„Ich würde US-Bürgern ihre Macht zurückgeben“
Interview. Jo Jorgensen, Kandidatin der Libertären, über Ideendiebstahl und Gemeinsamkeiten Trumps mit Obama.
Die Presse: Die USA haben innerhalb weniger Jahre zwei sehr unterschiedliche Präsidenten erlebt: Obama und Trump. Wie hat sich das ausgewirkt? Jo Jorgensen: Diese beiden sind nicht so verschieden, wie ihre Anhänger – und Gegner – behaupten. Beide haben angegeben, unnötige Kriege beenden zu wollen – beide haben dann aber die militärische Expansion der USA fortgesetzt. Beide versprachen eine harte Reduktion der Staatsausgaben – beide haben aber letztlich Ausgaben und Schulden in nie dagewesenem Umfang zu verantworten. Beide versäumten es, sinnvolle Änderungen in der Einwanderungs-, Strafrechts- und Drogenkriegspolitik vorzunehmen.
Und dennoch: Nach Obama und jetzt Trump erscheint die US-Gesellschaft gespaltener denn je. Was oder wer ist der Grund dafür?
Die Bundesregierung ist viel zu neugierig, herrisch und zu weit in das Leben der Wähler eingedrungen. Wenn der Gewinn politischer Macht bedeutet, dass man jemand anderem seine Werte und Prioritäten aufzwingt, und wenn Verlieren bedeutet, dass einem die Werte eines anderen aufgezwungen werden, werden die Fraktionen immer erbitterter darum kämpfen, die Macht zu gewinnen und zu behalten.
Sie und Ihre Partei stehen für eine radikale Reduzierung der staatlichen Institutionen auf ein Minimum. Was ist dann die Rolle des US-Präsidenten und des Nationalstaates? Die Verfassung schreibt der Bundesregierung eindeutig eine Rolle vor: Sie muss über die individuellen Freiheiten wachen. Andere autorisierte Befugnisse sind Verteidigung und Aushandeln von Verträgen. Die Regierung ist auch für Aufrechterhaltung eines föderalen Gerichtssystems und Überwachung der Einbürgerung neuer Bürger verantwortlich. Praktisch alle anderen Befugnisse sind den einzelnen Staaten oder dem Volk vorbehalten. Meine Präsidentschaft würde anders aussehen als die meiner Vorgänger, mein Veto-Stift wird eine Menge zusätzliche Tinte benötigen. Gegen jedes Gesetz, das über diese verfassungsmäßigen Pflichten hinausgeht, werde ich ein Veto einlegen. Jedes Ausgabengesetz, das das Defizit erhöht, werde ich ablehnen. Meine würde die erste Präsidentschaft sein, die den Staaten und Bürgern die Macht zurückgibt.
Die Jahre unter Trump haben einerseits die Stärke staatlicher Institutionen gezeigt, andererseits haben sie aber auch einige bemerkenswerte Schwächen des Systems ans Licht gebracht. Wo sehen Sie die Schwächen des US-Systems?
Die eklatantesten Schwächen des Systems sind die Stellen, an denen die konstitutionellen „Checks and Balances“zerstört wurden. Da ist allen voran einmal die USNotenbank und ihre ökonomische Logik, die auf der Möglichkeit unbegrenzter Kreditaufnahme durch den Bund fußt. Und zweitens hat der Kongress seine Gesetzgebungsarbeit an nicht rechenschaftspflichtige Verwaltungsbehörden delegiert und die Verantwortung für Feldzüge auf die Exekutive geschoben. Der Kongress hat seit 1942 nicht mehr formell den Krieg erklärt, aber „Genehmigungen zu militärischer Gewalt“haben es dem Verteidigungsministerium erlaubt, auf der ganzen Welt Amok zu laufen.
Sie stehen für einen Rückzug des Staates. Die Coronakrise hat aber gezeigt, dass zum Beispiel ein auf rein marktwirtschaftlichen Regeln basierendes Gesundheitssystem in einer Krise wie dieser nicht funktioniert. Was hätte anders gemacht werden müssen?
Um es klar zu sagen: Wir haben nichts, was einem freien Markt im Gesundheitswesen nahe kommt. Die Politiker haben sich jahrzehntelang in das Gesundheitswesen eingemischt.
Die Black-Lifes-Matter-Proteste haben sehr unterschiedliche Visionen von den USA sichtbar gemacht. Das inkludiert auch ein ganz unterschiedliches Setting an nationalen Symbolfiguren. Wer sind Ihre Vorbilder in der US-Geschichte? Frederick Douglass sticht für mich als einer der frühesten Befürworter der Rassengerechtigkeit hervor, als einer, der die Forderung nach individuellen Freiheiten für alle erhob. In die Sklaverei geboren, entkam er, bildete sich weiter und wurde ein unermüdlicher Verfechter der Rechte schwarzer Menschen und von Frauen. Wir sollten weiterhin auf Frederick Douglass’ Beispiel der Selbstentfaltung, des Hungers nach Freiheit, der Leidenschaft für Gleichheit vor dem Gesetz und des Misstrauens gegenüber Institutionen schauen, die versuchen, Menschen „zu ihrem eigenen Wohl“zu versklaven.
Im Zuge der Proteste kam es auch zum Sturm auf Monumente. Wie kommentieren Sie das? Ist so etwas legitim? Steuerzahler sollten nicht gezwungen werden, für den Bau oder die Instandhaltung von Denkmälern zu zahlen. Aber das entschuldigt auch nicht ihre Zerstörung. Wo Statuen und andere Gegenstände auf öffentlichem Grund und Boden für Bürger anstößig sind, sollte man sie erhalten und an private Orte bringen. Dort können sie ausgestellt oder zerstört werden, wie es der neue Eigentümer für angebracht hält.
Entspricht das faktische Zweiparteiensystem, basierend auf dem Mehrheitswahlrecht, demokratischen Standards des 21. Jahrhunderts?
Ganz und gar nicht. Die beiden alten Parteien sind sich darin einig, dass sie verhindern wollen, dass eine dritte Partei gehört oder in den politischen Diskurs einbezogen wird. Wir brauchen mehr Stimmen, mehr Wahlmöglichkeiten und mehr Wettbewerb auf dem Marktplatz der Ideen.
Und was können kleine politische Parteien wie die Libertarians innerhalb dieses Systems verändern?
Wir können das System verändern. Bei der Wahl 2016 hätten die Nichtwähler in 42 Staaten einen umfassenden Erdrutschsieg errungen. Die Amerikaner identifizieren sich kaum zur Hälfte als Republikaner oder Demokraten. Es gibt Hunger nach neuen Stimmen und mehr Wahlmöglichkeiten. Und wir hatten auch Erfolge: Volle und gleiche Rechte für LGBTQ-Amerikaner, ein Ende des gescheiterten Drogenkrieges und eine Reform des außer Kontrolle geratenen militarisierten Polizeistaates sind alles libertäre Kernideen, die von den alten Parteien „gestohlen“wurden. Wir unterstützen diesen Diebstahl.