Eine Sprache für alle?
Müssen sich Internationalität, Gastfreundlichkeit und Offenheit zwangsläufig im vorauseilenden Gehorsam, Englisch zu sprechen, zeigen? Über das Schwinden des Deutschen nicht nur im Kulturbereich.
Die Bedeutung der Sprache schwindet, stellt Caroline Elias fest. Elias ist eine erfahrene Berliner Festival- und Konferenzdolmetscherin; sie dolmetscht aus dem Französischen ins Deutsche und zurück. Sie kennt die Berlinale, wo sie früher 30 bis 50 Einsätze pro Jahrgang hatte, wie ihre Westentasche: die Pressekonferenzen, die Publikumsgespräche, die Interviews mit den Stars, die Moderationen aus der Fremdsprache. Auch das Problem der Untertitel. Sie bedeuten extrem verdichtete Information, gepresst in maximal zwei Zeilen am unteren Leinwandrand. Jeder Zentimeter zählt: Also auch, lieber schmale Buchstaben wie das „i“zu verwenden als breite wie das „m“. Bei zweisprachigen Untertiteln steht nur eine Zeile pro Sprache zur Verfügung.
Elias’ Berlinale-Aufträge sind um 90 Prozent geschrumpft. Und dann kam auch noch Corona. „Meine wirtschaftliche Grundlage war immer ein Mix aus Konferenzdolmetschen und künstlerischer Übersetzertätigkeit“, schreibt Elias auf ihrem Blog dolmetscher-berlin.blogspot.com. Seit der Pandemie sei sie auf Letzteres zurückgeworfen – ein wirtschaftlich wenig tragfähiges Standbein. Ihr Brotgeschäft findet, wenn überhaupt, online statt, mit all den Einschränkungen, die Zoom-Sitzungen ohne leibhaftige Begegnung so mit sich bringen: kleiner Bildschirm, gestauchte und damit unnatürliche Tonebene, Rauschen, Echos oder Zeitverzögerungen. Immerhin werde die nächste Berlinale im Februar 2021 „physisch stattfinden“, gab die Festivalleitung in einer Aussendung im August bekannt.
Wie wird es weitergehen? Das weiß keiner, aber sicher auf Englisch: Das Englische dominiert, das tat es immer, bloß wird immer weniger davon ins Deutsche übersetzt. Auch deutsch untertitelte Filme gibt es immer weniger zu sehen. Dafür sprechen englischsprachige Moderatoren mit Deutschsprachigen vor Deutschsprachigen einfach Englisch. Beliebt auch die Variante: Deutschsprachige befragen Deutschsprachige vor deutschsprachigem Publikum auf Englisch. In vielen Sektionen der Berlinale werden Publikumsgespräche wie selbstverständlich nur noch auf Englisch abgehalten. Wer kein Englisch kann, traut sich oft nicht, eine Frage auf Deutsch zu stellen. Die meisten Menschen möchten sich nicht blamieren, weil sie dann vielleicht in die Schublade „kleingeistig“gesteckt werden. Oder in die Schublade „rechts“.
Wer Englisch gut kann, taucht hingegen gern ein ins warme anglofone Sprachbad. Sonnt sich als Teil der international crowd. Tummelt sich im Innern der Blase, nicht an der uncoolen Außenhaut. Offiziell wird mit Einsparungen argumentiert. Einsparungen an der Sprache, dafür lieber mehr neue Sektionen und Berlinale-Orte.
Semantisches Glatteis
Es wird dabei in Kauf genommen, dass die Filmgespräche flacher werden, weniger scharfzüngig, weniger ironisch in der Fremdsprache, hat Caroline Elias im Laufe der Jahre festgestellt. Man meidet Fremdwörter mit womöglich unbekanntem (pikantem, beleidigendem) Nebensinn, begibt sich ungern auf semantische Felder, die vielleicht aufs Glatteis führen. Komplexitätsreduktion. Hauptsache, man versteht sich, oder man gibt vor, sich zu verstehen.
Reicht das? Sprache ist doch Identität. Ist Heimat und Leuchtturm. Nuancenreich, nah am Herzen. Warum traut sich keiner mehr, Deutsch zu sprechen beim größten Kulturereignis Deutschlands, der Berlinale?, fragte vor einiger Zeit der Filmredakteur der Berliner „Welt“, Hanns-Georg Rodek, in einem Artikel. Und fügte gleich an: „Bei keinem anderen großen Filmfestival auf dieser Welt würde man auf die Idee kommen, einen solchen Artikel zu schreiben. Es exerziert auch kein Land einen derartigen Sprachenkotau gegenüber dem Englischen.“In Cannes wünscht man „bonne projection“, in Venedig „buona proiezione“. In Berlin: „good screening“. Die meisten werden jetzt wohl denken: Na und! Wenige werden sich bewusst, dass hier ein Kulturverlust zu beklagen ist, der in der Regel unbeklagt bleibt.
Spürt die neue Doppelspitze der Internationalen Filmfestspiele Berlin, der Italiener Carlo Chatrian und die Holländerin Mariette Rissenbeek, diesen Kulturverlust? Carlo Chatrian spricht auf der Eröffnungspressekonferenz – wie auch in allen Interviews mit deutschsprachigen Medien – Englisch. Alle Journalisten folgen brav, erinnert sich die Dolmetscherin Caroline Elias. Bis auf einen, der es wagte, eine Frage auf Deutsch zu stellen, die Mariette Rissenbeek spontan dolmetschte. Alle beide mögen in ihrer Kompetenz und Erfahrung untadelig sein. Ist es aber nicht seltsam, der künstlerische Leiter des wichtigsten deutschen Filmfestivals zu sein und die Landessprache nicht zu sprechen? Eine Österreicherin, ein Deutscher als Präsident(in) von Cannes oder Venedig, ohne Französisch beziehungsweise Italienisch zu beherrschen? Undenkbar.
Genau so ist es in Wien: Eva Sangiorgi, ebenfalls Italienerin, hält die Eröffnungsrede der Viennale auf Englisch, vor einem Publikum, das geschätzt zu 80 Prozent aus Deutschsprachigen besteht. Im Vorjahr begrüßte sie den französischen Stargast Ad`ele Haenel. Die Schauspielerin bedankte sich auf Deutsch – was die Szene noch peinlicher machte. Man mag von den überlangen Ansprachen, ja Predigten ihres Vorgängers, Hans Hurch, halten, was man will. Aber seine Eröffnungsreden waren Ausdruck eines sprachlichen Naheverhältnisses zu seinem
Publikum, seiner Stadt Wien. Es geht um sprachliche Augenhöhe. Hurch schloss sein Publikum ein, Sangiorgi schließt zumindest einen Teil davon auf diese Weise aus.
Es kommt zu Entfremdung zwischen Festival und Publikum, wenn ohne Not Interviews vor deutschsprachigem Publikum ausschließlich auf Englisch geführt werden. Wenn man sich mit englischen Untertiteln begnügt. Auch die Vielfalt schwindet, darauf weist Caroline Elias hin. Wenn immer weniger Geld dafür da ist, Filme deutsch zu untertiteln, wird der Fundus, aus dem kleinere Festivals schöpfen, wenn sie diese Filme nachspielen wollen, immer kleiner. Denn abseits von Berlin – besonders bei Festivals in der ehemaligen DDR – funktionieren die englischen Untertitel nicht so gut.
Abgesehen davon: Müssen sich Internationalität, Gastfreundlichkeit und Offenheit zwangsläufig im vorauseilenden Gehorsam, Englisch zu sprechen, ausdrücken? Wirkt es nicht als Affront, in einer exponierten, öffentlichkeitswirksamen Position zu arbeiten und sich um das Erlernen des Deutschen nicht zu scheren? Mehr noch, meint der „Welt“-Kritiker Hanns-Georg Rodek: „Warum müssen Migranten Deutsch lernen, während Eliten es freiwillig verlernen?“– Oder eben nicht lernen.
Festivals sind natürlich nur ein kleiner Ausschnitt der epidemisch sich über den deutschen Sprachraum ergießenden anglofonen Wogen. Microsoft-Englisch und SocialMedia-Sprech verbiegen Vokabular, Satz-, gar Denkstrukturen mittels starrer technoider Muster. Jeder Schritt hin zur Digitalisierung wird unter Applaus durchgewunken, da angeblich segensreich für die Menschheit. Unmerklich nutzt sich dabei die sprachliche kulturelle Identität immer weiter ab.
Natürlich kann man alles ganz anders sehen: Englisch schafft Öffentlichkeit und mediale Aufmerksamkeit, ist ein globaler Garant für Hip- und Trendyness, unbedingten Businesswillen („Denglisch“) und State-of-theArt-Attitüde. Damit kein falscher Eindruck entsteht: Wir können stolz darauf sein, nationalen Dünkel bei der Stellenvergabe von Top-Jobs überwunden zu haben – auf die Tendenz, dass das Deutsche dabei unter die Räder kommt, sollten wir es nicht sein.
Disponible Muttersprache?
Die freie Wiener Theatertruppe Teatro Caprile hat im Laufe ihrer langjährigen Existenz ähnliche Erfahrungen gemacht. Caprile ist spezialisiert darauf, deutschsprachige Stücke im Ausland zu spielen. Dort, wo es noch heute deutschsprachige Minderheiten gibt. Die den Klang, die Töne und Subtöne der Sprache verstehen und genießen – selbst wenn sie die Sprache selbst gar nicht mehr vollständig verstehen mögen.
Sie stelle leider fest, sagt Katharina Grabher von Caprile, dass immer mehr österreichische Kulturforen anfragen, ob sie statt auf Deutsch nicht auf Englisch spielen könnten. Der Kunst ist damit sicher nicht gedient, denn Spielen in der Muttersprache bedeutet – neben dem Theatralischen selbst – Facettenreichtum, Schattierungsopulenz, Gründeln im tiefen semantischen Fluss.
Da tritt Großbritannien aus der EU aus, doch an der Dominanz des Englischen in Kunst und Kultur ändert das nichts. Ohne englischen Titel kaum eine größere Ausstellung, mit schmissigem englischen Claim schmücken sich bedeutendere Stellenausschreibungen, um die Attraktivität des Arbeitgebers zu unterstreichen. Englischsprachige Buch- und Filmtitel werden ohnehin oft im Original belassen. Von der Werbung und ihren englischen Zumutungen ganz zu schweigen.
Noch einmal „Welt“-Autor Hanns-Georg Rodek: „Die Muttersprache ist bei uns nicht das entscheidende Mittel der kulturellen Selbstbehauptung in einer globalisierten Welt, sondern etwas Disponibles. In Deutschland ist es eine der vielen Flanken, die die Gesellschaft für ihre rechtsextremen Feinde offen lässt.“– In diesem Sinne: Wünschen wir lieber öfter „Gute Projektion!“.
ALEXANDER
MUSIK
Geboren 1965 in Düsseldorf. Studium der Germanistik, Romanistik und Publizistik in Saarbrücken, Berlin und Paris. Mag. phil. Arbeitete sieben Jahre lang als Redakteur beim Pariser Auslandsrundfunk Radio France International. Deutsch-französischer Journalistenpreis in der Sparte Hörfunk. Lebt als Print- und Hörfunkautor in Wien.