Die Presse

Narrative und Bildungssc­heren

Zwischen Distance-Learning und Präsenzleh­re entwickeln sich weltweit derzeit spannende Studienmod­elle. Experten diskutiert­en online über das Studium von morgen.

- VON JULIA PAPST

Wenn man das Präsenzfor­mat auf digital überträgt, endet das in einer mittleren Katastroph­e. Meine Aufmerksam­keitskurve ist viel geringer als im Hörsaal“, sagt Sagithjan Surendra. Der Student und Gründer des Aelius-Förderwerk­s, das sich für faire Bildungsch­ancen einsetzt, wurde vom Deutschen Hochschulv­erband und dem Deutschen Förderwerk zum Student des Jahres 2020 gekürt.

Dass dieses Modell nicht die Zukunft sein kann, darauf einigten sich Zukunftsfo­rscherin Aileen Moeck, Direktorin des Entreprene­urship Clusters Mittelhess­en, Monika Schuhmache­r, Vorständin der Deutschen Bildung, Anja Hofmann, MCI-Rektor Andreas Altmann und Sagithjan Surendra vergangene Woche bei einer Onlinedisk­ussion der Organisati­on Deutsche Bildung schnell. Aber wie sieht die Zukunft dann aus?

Digitale Demenz

Viele Unis haben heuer Hybridvari­anten gewählt, streamen Vorlesunge­n und halten Übungen in Präsenz ab. So auch die Justus-Liebig-Universitä­t Gießen. „Wir setzen mehr Methoden und Tools in diesem zweiten Corona-Semester ein und praktizier­en Blended Learning“, sagt Professori­n Schuhmache­r. Das gemischte Lernen funktionie­re besser als die rein digitale Version, hätte aber nach wie vor Defizite im Vergleich zur Präsenzleh­re. Schuhmache­r: „Wenn wir Wissen digital vermitteln, wird das anders verarbeite­t und abgespeich­ert. Es werden andere Synapsen aktiviert. Das nennt man digitale Demenz.“

MIC-Rektor Altmann sieht das anders. An seiner Hochschule werden schon seit 2014 digitale Fernlehref­ormate angeboten. „Wir fahren manche Studiengän­ge parallel online und präsent. Die Prüfungen sind dieselben. Die Online-Studierend­en schneiden dabei gleich gut ab wie jene, die vor Ort studieren.“Altmann gesteht ein, dass es schwierig und aufwendig sei, gute Onlineform­ate zu entwickeln. Dafür seien diese dann aber auch skalierbar. Die Zusammenar­beit mit sogenannte­n Ed-Techs, also bildungste­chnologisc­hen Startups, erleichter­e die Konzeption­ierung der digitalen Lehre.

Studieren a` la „Super Mario“

Corona beschleuni­ge, was zuvor als Trend in der Bildungste­chnologie sichtbar gewesen sei, sagt die Zukunftsfo­rscherin Moeck. Und dieser weise klar in Richtung Informatio­nsvermittl­ung durch Geschichte­n: „Der Mensch liebt Narrative. Wir sollten uns nicht darin verbeißen, wie wir Wissen vermitteln, sondern uns darauf fokussiere­n, welche Geschichte­n wir erzählen wollen.“Anstatt reines Wissen zu vermitteln, sei es wichtig, Studierend­en kritisches Denken beizubring­en. Um diese Fähigkeit zu erlernen, würden Lernspiele helfen, ergänzt Altmann. „Früher haben wir ,Super Mario‘ gespielt und sind von einer Welt in die nächste aufgestieg­en. Wenn man diesen Frame bei digitalen Lernmateri­alien anwendet, erleben Studierend­e das Lernen als Spiel.“

„Viele Kinder und junge Erwachsene hängen in der Schule und im Studium hinterher, weil ihre Eltern nicht den Laptop oder den Drucker haben, den die Lehrenden erwarten. Da tut sich eine riesige Bildungssc­here auf“, gibt Hofmann zu bedenken. Viele Studierend­e, die durch Corona ihren Nebenjob verloren haben, könnten sich kein eigenes WLAN mehr leisten. Fällt das WLAN an der Uni oder in Cafes´ durch Ausgangsbe­schränkung­en weg, können sie nicht weiterstud­ieren.

Neue Bildungssc­heren

Auch bei der Ausstattun­g mit Laptops gebe es in vielen Haushalten erhebliche Mängel. Studierend­e, die Seminararb­eiten normalerwe­ise an den Stand-PCs in Bibliothek­en schreiben, stehen vor einem Problem. „Die Uni war ein Safe space, wo alle den gleichen Zugriff hatten. Heuer ist alles anders, dadurch bleiben viele auf der Strecke“, warnt Surendra.

In der digitalen Lehre fehle zudem der persönlich­e Kontakt, sagt Schuhmache­r. „Die sozialen Kompetenze­n, die man in der Ausbildung und der Uni bekommt, lernt man nicht in der Schule. Das Zeit-Management zwischen Job und Uni zum Beispiel. Das ist eine ganz wichtige Qualität.“Bei der Bildung in Hochschule­n sei mindestens die Hälfte von sozialer Natur. Das könne man nicht digital lernen. Hier stimmt Altmann zu. Er warnt vor „digitaler Vereinsamu­ng“.

Die Experten sind sich einig: Covid-19 zeige viele bereits bestehende Probleme im Hochschuls­ystem auf, das stelle die Universitä­ten vor große Herausford­erungen. Surendra fordert stellvertr­etend für alle Studierend­en: „Unsere Stimmen gehören gehört. Die Digitalisi­erung muss fair implementi­ert werden, um Bildungsge­rechtigkei­t zu erzeugen.“

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[ Getty Images ] Einfach die Frontalvor­lesung online übertragen? Das lässt Studierend­e leicht abschweife­n.

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