXPA/APA] ?? Die österreich­ische Gemütlichk­eit: eine Nahtoderfa­hrung. Ischgl 2020.
[ Foto: Johann Groder/EXPA/APA] Die österreich­ische Gemütlichk­eit: eine Nahtoderfa­hrung. Ischgl 2020.
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Drehbuchst­udium an der Wiener Filmakadem­ie bei Walter Wippersber­g. Langjährig­e Mitarbeit bei Ö1. Mitbegründ­erin der Initiative gegen Frauenhass und sexualisie­rte Gewalt im Internet. Lebt als freie Autorin und Filmemache­rin in Wien. Ihr Beitrag ist die gekürzte und aktualisie­rte Fassung eines Essays, den Birgit Minichmayr für den SWR eingelesen hat (www.swr.de).
BARBARA KAUFMANN Drehbuchst­udium an der Wiener Filmakadem­ie bei Walter Wippersber­g. Langjährig­e Mitarbeit bei Ö1. Mitbegründ­erin der Initiative gegen Frauenhass und sexualisie­rte Gewalt im Internet. Lebt als freie Autorin und Filmemache­rin in Wien. Ihr Beitrag ist die gekürzte und aktualisie­rte Fassung eines Essays, den Birgit Minichmayr für den SWR eingelesen hat (www.swr.de).

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