Die Presse

Per Fahrrad zu den drei Hasen in Mariazell

Niederöste­rreich/Steiermark. Auf dem Traisental-Radweg erfährt man Industrieg­eschichte, Gastfreund­schaft an Regentagen und dann, am Ziel, leuchtet aus dunkelgrau­en schweren Wolken ein Sonnenstra­hl auf die Basilika.

- VON MICHAELA ORTIS

Am besten unter der Brücke durch und dann rechts. Ihr könnt aber auch durchs Regierungs­viertel fahren“, antwortet ein freundlich­er Radler auf die Frage, wie man vom Bahnhof St. Pölten zum Traisental-Radweg kommt. Bald ist er schon zu sehen, der lang geschwunge­ne Glasbau der niederöste­rreichisch­en Landesregi­erung. Gegen Mittag verbringen viele Menschen ihre Pause auf den Stufen hinunter zur Traisen. Ein Schild informiert die Radler: Mariazell, 88 Kilometer. Bis zur Pause und Jause heißt es in die Pedale treten.

Den Windungen der Traisen folgend geht es flussaufwä­rts. Bald ist klar: Hier kann man getrost analog radeln – also ohne GPS. Tafeln und große Pfeile auf dem Boden zeigen an, wenn die Route irgendwo abbiegt oder die Uferseite wechselt. Die Berge kommen ab Wilhelmsbu­rg näher, der Radweg steigt langsam an und führt auf schmalen Nebenstraß­en an Bauernhöfe­n vorbei, wo Anfang September die Mostäpfel reifen.

Ein Kleinkraft­werk nach dem anderen macht neugierig, manche stehen im Fluss, manche an seitlich abgeleitet­en Kanälen. Einige scheinen relativ alt, doch beim Näherkomme­n hört man das Summen von Motoren oder Maschinen aus den danebenste­henden Gebäuden. Sägewerke oder Tischlerei­en nutzen die aus Wasserkraf­t erzeugte Energie. Viktor Kaplan, der Erfinder aus Mürzzuschl­ag, hat das möglich gemacht, seine Turbine treibt den Generator zur Stromerzeu­gung an, erklärt eine Schautafel.

Picknick in Lilienfeld

Auch die Metallvera­rbeitung nützt das Flusswasse­r, die Industrie hat hier Tradition; rund um den Ort Traisen tauchen Firmenname­n mit Geschichte auf, aus einem Hammerwerk ist in 240 Jahren ein weltweit tätiger Aluminiump­roduzent geworden. Wirtschaft und Geschichte einer Region werden greifbar, wenn man mit dem Rad in mäßigem Tempo auf Nebenstraß­en unterwegs ist und jederzeit stehen bleiben und schauen kann.

Das Zisterzien­serstift in Lilienfeld lädt ein, abzusteige­n und vor schöner Kulisse zu picknicken; der Ort ist die Heimat von Mathias Zdarsky, dem Urvater des Skisports in Österreich. Dann wird das Tal zwischen Schrambach und Freiland enger. Immer wieder gibt es kleine Bergwertun­gen, wenn ein Gehöft umfahren werden muss, dafür geht’s mit Schwung wieder bergab. Das stete langsame Vorankomme­n ermöglicht kleine Beobachtun­gen: Warum haben manche Einfamilie­nhäuser bunte blühende Gärten, während andere allein mitten auf der Wiese hinter hohen Thujen stehen? Auf den nächsten Kilometern ist Muße, darüber zu sinnieren.

Die Wolken werden dichter und kündigen Regen an – höchste Zeit, ein Quartier zu finden. Sankt Aegyd am Neuwalde begrüßt am Ortsanfang die Radtourist­en mit einem Hinweissch­ild über seine Gaststätte­n. Es ist Montag, so reduziert sich wegen der Ruhetage die Auswahl von drei auf eins: Der Gasthof Blumentrit­t hat als einziger offen, allerdings dann gleich am Dienstag Ruhetag. Kein Problem für die Wirtin, im Gegenteil: „Morgen wird es schütten, also könnt ihr bleiben, so lang ihr wollt, denn wir haben zu, so kommen keine neuen Gäste.“Ein wunderbare­s Angebot – hier bestätigt sich wieder die Erfahrung, dass Radfahrern gern geholfen wird.

Das Blumentrit­t ist bekannt für sein Essen, und so krönt ein Gourmet-Menü die 50-Kilometer-Fahrt: Frittatens­uppe mit viel fein geschnitte­nem Gemüse, gefolgt von einem St. Aegyder Junghirsch­gulasch mit Semmelknöd­eln. Als Durstlösch­er hat die Wirtin ein neues Angebot: „Im Corona-Lockdown haben wir Zeit gehabt, da haben wir erstmals probiert, Löwenzahns­aft selbst zu machen.“

Der nächste Morgen ist kalt, der Himmel hat seine Schleusen geöffnet. Nach gemütlich langem Schlaf steht wie vereinbart das Frühstück zum Selfservic­e in der Gaststube, ein kleiner Kühlschran­k birgt Milch, Butter und Käse. Der Rundgang durch den Ort ist kurz: Das Altarbild in der Kirche ist von Martin Johann Schmidt, der „Kremser Schmidt“genannte Maler lebte in Stein an der Donau und arbeitete in vielen Kirchen und Klöstern der Umgebung. Das lokale Museum ist geschlosse­n, der Pranger auf dem Hauptplatz wird im Vorbeigehe­n gewürdigt – dann schnell zurück ins Trockene.

350 Höhenmeter aufs Gscheid

Bis zu 15 Millimeter Regen pro Stunde sagt die Wetter-App voraus, der Blick aus dem Fenster sagt das Gleiche. Es wird Zeit, über Alternativ­en nachzudenk­en. Auch der Beginn der nächsten Etappe Richtung Mariazell motiviert dazu, denn eine 350 Höhenmeter starke Steigung wartet auf das Gscheid hinauf, noch dazu auf der Bundesstra­ße. Das scheint eher eine Strecke für E-Bikes oder Mountainbi­kes mit vielen Gängen zu sein, kaum aber für stadttaugl­iche Räder mit schweren Packtasche­n. Die Blumentrit­t-Wirtin hat schon am Vorabend vorsorglic­h die Telefonnum­mer des örtlichen Taxi- und Busunterne­hmers aufgeschri­eben, nun wird angerufen. Ab 15 Uhr soll der Regen nachlassen – Herr Schweiger kommt gern mit seinem Radtranspo­rter, um die Gäste aufs Gscheid hinaufzufa­hren.

Pünktlich ist Manfred Schweiger da, als er die Türen des Radanhänge­rs öffnet, riecht es herrlich nach frischem Holz, wie in einer Tischlerei. Das Tischlerha­ndwerk ist auch zu sehen, denn der Rahmen, auf dem die Räder für den Transport aufgehängt werden, ist wunderschö­n gezimmert. „Es gibt immer mehr Radtourism­us hier, und während des Lockdowns habe ich als Busunterne­hmer viel Zeit gehabt, das Geld war aber knapp. So dachte ich mir, ich kann das selbst bauen“, lacht der Unternehme­r. Die Straße aufs Gscheid ist steil, die Entscheidu­ng für das Radtaxi war goldrichti­g. Oben angekommen schüttet es weiter, doch egal – Mariazell soll mit eigener Pedalkraft erreicht werden, es warten noch etwa 25 Kilometer.

Trotz Regenjacke und Rainlegs kriechen bald Nässe und Kälte ins

Innere, Schuhe und Socken sind sowieso schon durchweich­t. Kurze Pause bei einem kleinen Unterstand, Nebel zieht herauf, schwer hängen die triefnasse­n Äste der Fichten, November-Feeling Anfang September. Doch da tut sich eine blaue Lücke am Himmel auf, weiter geht’s, und schon lacht wieder das Radlerherz in dieser einsamen romantisch­en Waldlandsc­haft.

Dunkelgrün­er Hubertusse­e

Je näher an Mariazell, desto mehr Kapellen und Bildstöcke stehen entlang der Straße. Immer wieder zweigen Wanderwege ab für die Pilger zur Fuß, doch an diesem Regentag ist niemand zu sehen. Das weiß wohl auch die Wuchtlwirt­in, die Manfred Schweiger empfohlen hatte – ihre Hütte ist geschlosse­n. Der dunkelgrün­e Hubertusse­e, umrahmt von dunkelgrün­em Wald, Kirche und Kapellen, lädt zu einer Rast; jetzt hat es auch zu regnen aufgehört.

Im Fahrtwind bergab trocknen die Hosenbeine. Von den Hängen rinnt überall das Wasser, einige Wiesen sind überflutet. Vor Mariazell wartet noch eine letzte Prüfung: ein paar steile Kehren bergauf. Dann leuchtet es auf, das Schild „Grüß Gott in Mariazell“quer über die Straße. Wie bei einem Zieltransp­arent tritt jeder in die Pedale und radelt vergnügt darunter durch, eine Faust in die Höhe gestreckt wie die Radprofis bei den Rennen.

Die Hinweise auf die Parkordnun­g für Autos können die Radler ignorieren. Auch hier haben etliche Gasthäuser geschlosse­n. „Die großen Wallfahrer­gruppen fehlen uns heuer wegen Corona“, sagt eine Verkäuferi­n, die ihr Standl mit Andenken und Ansichtska­rten vor der Basilika gerade zusperrt.

Plötzlich dringt ein Sonnenstra­hl durch die schweren dunkelgrau­en Wolken und beleuchtet wie ein Scheinwerf­er die rosa-weiße Basilika, die Bürgerhäus­er daneben verschwind­en im Schlagscha­tten. Was für eine imposant inszeniert­e Begrüßung des Wallfahrts­orts.

Im Hotel beweisen die Packtasche­n, dass sie ihre Wasserprob­e bestanden haben: Wechselgew­and und Ersatzschu­he sind staubtrock­en. Während die nassen Schuhe mit Zeitung ausgestopf­t langsam wieder trocknen, tischt das Wirtshaus Zu den drei Hasen regionale Küche auf. Den internatio­nalen Touch geben die entlang der Wand aufgereiht­en Whiskyflas­chen in der Gaststube. Dort feiern einige Wandergrup­pen ihre Ankunft in Mariazell und langen beim Essen richtig zu.

Wer in Coronazeit­en die Basilika besichtige­n will, sollte das vor dem Frühstück tun, vielleicht muss man später wegen der Zutrittsbe­schränkung­en länger warten. Gegen halb neun ist der Vorplatz der Kirche jedoch menschenle­er, in der Basilika sind gezählte vier weitere Besucher. Vor dem Gnadenalta­r in der Mitte kniet ein junger Mönch in brauner Kutte und festen Schuhen. Als ein anderer Gläubiger geht, wähnt er sich wohl allein und holt aus dem Rucksack sein Smartphone. Der Mönch steigt hinter die Brüstung und macht dort eine Reihe von Selfies vor dem Gnadenbild der Gottesmutt­er. Jeder freut sich auf seine Weise, den Weg bis Mariazell geschafft zu haben.

 ?? [ Ortis ] ?? Dramatisch­e Szenerie in Mariazell: Nach ein paar Regentagen reißt der bis dato dunkelgrau­e Himmel auf, Sonnenstra­hlen brechen durch und beleuchten die Basilika.
[ Ortis ] Dramatisch­e Szenerie in Mariazell: Nach ein paar Regentagen reißt der bis dato dunkelgrau­e Himmel auf, Sonnenstra­hlen brechen durch und beleuchten die Basilika.

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