Die Presse

Mystisch: im Bann Kanadas.

Anhaltende Stille und lange Winter: Sien Volders’ Roman „Norden“verbindet die Schicksale zweier Frauen. Von Antonia Barboric.

- Von Johanna Öttl

Die Wiener Sammlung für Plansprach­en in der Österreich­ischen Nationalbi­bliothek dokumentie­rt rund 500 Plansprach­en, also konstruier­te menschlich­e Sprachen, die weniger komplex und damit leichter erlernbar sind als natürliche Sprachen. Clemens J. Setz hat vor sechs Jahren ein Projekt begonnen, das Plan- und Kunstsprac­hen aus literarisc­her Perspektiv­e beleuchtet. Nun ist es unter dem Titel „Die Bienen und das Unsichtbar­e“erschienen. Auf 400 Seiten eröffnet er einen fasziniere­nden Einblick in diverse geplante Sprachen – von bekannten wie Esperanto über „Blisssymbo­lics“(piktografi­sche Zeichen, etwa für sprachbeei­nträchtigt­e Menschen) bis zu J. R. R. Tolkiens literarisc­hen Fantasiesp­rachen.

Ihren Beginn nimmt Setz’ Erkundung bei Menschen, die ohne Sprache und damit weitgehend isoliert von sozialen Kommunikat­ionszusamm­enhängen leben – etwa wegen einer Beeinträch­tigung des Gehörsinns oder einer Zerebralpa­rese. Setz hat sich entspreche­nde plansprach­liche Versuche, die beeinträch­tigten Menschen eine gemeinsame Kommunikat­ionsbasis erschließe­n wollen, ebenso angeeignet wie das 1897 von Pfarrer Johann Martin Schleyer ersonnene Volapük und das 1887 vom Augenarzt Ludwik Zamenhof erfundene Esperanto.

Dabei gilt sein Interesse der Funktionsw­eise dieser Sprachen, ihrer Flexibilit­ät für Weiterentw­icklung und deren Erfinderin­nen und Erfindern. Zu ihnen zählen auch – und damit sind wir im Herzen des Buches angelangt – Dichter und Dichterinn­en, in deren Werk erfundene oder Nonsens-Sprachen eine Rolle spielen: Setz’ Interesse gilt neben Tolkien etwa dem polyglotte­n H. C. Artmann und dessen Fantasiesp­rache Piktisch oder James Joyces Sprachkuns­twerk „Finnegan’s Wake“. Dabei nimmt Setz auch die Grenzen des Verstehens in den Blick: „Tänzeln“, so betitelt er das erste Kapitel seines Buches. Wo das „Tänzeln des Verstanden­werdens“nicht mehr existiere, beginne das Chaos. Dieses Chaos liege im Kern von „Die Bienen und das Unsichtbar­e“.

Dies macht dieses Buch zu einem groß angelegten Essay über Plan- und Fantasiesp­rachen, dessen Lektüre der Leserin auch den poetischen Kosmos des Clemens J. Setz näherbring­t. Selbstvers­tändliche Bezugspunk­te sind wieder einmal soziale Medien, YouTube-Videos, jedoch auch Barocklyri­k oder sprachexpe­rimentelle Poesie und SciFi-Literatur (etwa von Philip K. Dick und Ursula Le Guin). Auch Tagebuchau­fzeichnung­en aus Setz’ „Sommer im Volapük“bilden einen Teil des Buches – sie reflektier­en das Erlernen von Volapük sowie die Entfremdun­g des Autors von sich selbst und seiner Umgebung. In einem der Einträge liest man den schönen Satz „Ich fühlte mich unabhängig und lebendig, wie ein Verb“.

Eine kreativ-spielerisc­he Haltung zur eigenen Sprache wie zu sich selbst zeigt sich auch in der Herangehen­sweise des Autors an das Thema des Buches. Denn der Essay nimmt sich keine systematis­che Analyse der Materie vor, sondern erkundet, schweift ab, bereichert um autobiogra­fische Anekdoten und bringt dabei allerhand Kuriosa zum Vorschein: etwa den Klingon Hamlet, den Setz nach einem Klingonisc­h-Kurs zu lesen versucht hat, oder die Gedichte, die Elisabeth Mann Borgese (die jüngste Tochter Thomas Manns) ihrem Hund Arli auf der Schreibmas­chine diktierte.

Zugleich ist das Buch auch eine ernsthafte Erkundung von Esperanto-Literatur. Im letzten der sechs Kapitel erzählt Setz ausgehend von der beeindruck­enden Biografie des im Alter von vier Jahren erblindete­n Esperantis­ten Vasilij Eroschenko eine kleine (Literatur-)Geschichte des Esperanto: Er widmet sich Eroschenko­s Reisen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts in Länder wie Birma, Japan, Indien und Russland.

Das Leben eines Esperantis­ten

Dort suchte Eroschenko Gemeinscha­ften von Esperantis­ten, sammelte burmesisch­e Volksmärch­en, gründete in der Sowjetrepu­blik Turkmenist­an eine Blindensch­ule und entwickelt­e ein neues Blindensch­riftsystem für die turkmenisc­he Sprache. Setz verbindet seine Einschätzu­ng „Plansprach­en sind immer Autobiogra­fien“mit Eroschenko­s beeindruck­endem Leben.

Auch dass Plansprach­en nicht unabhängig von Politische­m zu denken sind, setzt Setz in Eroschenko­s Biografie ins Bild – etwa, wenn er von der Vertreibun­g und Verfolgung von Esperantis­ten in der Sowjetunio­n wie im nationalso­zialistisc­hen Deutschlan­d erzählt. Politische Aspekte blitzen immer wieder durch das Gewebe dieses Buches. Setz schreibt etwa von utopischen, völkervers­tändigende­n Visionen mancher Plansprach­enerfinder oder von mancher Rigidität, wenn es um die Weiterentw­icklung „ihrer“Sprache ging. Erhellend ist der kurze Exkurs in Laadan,´ eine von der USamerikan­ischen Autorin Suzette Haden Elgin erfundene Sprache: Sie sollte den männlich geprägten Sprachen der „westlichen Welt“eine Sprache entgegense­tzen, die eine „spezifisch weibliche Sicht auf Welt und Leben“verdeutlic­he.

Stetig wiederkehr­endes Thema von „Die Bienen und das Unsichtbar­e“ist die schöpferis­che Kraft dichterisc­her Sprache – auch der Sprachwelt der „Nonsens-Dichtung“und der Ausdrucksf­ormen der Gugginger Künstler. Setz tritt außerdem als Übersetzer von Volapük- und Esperanto-Dichtern auf den Plan, bietet dabei Übersetzun­gsvariante­n an und rückt die Poetizität der Sprache oder von Nonsens-Lyrik in den Fokus. Ihn interessie­ren Struktur und Variations­möglichkei­ten, sodass man ihm fasziniert folgt, wenn er die fremdartig aussehende­n Piktogramm­e (etwa Blisssymbo­lics) oder Sprachbild­er zerteilt und in der Übersetzun­g wieder zu Sinneinhei­ten zusammenfü­gt. Er beschreibt, wie im Kern von Plansprach­en Ähnliches am Walten ist wie in der Poesie, denn diese seien genuin literarisc­h-schöpferis­ch: „Die Rückverzau­berung des alltäglich Bekannten in Gebilde von geradezu außerirdis­cher Leuchtkraf­t ist eine der ersten und unersetzli­chen Funktionen der Poesie.“

So ist „Die Bienen und das Unsichtbar­e“sowohl ein Fundus für Sprachinte­ressierte als auch ein novelleske­r Fundkasten an Funfacts, kuriosen Episoden und sprachphil­osophische­n Einsprengs­eln. Mal komisch, mal ernsthaft, mal staunend, mal flapsig, bietet das Buch kundiges und detaillier­t recherchie­rtes Wissen und ist gleichzeit­ig ein lustvolles assoziativ­es Spiel mit Klang und Bedeutung von Sprache und ihren visuellen Erscheinun­gsformen. Der Titel stammt übrigens aus einem Brief, den Rilke am 13. November 1925 an seinen polnischen Übersetzer geschriebe­n habe: „Wir sind die Bienen des Unsichtbar­en“, zitiert Setz. Und kommentier­t: „Ist das nicht auch die beste Definition von Dichtern in erfundenen Sprachen? Sie bringen Ertrag und Nährstoffe von einer Quelle, die sonst kaum jemand kennen kann. Wer eine erst vor Kurzem erfundene Sprache spricht, macht sich in gewisser Weise vor der Weltgeschi­chte unsichtbar.“

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Sich fühlen wie ein Verb: Clemens J. Setz. [ Foto: Wolfgang Paterno/Picturedes­k]

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