Land der Unschuld
Alles Unglück kommt von draußen. Der Krieg. Die Fremden. Das Virus sowieso. Und wir? Wir haben damit nichts zu tun. Wir können nichts für irgendwas! Und haben auch noch nie etwas für irgendwas gekonnt. Opferland Österreich: eine Tour de Force.
Alles Unglück kommt von draußen. Es bahnt sich den Weg durch den Garten, es wuchert ins Küchenfenster, es wächst durch die Fugen zwischen den Fliesen. Es umschlingt die Brust und macht das Atmen schwer. Es setzt sich aufs Herz, von dort treibt es aus und schlägt seine Wurzeln ins Leere.
Die Gliedmaßen fehlen. Sie sind längst abgefallen. Da liegt es also, das Land, ein amputierter Torso, unbeweglich, grausam verstümmelt, aber lebensfähig. Wenn auch nur eingeschränkt. Damit muss man sich erst einmal abfinden. Und an manchen Tagen, wenn der Wind aus dem Osten kommt, pochen die Phantomschmerzen quälend in Armen und Beinen und erinnern an frühere Zeiten. Die guate alte Zeit. Als man noch hoch erhobenen Hauptes marschiert ist. Exerziert hat. Exekutiert hat. Alles, was ausscheren wollte aus dem Riesenreich. Studenten, Aufrührer, selbst Jugendliche. Da ist man nie zimperlich gewesen. Wie lange dauerte der Todeskampf von Cesare Battisti am Würgegalgen? Hunderte Schaulustige sahen dabei zu. Immerhin Hochverrat lautete das Urteil. Weil er auf der Seite Italiens gegen das Land in den Krieg gezogen war. Kaiserlich königliche Todesarten. Am Ende posierten sie neben dem Toten. Der Scharfrichter, das Publikum. Da war was los. Da wusste man noch Feste zu feiern. Da war man noch wer. Und nicht irgendwer.
Alles Unglück kommt von draußen. Drinnen ist es warm und überschaubar, eng, aber vertraut. Manchmal überkommt es den einen oder anderen und er will ausbrechen. Aus der warmen Stube mit der erbarmungslosen Vollholzverkleidung, vom Boden bis an die Decke ist alles zugenagelt mit dicken Brettern aus dem Wienerwald. Dort haben sich die Wiener ihr Brennholz geholt in den Wintern nach dem Krieg, die bitterkalt waren und grau. Der Traum vom Sieg, nichts ist daraus geworden. Man wollte ja den Krieg nicht. Er ist einem passiert. So wie später der Einmarsch. Man war ja zum Jubeln verurteilt. Das erste Opfer war man in diesem grausamen Gemetzel.
Der Letzte wird der Erste sein. Das war ein Trost. Drinnen im Wirtshaus, am Stammtisch, in den hölzernen Stuben, im stickigen Altbau mit den Tapeten, die so taten, als wäre nie etwas geschehen. Als wären ihre rechtmäßigen Besitzer einfach verschwunden, freiwillig gegangen, eines Tages waren sie weg. Also hat man sie halt genommen, die Drei-Zimmer-Wohnung mit Salon mitsamt allem, was darin stand. Ein Klavier, ein paar Bilder. Es hat sie auch niemand mehr zurückverlangt.
Das Achterl Wein ist Kitt und Trost und Weihwasser zugleich, mit dem man besprenkelt wird, mit dem man ein Kreuz schlägt von der Stirn zur Brust zum Herzen und zur Seite. Um als einer von uns erkennbar zu sein. Teil der Werte, die es zu verteidigen gilt. Gegen all das andere, das Fremde, die Zersetzung der Gemeinschaft. Unser Schnaps für unsere Leut. Eine bsoffene Gschicht, die immer dann erzählt wird, wenn man es nicht war. Das bin ich nicht. Das sind nicht wir gewesen.
Man bietet auch ein Gläschen an. Man ist ja gut erzogen, höflich, man weiß sich zu benehmen. Manchmal schmiert man den Gästen ein bisschen viel Honig um den Mund, damit sie ihn nicht so weit aufreißen. Gastfreundschaft wird bei uns großgeschrieben. Da kann man uns nichts vorwerfen. Das Wohl der Gäste geht über alles. Angekarrt haben wir sie in Bussen und in die Bettenburgen gesteckt, da war das Virus noch weit weg. Da wusste man ja nichts davon. Für sie haben wir die Pisten präpariert, die Hänge mit Schneekanonen beschossen, haben Seilbahnen gespannt zwischen Hüttengaudi am Berg und im Tal. Weiberhimmel, Schatzibude, Kitzloch. 239 Kilometer Pisten, 100 Fässer Bier pro Tag, 45 Liftanlagen.
30 Tote klagen an, mit leerem Blick unter ihren Sauerstoffmasken. Es tut uns leid. Oans, zwa, oans, zwa, heppa, heppa, lalala. Sehr leid. Flying Hirsch, Tanzbodenjuchaza, Heiße Witwe, Happy Hour! Roter Wodka
Red Bull, Jägermeister Red Bull, Malibu Mango Lattella, vier zum Preis von zwei. Das Geld sitzt locker, wenn sie nicht mehr stehen können. Leid tut es uns schon.
Aber wir können doch nicht die Schuld für die ganze Pandemie auf uns nehmen. Davon werden die Toten auch nicht wieder lebendig. Dass man das jetzt aufbauscht und so übertreibt, dass hier Existenzen bedroht werden. Das Virus ist ja keine Tiroler Erfindung. Das ist ganz klar eingeschleppt worden. Auch uns hat es erwischt. Es sind halt nicht so viele gestorben, weil wir uns das gar nicht leisten könnten in der Hauptsaison. Sehr, sehr leid tut es uns.
Als Staatsmann muss man aufzutreten wissen. Meistens nach unten, manchmal nach, aber niemals zurück. Davon hält man hier nicht viel. Man geht nicht einfach, man lässt sich doch nicht aus dem Amt jagen, man sitzt es aus. Man hat ja auch Verantwortung für all jene, die mit einem rechnen. Denen man schon einen neuen Posten zugesichert, eine Beförderung versprochen hat, einen Sommerjob für den Junior. Man kann doch nicht einfach gehen und alle enttäuschen, die sich jahrelang angedient haben. Man kann doch nicht das Lebenswerk eines Menschen vergessen nur wegen ein, zwei Verfehlungen. Man ist ja kein Unmensch. Man will aus seinem Herzen keine Mördergrube machen, in die dann jemand fällt, weil der Mob ihn zu Tode gejagt hat nach den Aschermittwochsreden. Das ist kein Mord. Nein, so sind wir nicht. Das ist ein Unfall. Ein Unfall ist ein Schicksalsschlag. Den hätte man nicht vorausahnen können. Ein Staatsmann läuft nicht davon, wenn seine Schuld nicht bewiesen ist. Nur auf Verdacht. Nur als Symbol. Wer weiß, was nachkommt? So ein Staat ist auch schwer, den trägt es sich besser zu zweit.
Da ist man froh, wenn dir jemand ein Stück abnimmt. Ein Grundstück am See, ein Einrichtungshaus, ein paar Wasserquellen. Wir haben ohnehin genügend davon.
Eine Hand wäscht die andere, und gemeinsam wäscht man sie in der Unschuld, nur minderjährig darf sie nicht sein. Man wird zur Schicksalsgemeinschaft, man hält zusammen. Darauf fußt alles. Arbeitsmarkt, Berufsleben, öffentliche Sicherheit. Denn da
Man geht nicht einfach, man lässt sich doch nicht aus dem Amt jagen, man sitzt es aus. Man hat ja auch Verantwortung.
schert niemand aus und probt den Aufstand. Da gibt es keine Umstürzler, keine Querschüsse. Da regelt man alles unter sich. Mir wern kan Richter brauchen. Wir machen uns das untereinander aus. Drinnen. Fern von fremden Blicken und Urteilen, die nur ungerecht ausfallen können.
Auch der Staat kommt von außen, auch er ist ein Fremdkörper, der in die Gemeinschaft einbricht, sich zwischen Vertraute schiebt, der nur verhindert, verbietet, verunmöglicht. Wenn man sich an all das halten würde, was der Staat vorschreibt, wenn man alles befolgen würde, dann käme man nie zu etwas. Dann würde auch nichts entstehen, nichts wachsen können. Dann wäre alles Brachland. Der Staat ist ein kakanisches Ungetüm mit einer Elite, die sich selbst versorgt. Entmenschlicht, unbarmherzig, gefühllos, wo sich doch alle so sehr nach Gefühlen sehnen. Nach Verständnis für Wünsche, Träume und Begierden. Nach dem Baugrund, der laut Plan zu nah am Flussbett liegt. Nach der Zufahrtsstraße, die durch Naturschutzgebiet führt.
Der Staat ist ein gieriges Monster, das immer nur fordert und nichts zurückgibt. Da verlässt man sich lieber auf verwandtschaftliche Verästelungen, die dich durchs Leben tragen. Man lässt sich eine Rutsche legen und gleitet so durch unruhige Zeiten. Sicher und ruhig. Wir können ruhig „Du“sagen.
Die Eigenbrötler, die Uneinsichtigen, die Widerständigen, sie werden ausgeschieden aus der Gemeinschaft. An die Wand gedrängt und nach draußen verfrachtet, in der Stille der Nacht. Dort bleiben sie auch, wo sie keinen Unfrieden mehr stiften können. Dort müssen sie selbst sehen, wie sie zurechtkommen, die Querulanten. Ohne die schützende Hand der Gemeinschaft. Der Wildnis ausgeliefert, in der andere Gesetze gelten. Manche werden Fremdenlegionäre, dienen sich im Ausland an, kollaborieren mit dem Feind. Werden Nestbeschmutzer aus Rache und Kränkung. Aber am Ende betteln sie darum, in heimischer Erde begraben zu werden. Neben den Eltern, die sich für sie geschämt haben, die der Gram über die Entfremdung in den Tod getrieben hat. Neben den Nachbarn, die sich zu Lebzeiten abgewandt haben.
Aber was sie auch angerichtet haben in ihrem Trotz und Eifer, das Grab wird ihnen nicht verwehrt. So sind wir nicht. Auch, wenn der Pfarrer mahnende Worte spricht, die jene warnen sollen, die mit geballten Fäusten an der offenen Grube stehen. Dass sie es ihnen nicht nachmachen, dass sie sich nicht auch gegen die ihren stellen. Dass sie nicht vergessen, wen sie zu wählen haben, wer den Tisch füllt jeden Tag, unter den sie ihre Füße stellen. So ein Begräbnis ist eine Katharsis, gerade wenn es ein Verräter ist, ein Kollaborateur, dessen Sarg hinuntergelassen wird. Es ist wichtig, damit die Ordnung erhalten bleibt.
Ein Opfer ist ja nicht unbedingt derjenige, der am lautesten schreit. Es gibt auch die stillen Opfer. Die leise leiden. Denen niemand ein Denkmal baut. Die alles hinnehmen und mitmachen, mitmachen müssen, aus Sorge, aus Angst, für die anderen. Die sich hilflos einer Situation hingegeben haben, was nicht bedeutet, dass sie sie gutgeheißen haben. Zu Hause, im Stillen, für sich.
Sie hatten ja keine andere Wahl. Sie haben sich arrangiert. Sie mussten da durch, sie haben sich selbst geopfert, auch damit es für die anderen erträglicher war. Sie haben eben nicht nur an sich gedacht und den Helden gespielt. Sie haben die Zähne zusammengebissen, geschwiegen, erduldet, was sie an Grausamkeiten mitansehen mussten. Das war auch nicht immer einfach. Sie haben ihre Pflicht getan. Aber das wird gerne vergessen, das wird nicht mehr honoriert. Das verdrängt man.
Stattdessen schwingt man sich aufs hohe Ross und bewirft jene mit Schmutz, die auf ihre Art auch gelitten haben. Es ist niemals einfach, sich einer Sache so ganz und gar zu verschreiben. Noch schwerer ist es, so zu tun. Das zu spielen. Und das noch überzeugend dazu! Das mussten wir schon früh lernen, die eigene Überzeugung zu verstecken und in stummer Zustimmung mitzumarschieren. Eine eigene Kunst ist das, im richtigen Moment zu schweigen. Nicht auf sich aufmerksam zu machen. Nicht aufzufallen, ohne Aufsehen durchzukommen. Bis man in Sicherheit war, in den eigenen vier Wänden. Das war ja eine Überlebensfrage, war das.
Und man ist eben hineingewachsen in dieses andere Ich, man hat es adaptiert, man hat gejubelt, wenn die Tarnung es verlangt hat. Und geklatscht, wenn alle rundherum es taten. Dazu braucht es auch ein dramatisches Talent. Eine gewisse Gelassenheit an den Tag zu legen, wenn rundherum gemeuchelt und gemordet wird. Aber das haben wir entwickelt.
Das liegt uns auch. Wir sind ja sehr musikalisch. Da nimmt man nicht alles so ernst. Da steht man über den Dingen. Manchmal schwebt man auch und sieht sich selbst von oben zu. Die österreichische Gemütlichkeit, ein Nahtoderlebnis.
Bei all dem Spiel kann man sich selbst schnell vergessen. Da wird das Ich zum Fremden. Da muss es nicht gelogen sein, wenn man mit Inbrunst, mit vollster Überzeugung meint: Das war ich nicht! Das bin ich nicht gewesen. Das war ein Teil von mir, der vielleicht früher, irgendwann einmal, zu mir gehört hat. Der jedoch abspenstig geworden ist, sich verselbstständigt hat, sich herausgelöst hat aus meinem Innersten. Und das Ich musste dabei zusehen. Hilflos, wehrlos, wie etwas abgetrennt wurde aus dem, was einst so groß und untrennbar war.
Es hat ja alles bestens funktioniert, bevor das Ausland sich eingemischt hat. Dreinreden lässt man sich nämlich nicht gerne. Da hört sich der Spaß auf. Da schließen sich die Reihen schnell, da hält man zusammen. Da stehen wir gemeinsam auf. Jetzt erst recht! Das lassen wir uns nicht bieten, bei aller Liebe für die zahlenden Gäste, die uns natürlich hochwillkommen sind. Aber irgendwo ist Schluss. Wahltag ist Zahltag. Da werden die Prämien eingesammelt vom Opferwettbewerb, den haben wir noch immer gewonnen. Das Ausland ist eine wilde Jagdgesellschaft, die ausrückt, um uns zu Fall zu bringen. Trunken vom eigenen Ruhm, abgefüllt bis oben hin mit der eigenen Selbstgerechtigkeit, zugedröhnt mit obszöner Unfehlbarkeit.
Schön ist so ein Ringelspiel. Es ist a Hetz und kost nicht viel. Es dreht sich immer im Kreis, Opfer, Täter, ein Karussell in Hochgeschwindigkeit, auf dem man sich festklammern muss, um nicht herauszufallen. Da kann man schnell den Überblick verlieren, das darf man uns nicht nachtragen.
Alles Unglück kommt von draußen. Von dort ist es in Gang gesetzt worden, das Karussell, der Kreisel, auf dessen Scheibe wir balancieren, uns ständig austarieren müssen, den Rücken verbiegen, die Beine schief und krumm, die Knie elastisch halten, damit wir nicht fallen. Und ständig wird es angetrieben, dreht sich immer schneller, der Mageninhalt wird gegen den Kehlkopf gedrückt, die Lippen bleiben zusammengepresst. Es wär ja schade um den guten Braten! Vom Vater geschossen, von der Mutter ausgenommen und gestopft mit alten Kaisersemmeln, von den Kinderaugen sehnsüchtig bestaunt.
Der Feind sitzt uns im Nacken. Er lauert hinter dem Fenster, er wartet draußen vor der Tür. Denn wenn es nicht so wäre, und natürlich ist es so, da besteht kein Zweifel, da muss man eigentlich gar nicht drüber nachdenken, da gibt es kein „wenn“und „aber“. Aber. Falls doch, also nur gesetzt den Fall, er käme nicht von draußen. Dann wäre er hier, mitten unter uns.
Dreinreden lässt man sich nicht. Das lassen wir uns nicht bieten, bei aller Liebe für die zahlenden Gäste, die uns natürlich hochwillkommen sind.