Mit Abstand auf Sizilien.
„Expedition Europa“: unverhüllte Gesichter auf den Straßen von Syrakus. Von Martin Leidenfrost.
Syrakus war in der Antike eine große griechische Polis. Als Athen seine „Sizilienexpedition“gegen Syrakus führte, wurde das ein Lehrstück über Demokratie und Demagogie. Es reichte ein einziger begnadeter Redner (Alkibiades), der eine Athener Volksversammlung von der Notwendigkeit eines Krieges gegen Syrakus überzeugte. Der bedächtige General Nikias suchte das Unheil abzuwenden, er stellte ein horrendes Kriegsbudget zur Abstimmung, die tobende Menge stimmte auch dafür. Athen verlor 413 v. Chr. den Krieg, die Athener Demokratie lernte daraus. Durch Zwischenschaltung rechtsstaatlicher Dämpfer sollte fortan verhindert werden, dass das Volk einfach mal so den Weltkrieg ausruft.
Heute ist Syrakus die viertgrößte Stadt Siziliens, in Erwartung einer dunklen Zeit verbrachte ich hier einen sonnigen Oktober. Südostsizilien war während meiner drei Wochen epidemiologisch gesegnet, in Gesamtitalien versechsfachte sich die Zahl der Neuinfektionen und Toten jedoch. Italien wird heute von Erlässen regiert, von den DPCM des Gesundheitsministers Roberto Speranza. Ich saß morgens in den Cafe-´Bars zwischen Tyrann-Gelon-Boulevard und Tyrann-Hieron-I.-Straße, durchforstete die Zeitungen auf neue Erlässe und trank ziemlich viele Macchiati.
In Sizilien galt bereits Maskenpflicht im Freien, am Tag der Veröffentlichung des Erlasses über die landesweite Maskenpflicht sah ich plötzlich unverhüllte Gesichter. Die Erklärung stand in der Zeitung: Der Erlass war verpfuscht, ein Artikel sprach von der „Möglichkeit einer Einführung“, ein anderer von „Einführung“. Es folgte: Schulschließung in Kampanien, nächtliches Ausgangsverbot in der Lombardei, in Kampanien, in Latium.
Angehimmelt als „bellissimo“
Eh recht locker, dachte ich am Anfang, dann aber maß die Stadtpolizei die Abstände zwischen den Tischen meines Cafes´ nach, dann aber marschierten Carabinieri in die Sonntagsmesse der fast leeren Wallfahrtsbasilika Madonna delle Lacrime ein.
Einmal zwickte sich mein einjähriger Sohn den Daumen ein. Wir mussten – was für ein schrecklicher Satz heuer! – in ein italienisches Spital. Als ich „Pre-Triage“und „Triage“angeschrieben sah, sank mir das Herz in die Hose. Die sizilischen Mediziner trugen uns aber auf Händen, mein Sohn wurde als „bellissimo“angehimmelt, und im Übrigen „kostet so was in Italien nichts, wir haben wahnsinnig viel Geld“.
Die Wohnung, die wir mieteten, gehörte einem Künstlerpaar, das seinen Sohn Ivan getauft hatte. Russisch sprach Romanautor Ivan nicht, dafür war seine Frau aus Moskau. Die Wohnung war winzig, besaß aber die einzige Terrasse des Wohnblocks, eine auf dem Grund eines tiefen sonnenlosen Schachtes sitzende Terrasse, auf die von kleinen Gitterbalkonen und kleinen Gitterfenstern Küchen-Kiffe-Fußball-Geschrei herunterprasselte.
Syrakus hat immer noch dieselbe Struktur wie in der Antike: vorne die Altstadt-Insel Ortigia, links der Kleine Hafen, rechts der Große Hafen. Meerzugang bietet die höhlenreiche Felsküste kaum. Ich schwamm oft begehrlich am Sandstrand des kleinen Luxusresorts Musciara vorbei. Nach einer Woche sah ich dort erstmals Gäste. Als die zwei weg waren, zog ein Beachboy den Sand um die benutzten Liegen glatt, ruhte kurz unter einer Palme, schaute auf sein Werk, trampelte im nächsten Moment drüber und warf sich auf die nächste Liege. War ja keiner da, kam ja keiner mehr. Ich fahre jetzt heim. Besorge mir nur noch das Buch des italienischen Gesundheitsministers. Es heißt „Perche´ guariremo“– „warum wir gesund werden“.