Warum die Leute nicht mehr zuhören und mitmachen wollen
Die solidarische Zivilgesellschaft vom März kippt gerade in eine Art mentales Reichsbürgertum und in Widerstand, der zunehmend der Polizei und selbst den Qualitätsmedien entgegenschlägt.
Elisabeth Postl schilderte in der „Presse am Sonntag“(18. 10.) am Beispiel einer ganz normalen Österreicherin, warum es den Leuten reicht mit Corona, warum immer mehr Augen und Ohren verschließen. Wir haben es vergeigt, Gewählte wie Wähler. Man sollte daher nicht mit Fingern auf die anderen zeigen, denn ein Fall derartiger Komplexität lässt selbst bestes Wissen und Gewissen an Grenzen stoßen. Die unerträgliche virale Dauerberieselung in den Medien seit März gipfelt nun kakofonisch im Zuge der zweiten Welle; es will sich kein stimmiges Bild mehr fügen.
Selbst manch klugen Leuten entgleiten Zusammenhang und Sinn. Die solidarische Zivilgesellschaft vom März kippt gerade in eine Art mentales Reichsbürgertum, in immer mehr passiven und aktiven Widerstand, welcher Polizei und Qualitätsmedien entgegenschlägt. Denen glaubt man gerade noch den Wetterbericht; Wissen und Gewissheit aber bezieht man lieber aus den sozialen Medien. Sie bieten jene Geborgenheit in einfachen Erklärungen, welcher sich seriöse Wissenschaft und Politik verweigern müssen.
Virale Gehirnerweichung, wohin man schaut. Gerade hielt ich ein zweitägiges Seminar nahe Zürich. Während dort die Anzahl der Infizierten durch die Decke geht, spielt man nonchalant Business as usual. Man trägt Maske oder auch nicht, hält Abstand oder auch nicht und lässt die 26 (!) Kantonsbehörden über ihre unterschiedlichen Maßnahmen reden . . . Es blühen Corona-Individualismus und freidenkerischer Widerstand. Europa zählt 47 Nationalstaaten, Österreich neun Bundesländer, Deutschland deren 16. Dieser politische Fleckerlteppich auf unserem kleinen Subkontinent erstrahlt nun in vier Ampelfarben, die ein kaum durchschaubares, ständig mutierendes Flickwerk an Maßnahmen und Vorschriften kodieren. Von oben als Coronasubsidiarität und -föderalismus gepriesen, kommt das unten als kantönligeistiger Mist an.
Das macht die Europäer bockig, sie wenden sich mit Grausen. Die Vorliebe für durchschaubare Verhältnisse liegt in der menschlichen Natur. Dagegen gebiert die Herrschaft von Corona widersprüchliche Erkenntnisse und ein Korsett an nicht nur gescheiten Vorschriften; ein winziges Virus schwillt zu einem nicht mehr fassbaren Monster, macht den Menschen Angst und zwingt viele in Irrationalität, auch in eine „erlernte Hilflosigkeit“– presst vom Lockdown vernichtete Existenzen in die Abhängigkeit eines (noch) gnädigen Staates. Entkommen werden wir diesem Schlamassel kaum, am ehesten noch mittels einer klaren Kommunikationsstrategie. Das wird es aber wohl nicht spielen, sprechen doch vor allem Technokraten, also Naturwissenschaftler aller Art, Wirtschaftler und Politiker über Medien mit ihren Eigeninteressen zu uns, kaum aber Leute, die menschengerecht informieren wollen und können. So raubt man den Menschen auch noch die Reste jener Rationalität, die optimal zu entwickeln ihnen aufgrund suboptimaler Bildungssysteme – auch und gerade in Österreich – ohnehin nicht vergönnt war. Viele werden heute auch aufgrund ihrer unrealistischen Ansprüche an Wissenschaft und Politik zu Systemverweigerern; Dank der bekannten Lern- und Lehrdefizite – vom Kindergarten bis in die AHS – weiß man es ja nicht besser. Corona legt also schonungslos gesellschaftliche Defizite offen. Mehr dazu nächstes Mal.
Kurt Kotrschal, Verhaltensbiologe i. R. Uni Wien, Wolf Science Center Vet-Med-Uni Wien, Sprecher der AG Wildtiere/Forum Wissenschaft & Umwelt.
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