Per Fahrrad zu den drei Hasen in Mariazell
Niederösterreich/Steiermark. Auf dem Traisental-Radweg erfährt man Industriegeschichte, Gastfreundschaft an Regentagen und dann, am Ziel, leuchtet aus dunkelgrauen schweren Wolken ein Sonnenstrahl auf die Basilika.
Am besten unter der Brücke durch und dann rechts. Ihr könnt aber auch durchs Regierungsviertel fahren“, antwortet ein freundlicher Radler auf die Frage, wie man vom Bahnhof St. Pölten zum Traisental-Radweg kommt. Bald ist er schon zu sehen, der lang geschwungene Glasbau der niederösterreichischen Landesregierung. Gegen Mittag verbringen viele Menschen ihre Pause auf den Stufen hinunter zur Traisen. Ein Schild informiert die Radler: Mariazell, 88 Kilometer. Bis zur Pause und Jause heißt es in die Pedale treten.
Den Windungen der Traisen folgend geht es flussaufwärts. Bald ist klar: Hier kann man getrost analog radeln – also ohne GPS. Tafeln und große Pfeile auf dem Boden zeigen an, wenn die Route irgendwo abbiegt oder die Uferseite wechselt. Die Berge kommen ab Wilhelmsburg näher, der Radweg steigt langsam an und führt auf schmalen Nebenstraßen an Bauernhöfen vorbei, wo Anfang September die Mostäpfel reifen.
Ein Kleinkraftwerk nach dem anderen macht neugierig, manche stehen im Fluss, manche an seitlich abgeleiteten Kanälen. Einige scheinen relativ alt, doch beim Näherkommen hört man das Summen von Motoren oder Maschinen aus den danebenstehenden Gebäuden. Sägewerke oder Tischlereien nutzen die aus Wasserkraft erzeugte Energie. Viktor Kaplan, der Erfinder aus Mürzzuschlag, hat das möglich gemacht, seine Turbine treibt den Generator zur Stromerzeugung an, erklärt eine Schautafel.
Picknick in Lilienfeld
Auch die Metallverarbeitung nützt das Flusswasser, die Industrie hat hier Tradition; rund um den Ort Traisen tauchen Firmennamen mit Geschichte auf, aus einem Hammerwerk ist in 240 Jahren ein weltweit tätiger Aluminiumproduzent geworden. Wirtschaft und Geschichte einer Region werden greifbar, wenn man mit dem Rad in mäßigem Tempo auf Nebenstraßen unterwegs ist und jederzeit stehen bleiben und schauen kann.
Das Zisterzienserstift in Lilienfeld lädt ein, abzusteigen und vor schöner Kulisse zu picknicken; der Ort ist die Heimat von Mathias Zdarsky, dem Urvater des Skisports in Österreich. Dann wird das Tal zwischen Schrambach und Freiland enger. Immer wieder gibt es kleine Bergwertungen, wenn ein Gehöft umfahren werden muss, dafür geht’s mit Schwung wieder bergab. Das stete langsame Vorankommen ermöglicht kleine Beobachtungen: Warum haben manche Einfamilienhäuser bunte blühende Gärten, während andere allein mitten auf der Wiese hinter hohen Thujen stehen? Auf den nächsten Kilometern ist Muße, darüber zu sinnieren.
Die Wolken werden dichter und kündigen Regen an – höchste Zeit, ein Quartier zu finden. Sankt Aegyd am Neuwalde begrüßt am Ortsanfang die Radtouristen mit einem Hinweisschild über seine Gaststätten. Es ist Montag, so reduziert sich wegen der Ruhetage die Auswahl von drei auf eins: Der Gasthof Blumentritt hat als einziger offen, allerdings dann gleich am Dienstag Ruhetag. Kein Problem für die Wirtin, im Gegenteil: „Morgen wird es schütten, also könnt ihr bleiben, so lang ihr wollt, denn wir haben zu, so kommen keine neuen Gäste.“Ein wunderbares Angebot – hier bestätigt sich wieder die Erfahrung, dass Radfahrern gern geholfen wird.
Das Blumentritt ist bekannt für sein Essen, und so krönt ein Gourmet-Menü die 50-Kilometer-Fahrt: Frittatensuppe mit viel fein geschnittenem Gemüse, gefolgt von einem St. Aegyder Junghirschgulasch mit Semmelknödeln. Als Durstlöscher hat die Wirtin ein neues Angebot: „Im Corona-Lockdown haben wir Zeit gehabt, da haben wir erstmals probiert, Löwenzahnsaft selbst zu machen.“
Der nächste Morgen ist kalt, der Himmel hat seine Schleusen geöffnet. Nach gemütlich langem Schlaf steht wie vereinbart das Frühstück zum Selfservice in der Gaststube, ein kleiner Kühlschrank birgt Milch, Butter und Käse. Der Rundgang durch den Ort ist kurz: Das Altarbild in der Kirche ist von Martin Johann Schmidt, der „Kremser Schmidt“genannte Maler lebte in Stein an der Donau und arbeitete in vielen Kirchen und Klöstern der Umgebung. Das lokale Museum ist geschlossen, der Pranger auf dem Hauptplatz wird im Vorbeigehen gewürdigt – dann schnell zurück ins Trockene.
350 Höhenmeter aufs Gscheid
Bis zu 15 Millimeter Regen pro Stunde sagt die Wetter-App voraus, der Blick aus dem Fenster sagt das Gleiche. Es wird Zeit, über Alternativen nachzudenken. Auch der Beginn der nächsten Etappe Richtung Mariazell motiviert dazu, denn eine 350 Höhenmeter starke Steigung wartet auf das Gscheid hinauf, noch dazu auf der Bundesstraße. Das scheint eher eine Strecke für E-Bikes oder Mountainbikes mit vielen Gängen zu sein, kaum aber für stadttaugliche Räder mit schweren Packtaschen. Die Blumentritt-Wirtin hat schon am Vorabend vorsorglich die Telefonnummer des örtlichen Taxi- und Busunternehmers aufgeschrieben, nun wird angerufen. Ab 15 Uhr soll der Regen nachlassen – Herr Schweiger kommt gern mit seinem Radtransporter, um die Gäste aufs Gscheid hinaufzufahren.
Pünktlich ist Manfred Schweiger da, als er die Türen des Radanhängers öffnet, riecht es herrlich nach frischem Holz, wie in einer Tischlerei. Das Tischlerhandwerk ist auch zu sehen, denn der Rahmen, auf dem die Räder für den Transport aufgehängt werden, ist wunderschön gezimmert. „Es gibt immer mehr Radtourismus hier, und während des Lockdowns habe ich als Busunternehmer viel Zeit gehabt, das Geld war aber knapp. So dachte ich mir, ich kann das selbst bauen“, lacht der Unternehmer. Die Straße aufs Gscheid ist steil, die Entscheidung für das Radtaxi war goldrichtig. Oben angekommen schüttet es weiter, doch egal – Mariazell soll mit eigener Pedalkraft erreicht werden, es warten noch etwa 25 Kilometer.
Trotz Regenjacke und Rainlegs kriechen bald Nässe und Kälte ins
Innere, Schuhe und Socken sind sowieso schon durchweicht. Kurze Pause bei einem kleinen Unterstand, Nebel zieht herauf, schwer hängen die triefnassen Äste der Fichten, November-Feeling Anfang September. Doch da tut sich eine blaue Lücke am Himmel auf, weiter geht’s, und schon lacht wieder das Radlerherz in dieser einsamen romantischen Waldlandschaft.
Dunkelgrüner Hubertussee
Je näher an Mariazell, desto mehr Kapellen und Bildstöcke stehen entlang der Straße. Immer wieder zweigen Wanderwege ab für die Pilger zur Fuß, doch an diesem Regentag ist niemand zu sehen. Das weiß wohl auch die Wuchtlwirtin, die Manfred Schweiger empfohlen hatte – ihre Hütte ist geschlossen. Der dunkelgrüne Hubertussee, umrahmt von dunkelgrünem Wald, Kirche und Kapellen, lädt zu einer Rast; jetzt hat es auch zu regnen aufgehört.
Im Fahrtwind bergab trocknen die Hosenbeine. Von den Hängen rinnt überall das Wasser, einige Wiesen sind überflutet. Vor Mariazell wartet noch eine letzte Prüfung: ein paar steile Kehren bergauf. Dann leuchtet es auf, das Schild „Grüß Gott in Mariazell“quer über die Straße. Wie bei einem Zieltransparent tritt jeder in die Pedale und radelt vergnügt darunter durch, eine Faust in die Höhe gestreckt wie die Radprofis bei den Rennen.
Die Hinweise auf die Parkordnung für Autos können die Radler ignorieren. Auch hier haben etliche Gasthäuser geschlossen. „Die großen Wallfahrergruppen fehlen uns heuer wegen Corona“, sagt eine Verkäuferin, die ihr Standl mit Andenken und Ansichtskarten vor der Basilika gerade zusperrt.
Plötzlich dringt ein Sonnenstrahl durch die schweren dunkelgrauen Wolken und beleuchtet wie ein Scheinwerfer die rosa-weiße Basilika, die Bürgerhäuser daneben verschwinden im Schlagschatten. Was für eine imposant inszenierte Begrüßung des Wallfahrtsorts.
Im Hotel beweisen die Packtaschen, dass sie ihre Wasserprobe bestanden haben: Wechselgewand und Ersatzschuhe sind staubtrocken. Während die nassen Schuhe mit Zeitung ausgestopft langsam wieder trocknen, tischt das Wirtshaus Zu den drei Hasen regionale Küche auf. Den internationalen Touch geben die entlang der Wand aufgereihten Whiskyflaschen in der Gaststube. Dort feiern einige Wandergruppen ihre Ankunft in Mariazell und langen beim Essen richtig zu.
Wer in Coronazeiten die Basilika besichtigen will, sollte das vor dem Frühstück tun, vielleicht muss man später wegen der Zutrittsbeschränkungen länger warten. Gegen halb neun ist der Vorplatz der Kirche jedoch menschenleer, in der Basilika sind gezählte vier weitere Besucher. Vor dem Gnadenaltar in der Mitte kniet ein junger Mönch in brauner Kutte und festen Schuhen. Als ein anderer Gläubiger geht, wähnt er sich wohl allein und holt aus dem Rucksack sein Smartphone. Der Mönch steigt hinter die Brüstung und macht dort eine Reihe von Selfies vor dem Gnadenbild der Gottesmutter. Jeder freut sich auf seine Weise, den Weg bis Mariazell geschafft zu haben.