Ungezähmtes Leben
Verknäuelte Lebenslinien: Sien Volders verbindet die Geschichte zweier Frauen.
Ein Plot, der sich im Verlauf von drei Jahrzehnten wiederholt: hier die Geschichte der jungen Sarah, dort jene von Mary. Die knapp 30-jährige Sarah steht vor einer großen beruflichen Entscheidung. Bevor sie diese trifft, packt sie ihre Sachen und fährt für ein paar Tage rund 3000 Kilometer mit dem Auto von Vancouver nach Forty Mile, eine ehemalige Goldgräberstadt hoch oben im Norden, nahe der Grenze zu Alaska. Von dieser Reise erhofft sie sich Abstand und Klarheit; dass dieselbe auch einen Wendepunkt in Sarahs Leben bedeutet, scheint vorhersehbar.
Kaum angekommen, scharen sich die Bewohner um Sarah wie die Motten ums Licht. Ladenbesitzerin Mary, knapp 60 Jahre alt, bietet ihr prompt ein Zimmer zum Nächtigen an, Jacob, ein junger Lehrer, lädt sie zu einem Konzert in die Kneipe ein. Jacobs Freund Adam, die zwei treten in der Kneipe auf, ist sofort Feuer und Flamme für Sarah; dieses Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit.
Sarah findet heraus, dass Mary Calhoun eigentlich Marion Goodwin heißt, vor 30 Jahren aufstrebende Künstlerin war, aber der Kunstwelt und ihrem früheren Leben den Rücken gekehrt hat. Als sie in Sarahs Alter war, stand sie wie Sarah vor einer wichtigen Entscheidung; nach einem Sommer oben im Norden wusste sie, was zu tun war. Mary lernte Walker, den Enkel eines Goldgräbers, kennen, der ihr die Gegend zeigte; ebenso lernte sie die Natur kennen und lieben. Er brachte ihr das Jagen bei, und sie durchlebten Wochen in völliger Abgeschiedenheit. Als sie ein Jahr später wiederkehrte, war Walker nicht mehr da; dafür lernte sie Rick kennen, und sie wurde zu Mary. Einzig für Walker, den sie später wiedersah, blieb sie Marion. Dass Walker und Rick eine besondere Freundschaft verband, stellte sie nie infrage.
Sarah erlebt wie Mary viele Jahre vor ihr einen wunderbaren Sommer in der Natur, das ungezähmte Leben abseits von Arbeit, Trubel und Zivilisation; und wie Mary steht sie zwischen zwei Männern, um deren Freundschaft und Wohlergehen sie sich sorgt.
Desillusionierung im Süden
Indes erträgt Adam die anhaltende Stille und den langen Winter im Norden nicht, er hat zu wenig Arbeit, seine Musik bietet ihm nicht die nötige Unterstützung, so wendet er sich dem Alkohol zu. Die Dorfbewohner, allen voran sein Freund Jacob, versuchen ihn davon abzubringen, aber es hilft nichts. Sein Besuch bei Sarah in Vancouver, als er als Studiomusiker engagiert wird, wirft ihn völlig aus der Bahn. Er erkennt, dass sie eine arrivierte Silberschmiedin ist und es bereits zu einigem Erfolg, auch finanziell, gebracht hat. Sie ist eine unabhängige junge Frau, die ihren Weg geht und etwas vorzuweisen hat; er dagegen hat nichts außer seiner Musik, die ihm wenig bis gar nichts einbringt.
Letztlich schlägt das Schicksal wie immer allen ein Schnippchen: Die Lebenslinien verknäulen sich in wilden Bahnen weiter, und Sarah, existenziell abgesichert, wird Mutter eines kleinen Mädchens.
Ein ruhiges Buch über die Suche nach Entscheidungen und Fragen übers Leben, die nie endgültig beantwortet werden. Wenngleich etwas konstruiert und gewollt mystisch, schafft es Sien Volders dennoch über große Teile, den Leser in die Stille, Weite und den Bann dieses nördlichsten Teils Kanadas zu ziehen. Dorthin, wo noch die Natur den Rhythmus der Menschen diktiert – die diesem nicht immer standhalten.