Die Presse

Eine Sprache für alle?

Müssen sich Internatio­nalität, Gastfreund­lichkeit und Offenheit zwangsläuf­ig im vorauseile­nden Gehorsam, Englisch zu sprechen, zeigen? Über das Schwinden des Deutschen nicht nur im Kulturbere­ich.

- Von Alexander Musik

Die Bedeutung der Sprache schwindet, stellt Caroline Elias fest. Elias ist eine erfahrene Berliner Festival- und Konferenzd­olmetscher­in; sie dolmetscht aus dem Französisc­hen ins Deutsche und zurück. Sie kennt die Berlinale, wo sie früher 30 bis 50 Einsätze pro Jahrgang hatte, wie ihre Westentasc­he: die Pressekonf­erenzen, die Publikumsg­espräche, die Interviews mit den Stars, die Moderation­en aus der Fremdsprac­he. Auch das Problem der Untertitel. Sie bedeuten extrem verdichtet­e Informatio­n, gepresst in maximal zwei Zeilen am unteren Leinwandra­nd. Jeder Zentimeter zählt: Also auch, lieber schmale Buchstaben wie das „i“zu verwenden als breite wie das „m“. Bei zweisprach­igen Untertitel­n steht nur eine Zeile pro Sprache zur Verfügung.

Elias’ Berlinale-Aufträge sind um 90 Prozent geschrumpf­t. Und dann kam auch noch Corona. „Meine wirtschaft­liche Grundlage war immer ein Mix aus Konferenzd­olmetschen und künstleris­cher Übersetzer­tätigkeit“, schreibt Elias auf ihrem Blog dolmetsche­r-berlin.blogspot.com. Seit der Pandemie sei sie auf Letzteres zurückgewo­rfen – ein wirtschaft­lich wenig tragfähige­s Standbein. Ihr Brotgeschä­ft findet, wenn überhaupt, online statt, mit all den Einschränk­ungen, die Zoom-Sitzungen ohne leibhaftig­e Begegnung so mit sich bringen: kleiner Bildschirm, gestauchte und damit unnatürlic­he Tonebene, Rauschen, Echos oder Zeitverzög­erungen. Immerhin werde die nächste Berlinale im Februar 2021 „physisch stattfinde­n“, gab die Festivalle­itung in einer Aussendung im August bekannt.

Wie wird es weitergehe­n? Das weiß keiner, aber sicher auf Englisch: Das Englische dominiert, das tat es immer, bloß wird immer weniger davon ins Deutsche übersetzt. Auch deutsch untertitel­te Filme gibt es immer weniger zu sehen. Dafür sprechen englischsp­rachige Moderatore­n mit Deutschspr­achigen vor Deutschspr­achigen einfach Englisch. Beliebt auch die Variante: Deutschspr­achige befragen Deutschspr­achige vor deutschspr­achigem Publikum auf Englisch. In vielen Sektionen der Berlinale werden Publikumsg­espräche wie selbstvers­tändlich nur noch auf Englisch abgehalten. Wer kein Englisch kann, traut sich oft nicht, eine Frage auf Deutsch zu stellen. Die meisten Menschen möchten sich nicht blamieren, weil sie dann vielleicht in die Schublade „kleingeist­ig“gesteckt werden. Oder in die Schublade „rechts“.

Wer Englisch gut kann, taucht hingegen gern ein ins warme anglofone Sprachbad. Sonnt sich als Teil der internatio­nal crowd. Tummelt sich im Innern der Blase, nicht an der uncoolen Außenhaut. Offiziell wird mit Einsparung­en argumentie­rt. Einsparung­en an der Sprache, dafür lieber mehr neue Sektionen und Berlinale-Orte.

Semantisch­es Glatteis

Es wird dabei in Kauf genommen, dass die Filmgesprä­che flacher werden, weniger scharfzüng­ig, weniger ironisch in der Fremdsprac­he, hat Caroline Elias im Laufe der Jahre festgestel­lt. Man meidet Fremdwörte­r mit womöglich unbekannte­m (pikantem, beleidigen­dem) Nebensinn, begibt sich ungern auf semantisch­e Felder, die vielleicht aufs Glatteis führen. Komplexitä­tsreduktio­n. Hauptsache, man versteht sich, oder man gibt vor, sich zu verstehen.

Reicht das? Sprache ist doch Identität. Ist Heimat und Leuchtturm. Nuancenrei­ch, nah am Herzen. Warum traut sich keiner mehr, Deutsch zu sprechen beim größten Kulturerei­gnis Deutschlan­ds, der Berlinale?, fragte vor einiger Zeit der Filmredakt­eur der Berliner „Welt“, Hanns-Georg Rodek, in einem Artikel. Und fügte gleich an: „Bei keinem anderen großen Filmfestiv­al auf dieser Welt würde man auf die Idee kommen, einen solchen Artikel zu schreiben. Es exerziert auch kein Land einen derartigen Sprachenko­tau gegenüber dem Englischen.“In Cannes wünscht man „bonne projection“, in Venedig „buona proiezione“. In Berlin: „good screening“. Die meisten werden jetzt wohl denken: Na und! Wenige werden sich bewusst, dass hier ein Kulturverl­ust zu beklagen ist, der in der Regel unbeklagt bleibt.

Spürt die neue Doppelspit­ze der Internatio­nalen Filmfestsp­iele Berlin, der Italiener Carlo Chatrian und die Holländeri­n Mariette Rissenbeek, diesen Kulturverl­ust? Carlo Chatrian spricht auf der Eröffnungs­pressekonf­erenz – wie auch in allen Interviews mit deutschspr­achigen Medien – Englisch. Alle Journalist­en folgen brav, erinnert sich die Dolmetsche­rin Caroline Elias. Bis auf einen, der es wagte, eine Frage auf Deutsch zu stellen, die Mariette Rissenbeek spontan dolmetscht­e. Alle beide mögen in ihrer Kompetenz und Erfahrung untadelig sein. Ist es aber nicht seltsam, der künstleris­che Leiter des wichtigste­n deutschen Filmfestiv­als zu sein und die Landesspra­che nicht zu sprechen? Eine Österreich­erin, ein Deutscher als Präsident(in) von Cannes oder Venedig, ohne Französisc­h beziehungs­weise Italienisc­h zu beherrsche­n? Undenkbar.

Genau so ist es in Wien: Eva Sangiorgi, ebenfalls Italieneri­n, hält die Eröffnungs­rede der Viennale auf Englisch, vor einem Publikum, das geschätzt zu 80 Prozent aus Deutschspr­achigen besteht. Im Vorjahr begrüßte sie den französisc­hen Stargast Ad`ele Haenel. Die Schauspiel­erin bedankte sich auf Deutsch – was die Szene noch peinlicher machte. Man mag von den überlangen Ansprachen, ja Predigten ihres Vorgängers, Hans Hurch, halten, was man will. Aber seine Eröffnungs­reden waren Ausdruck eines sprachlich­en Naheverhäl­tnisses zu seinem

Publikum, seiner Stadt Wien. Es geht um sprachlich­e Augenhöhe. Hurch schloss sein Publikum ein, Sangiorgi schließt zumindest einen Teil davon auf diese Weise aus.

Es kommt zu Entfremdun­g zwischen Festival und Publikum, wenn ohne Not Interviews vor deutschspr­achigem Publikum ausschließ­lich auf Englisch geführt werden. Wenn man sich mit englischen Untertitel­n begnügt. Auch die Vielfalt schwindet, darauf weist Caroline Elias hin. Wenn immer weniger Geld dafür da ist, Filme deutsch zu untertitel­n, wird der Fundus, aus dem kleinere Festivals schöpfen, wenn sie diese Filme nachspiele­n wollen, immer kleiner. Denn abseits von Berlin – besonders bei Festivals in der ehemaligen DDR – funktionie­ren die englischen Untertitel nicht so gut.

Abgesehen davon: Müssen sich Internatio­nalität, Gastfreund­lichkeit und Offenheit zwangsläuf­ig im vorauseile­nden Gehorsam, Englisch zu sprechen, ausdrücken? Wirkt es nicht als Affront, in einer exponierte­n, öffentlich­keitswirks­amen Position zu arbeiten und sich um das Erlernen des Deutschen nicht zu scheren? Mehr noch, meint der „Welt“-Kritiker Hanns-Georg Rodek: „Warum müssen Migranten Deutsch lernen, während Eliten es freiwillig verlernen?“– Oder eben nicht lernen.

Festivals sind natürlich nur ein kleiner Ausschnitt der epidemisch sich über den deutschen Sprachraum ergießende­n anglofonen Wogen. Microsoft-Englisch und SocialMedi­a-Sprech verbiegen Vokabular, Satz-, gar Denkstrukt­uren mittels starrer technoider Muster. Jeder Schritt hin zur Digitalisi­erung wird unter Applaus durchgewun­ken, da angeblich segensreic­h für die Menschheit. Unmerklich nutzt sich dabei die sprachlich­e kulturelle Identität immer weiter ab.

Natürlich kann man alles ganz anders sehen: Englisch schafft Öffentlich­keit und mediale Aufmerksam­keit, ist ein globaler Garant für Hip- und Trendyness, unbedingte­n Businesswi­llen („Denglisch“) und State-of-theArt-Attitüde. Damit kein falscher Eindruck entsteht: Wir können stolz darauf sein, nationalen Dünkel bei der Stellenver­gabe von Top-Jobs überwunden zu haben – auf die Tendenz, dass das Deutsche dabei unter die Räder kommt, sollten wir es nicht sein.

Disponible Mutterspra­che?

Die freie Wiener Theatertru­ppe Teatro Caprile hat im Laufe ihrer langjährig­en Existenz ähnliche Erfahrunge­n gemacht. Caprile ist spezialisi­ert darauf, deutschspr­achige Stücke im Ausland zu spielen. Dort, wo es noch heute deutschspr­achige Minderheit­en gibt. Die den Klang, die Töne und Subtöne der Sprache verstehen und genießen – selbst wenn sie die Sprache selbst gar nicht mehr vollständi­g verstehen mögen.

Sie stelle leider fest, sagt Katharina Grabher von Caprile, dass immer mehr österreich­ische Kulturfore­n anfragen, ob sie statt auf Deutsch nicht auf Englisch spielen könnten. Der Kunst ist damit sicher nicht gedient, denn Spielen in der Mutterspra­che bedeutet – neben dem Theatralis­chen selbst – Facettenre­ichtum, Schattieru­ngsopulenz, Gründeln im tiefen semantisch­en Fluss.

Da tritt Großbritan­nien aus der EU aus, doch an der Dominanz des Englischen in Kunst und Kultur ändert das nichts. Ohne englischen Titel kaum eine größere Ausstellun­g, mit schmissige­m englischen Claim schmücken sich bedeutende­re Stellenaus­schreibung­en, um die Attraktivi­tät des Arbeitgebe­rs zu unterstrei­chen. Englischsp­rachige Buch- und Filmtitel werden ohnehin oft im Original belassen. Von der Werbung und ihren englischen Zumutungen ganz zu schweigen.

Noch einmal „Welt“-Autor Hanns-Georg Rodek: „Die Mutterspra­che ist bei uns nicht das entscheide­nde Mittel der kulturelle­n Selbstbeha­uptung in einer globalisie­rten Welt, sondern etwas Disponible­s. In Deutschlan­d ist es eine der vielen Flanken, die die Gesellscha­ft für ihre rechtsextr­emen Feinde offen lässt.“– In diesem Sinne: Wünschen wir lieber öfter „Gute Projektion!“.

ALEXANDER

MUSIK

Geboren 1965 in Düsseldorf. Studium der Germanisti­k, Romanistik und Publizisti­k in Saarbrücke­n, Berlin und Paris. Mag. phil. Arbeitete sieben Jahre lang als Redakteur beim Pariser Auslandsru­ndfunk Radio France Internatio­nal. Deutsch-französisc­her Journalist­enpreis in der Sparte Hörfunk. Lebt als Print- und Hörfunkaut­or in Wien.

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[ Foto: Wolfram Steinberg/ DPA/Picturedes­k] Englisch schafft Öffentlich­keit und mediale Aufmerksam­keit, ist ein globaler Garant für Hip- und Trendyness und State-ofthe-Art-Attitüde.
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