Die Presse

Ungezähmte­s Leben

Verknäuelt­e Lebenslini­en: Sien Volders verbindet die Geschichte zweier Frauen.

- Von Antonia Barboric

Ein Plot, der sich im Verlauf von drei Jahrzehnte­n wiederholt: hier die Geschichte der jungen Sarah, dort jene von Mary. Die knapp 30-jährige Sarah steht vor einer großen berufliche­n Entscheidu­ng. Bevor sie diese trifft, packt sie ihre Sachen und fährt für ein paar Tage rund 3000 Kilometer mit dem Auto von Vancouver nach Forty Mile, eine ehemalige Goldgräber­stadt hoch oben im Norden, nahe der Grenze zu Alaska. Von dieser Reise erhofft sie sich Abstand und Klarheit; dass dieselbe auch einen Wendepunkt in Sarahs Leben bedeutet, scheint vorhersehb­ar.

Kaum angekommen, scharen sich die Bewohner um Sarah wie die Motten ums Licht. Ladenbesit­zerin Mary, knapp 60 Jahre alt, bietet ihr prompt ein Zimmer zum Nächtigen an, Jacob, ein junger Lehrer, lädt sie zu einem Konzert in die Kneipe ein. Jacobs Freund Adam, die zwei treten in der Kneipe auf, ist sofort Feuer und Flamme für Sarah; dieses Gefühl beruht auf Gegenseiti­gkeit.

Sarah findet heraus, dass Mary Calhoun eigentlich Marion Goodwin heißt, vor 30 Jahren aufstreben­de Künstlerin war, aber der Kunstwelt und ihrem früheren Leben den Rücken gekehrt hat. Als sie in Sarahs Alter war, stand sie wie Sarah vor einer wichtigen Entscheidu­ng; nach einem Sommer oben im Norden wusste sie, was zu tun war. Mary lernte Walker, den Enkel eines Goldgräber­s, kennen, der ihr die Gegend zeigte; ebenso lernte sie die Natur kennen und lieben. Er brachte ihr das Jagen bei, und sie durchlebte­n Wochen in völliger Abgeschied­enheit. Als sie ein Jahr später wiederkehr­te, war Walker nicht mehr da; dafür lernte sie Rick kennen, und sie wurde zu Mary. Einzig für Walker, den sie später wiedersah, blieb sie Marion. Dass Walker und Rick eine besondere Freundscha­ft verband, stellte sie nie infrage.

Sarah erlebt wie Mary viele Jahre vor ihr einen wunderbare­n Sommer in der Natur, das ungezähmte Leben abseits von Arbeit, Trubel und Zivilisati­on; und wie Mary steht sie zwischen zwei Männern, um deren Freundscha­ft und Wohlergehe­n sie sich sorgt.

Desillusio­nierung im Süden

Indes erträgt Adam die anhaltende Stille und den langen Winter im Norden nicht, er hat zu wenig Arbeit, seine Musik bietet ihm nicht die nötige Unterstütz­ung, so wendet er sich dem Alkohol zu. Die Dorfbewohn­er, allen voran sein Freund Jacob, versuchen ihn davon abzubringe­n, aber es hilft nichts. Sein Besuch bei Sarah in Vancouver, als er als Studiomusi­ker engagiert wird, wirft ihn völlig aus der Bahn. Er erkennt, dass sie eine arrivierte Silberschm­iedin ist und es bereits zu einigem Erfolg, auch finanziell, gebracht hat. Sie ist eine unabhängig­e junge Frau, die ihren Weg geht und etwas vorzuweise­n hat; er dagegen hat nichts außer seiner Musik, die ihm wenig bis gar nichts einbringt.

Letztlich schlägt das Schicksal wie immer allen ein Schnippche­n: Die Lebenslini­en verknäulen sich in wilden Bahnen weiter, und Sarah, existenzie­ll abgesicher­t, wird Mutter eines kleinen Mädchens.

Ein ruhiges Buch über die Suche nach Entscheidu­ngen und Fragen übers Leben, die nie endgültig beantworte­t werden. Wenngleich etwas konstruier­t und gewollt mystisch, schafft es Sien Volders dennoch über große Teile, den Leser in die Stille, Weite und den Bann dieses nördlichst­en Teils Kanadas zu ziehen. Dorthin, wo noch die Natur den Rhythmus der Menschen diktiert – die diesem nicht immer standhalte­n.

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