Onegin, der kleine Niemand vom Land
Staatsoper. Tschaikowskys „Eugen Onegin“in neuer, junger Besetzung: ein im Ganzen eindringlicher, durchwegs bejubelter Abend – auch wenn Dmitri Tcherniakovs Regie mehr rührt als die Stimmen selbst.
Materialschlacht war das jedenfalls keine. Dabei kann „Eugen Onegin“trotz Verzicht auf spektakuläre Massenszenen und bühnentechnische Effekte durchaus auch als große Oper russischer Prägung daherkommen: indem nämlich die enormen Gefühlsaufwallungen auch stimmlich ihre vollgültige Entsprechung finden. Falk Richters wenig geliebte Eis- und SchneeInszenierung von 2009 einmal dahingestellt – aber da waren seither Kaliber wie Dmitri Hvorostovsky oder Mariusz Kwiecien´ als Titelfiguren zu hören, niemand könnte Anna Netrebkos Tatjana vergessen, und immer wieder hat etwa Ferruccio Furlanetto den Gremin georgelt. Die Liste ließe sich fortsetzen. Zugegeben, die „Lyrischen Szenen“nach Puschkins Versdrama, wie Tschaikowsky das Werk im Untertitel genannt hat, wollen eben weg vom herkömmlich Opernhaften, zarter und intimer wirken – und nicht von ungefähr hat sie der Komponist 1879 einer kleineren Bühne zur Uraufführung anvertraut, dem Moskauer Maly-Theater, mit jungen Stimmen vom Konservatorium. Erst der durchschlagende Erfolg brachte den „Onegin“in die großen Häuser.
Die Staatsoper will mit ihrer jüngsten Premiere die Quadratur des Kreises: eine optisch möglichst glaubwürdig junge Besetzung und eine neu durchdachte szenische Intimität auf großer Bühne – wobei neu relativ ist: Bogdan Rosˇciˇc´ hat nämlich jene Produktion eingekauft, die Dmitri Tcherniakov 2006 für das Bolshoi-Theater Moskau geschaffen hat und die seither auch in Paris, London, New York und Tokio gezeigt wurde.
Einfühlsame und kluge Deutung
Mit gutem Grund: Tcherniakovs Deutung ist bis in kleinste Gesten hinein einfühlsam und klug, poetisch und teils überraschend in den Beziehungskonstellationen, und das auch bei den Nebenfiguren nebst Statisterie und dem gastierenden Slowakischen Philharmonischen Chor. Und er übersetzt die gesellschaftlichen Verhältnisse des Zarenreiches in bewusst nicht exakt definierte modernere Zeiten: Erntelieder werden da zu sentimentaler Gesangsunterhaltung bei Tisch; Helene Schneiderman als lachende oder schluchzende, aber immer affektierte Hausherrin Larina pocht mit strengem Regiment auf mehr
Schein als Sein. Larissa Diadkova hingegen, seinerzeit in Wien als Azucena, Ulrica und Eboli zu erleben, zeigt als alte Filipjewna in jedem blechernen Ton echte Empfindung.
Am Pult sorgt Toma´sˇ Hanus für einen jedenfalls gediegenen Ausgleich melancholisch gemischter Bläserfarben, sehrender Streicherintensität und elementaren Gefühlsbrodelns, das Ensemble ist recht ausgewogen und erzielt bewegende Wirkung – aber vor allem mit szenischen Mitteln. Das rein sängerisch Packende, die fesselnd angelegte Arie, die ganz besonders expressive Phrase, der elektrisierende Ton, all diese Bestimmungsstücke eines unvergesslichen Opernabends rückten doch merklich an den Rand. Man fühlt mit den Protagonisten, die gleichsam zufällig auch singen – aber sie rühren nicht deshalb, weil Gesang und Darstellung untrennbar miteinander verschmelzen, auseinander hervorgehen würden.
Brillant: Bogdan Volkov als Lenski
Freilich gibt es in diesem Punkt Abstufungen und Ausnahmen. In erster Linie den milchgesichtigen Lenski von Bogdan Volkov, wunderbar pubertär in seinen bemühten dichterischen Produktionen und hilflos fuchtelnden Ausbrüchen. Tcherniakov teilt ihm das Couplet des Triquet zu, eine famose Idee, weil es somit plötzlich zur Handlung beiträgt: als gallige Kasperliade, mit der Lenski es zugleich Onegin heimzahlen will, wegen dessen Flirt mit Olga – ohne zu merken, dass diese Retourkutsche vielmehr die unschuldige Tatjana niederfährt.
Vor allem aber brilliert Volkov als Stilist und differenziertester Sänger des Abends, wenn er seine klagende Arie vor dem Duell (hier eine tragische Rangelei mit sich lösendem Schuss) zwar nicht gerade mit honigsüßem Schmelz anreichert, aber doch ungemein zerbrechliche, dabei ohne Fehl und Tadel gelungene Pianissimo-Kantilenen formt. Ein Höhepunkt, gerade weil die flatterhafte, ihn nicht ernst nehmende Olga, die Anna Goryachova mit jugendlich-dunklem Mezzosopran singt, im Hintergrund ungerührt nach einem verlorenen Ohrring sucht. Denn Tcherniakov belässt das ganze Geschehen in Innenräumen, immer mit langer Tafel als Leitmotiv: erst in Larinas großbürgerlichem Speisesaal; im letzten Akt dann, noch üppiger und zugleich enger, in Gremins imperialem Salon, wo auch Onegin plötzlich nur der kleine Niemand vom Land ist. Es gibt kein
Entkommen aus diesem gesellschaftlichen Käfig – allein die visionäre Briefszene durchweht endlich der Windhauch der Freiheit.
Herzzerreißend erstarrt: Nicole Car
Nicole Car, kurzfristig für Tamuna Gochashvili eingesprungen, spielt vor allem die äußere Erstarrung auf herzzerreißende Weise, die ihr Tcherniakov verordnet: als Fassade für Tatjanas Gefühlsstrudel und Ausdruck der Verletzung durch Onegins Desinteresse. Dunklen Samt oder strahlendes Glitzern darf man nicht erwarten, aber stimmlich kann sie sich Volkovs Leistung annähern, weil sie mit ihrem gleichmäßig cremefarbenen Sopran im Laufe des Abends auch zu größerer dynamischer Differenzierung findet. Im Schlussbild steht ihr sogar Dimitry Ivashchenko als nachdenklicher, vokal durchschnittlicher Gremin bei: Die beiden lassen Onegin als Bild reinsten Jammers zurück. Gewiss, Andr`e Schuen müht sich redlich, doch bei seinem schmalen, wenn auch ausgeglichenen Bariton rächt sich, dass die lange Tafel als Spielort auf der Bühne weit hinten steht – und am Ende bleiben ihm nur hohle Operngesten: In die Fußstapfen großer Vorgänger muss er erst hineinwachsen.