Utopien und Apokalypsen. Ein Bild von der Zukunft – aber welches?
Der Erfindung der Zukunft in der Literatur widmet das Literaturmuseum der Östeerreichischen Nationalbibliothek eine inspirierende Schau.
Was sagt uns die Literatur über die Zukunft? Müssen wir in einer Welt, die im Sekundentakt Neues für uns bereithält, gerade in der Literatur und in den Künsten nach Ankerpunkten, nach großen, langfristig gedachten Visionen suchen? Der Blick auf literarische Utopien der Vergangenheit verdeutlicht, mit welcher Weitsicht mancher Autor weit über seine Gegenwart hinaus treffsicher in die Zukunft geblickt hat. Die Ausstellung „Utopien und Apokalypsen. Die Erfindung der Zukunft in der Literatur“stellt Utopien und dunkle Zukunftsbilder, Technikphantasien und Weltuntergangsszenarien, die in der Literatur entworfen wurden, ins Zentrum. Sie zeigt, dass Utopien und Apokalypsen zusammengehören, beide fordern Neues, erstere formen alternative Gesellschaften, letztere berichten vom Ende der Welt, das nach dem Vorbild der biblischen Apokalypse in der Offenbarung des Johannes aber auch der Beginn einer neuen Ordnung sein kann. Von Poesie bis Dystopie Poetische Erkundungen der Zukunft, etwa in den Gedichten von Ernst Jandl oder Reinhard Priessnitz finden hier ebenso ihren Platz wie Texte, die sich mit visionären Maschinenwelten und künstlicher Intelligenz beschäftigen. Manuskripte, Bücher, Objekte aus den Beständen der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB), insbesondere des Literaturarchivs, und ausgewählte Leihgaben ergeben ein zukunftsreiches Panorama. Autoren wie Ingeborg Bachmann, Erich Fried, Elfriede Gerstl, Peter Handke, Christoph Ransmayr oder Oswald Wiener und in Ergänzung dazu internationale utopische Literatur: wie etwa der groteskdunkle Science-Fiction-Roman „Der Krieg mit den Molchen“des tschechischen Autors Karel Čapek, der als Erfinder des Wortes „Roboter“gilt. Worte wie dieses sind uns allgegenwärtig geworden, ähnlich der von George Orwell in seinem 1949 erschienenen Roman „1984“entworfenen Welt, in der ein feinmaschiges
Netz aus technischen Apparaturen, Überwachungskameras und Bildschirmen den Alltag durchzieht. Zurück in die Zukunft Wie stark der gesellschaftliche und nicht zuletzt auch sprachliche Einfluss der „Zukunftsschreiber“auf die reale Welt ist, zeigt eindrücklich die „Zukunftsbibliothek“der Schau: Sie spannt den Bogen vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart und zeigt eine Buchausgabe von Thomas Morus’ „Utopia“aus dem Jahre 1518, in dem im philosophischen Dialog jener Inselstaat erschaffen wurde, dessen Name sich zumindest in der sprachlichen Landkarte für immer eingeschrieben hat – die Utopie. Ganz ähnlich auch die feministische ScienceFiction, die viele Jahrhunderte später auf ganz anderer Ebene noch längst nicht zu Ende diskutiert ist: So schuf im 15. Jahrhundert Christine de Pizan die Utopie einer „Stadt der Frauen“, und auch die US-amerikanische Autorin Charlotte Perkins Gilman oder die britische Schriftstellerin Virginia Woolfe forderten in ihren Texten eigene Räume für Frauen, während Mary Shelley mit „Frankenstein“das wissenschaftliche Horrorszenario par excellence heraufbeschwor. Die gesellschaftspolitischen Utopien all dieser Autorinnen sind kämpferische, visionäre Texte, die den Blick auf die Gegenwart schärfen.
Dazu ÖNB-Generaldirektorin Johanna Rachinger: „Die Utopien und dunklen Zukunftsvisionen, die Maschinenwelten, Weltuntergangsszenarien und satirischen Idyllen, die in der Literatur entworfen werden, sind eine wichtige Inspirationsquelle, wenn wir uns angesichts von Klimawandel, Digitalisierung, Robotik und künstlicher Intelligenz die Frage stellen: In welcher Zukunft möchten wir leben? Welche Zukunft wollen wir für die nächste Generation gestalten?“ Sprach-Utopie Bezüge zu anderen Künsten, zu Film, Oper, Popkultur runden die Ausstellung ebenso ab wie eine Installation des Künstlers Klaus Wanker und ein eigener Raum, der ganz den Visionen der Besucher für die Zukunft gewidmet ist. Dem Plädoyer Ingeborg Bachmanns gemäß, die 1960/61 als erste Vortragende die visionären und neu eingerichteten „Frankfurter Poetikvorlesungen“an der Goethe-Universität in Frankfurt hielt und in der sie ein – wohl nie ganz zu erreichendes – „Utopia der Sprache“forderte, weil nur eine utopische Sprache das Unmögliche möglich machen könne, nämlich das „Unaussprechliche“auszusprechen.
Das Typoskript des fünften und letzten Teils ihrer Vorlesungsreihe wird im Literaturarchiv der der ÖNB aufbewahrt und trägt den Titel „Literatur als Utopie“.