Johnson hat sich mit den USA verkalkuliert
Analyse. Der britische Premier hat nach dem Brexit auf Donald Trump und ein neues Handelsabkommen mit den USA gesetzt. Doch selbst wenn der Republikaner gewinnt, wird die Partnerschaft mit London an Bedeutung verlieren.
Wien/Brüssel. „Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.“Das behauptete Boris Johnson kürzlich auf eine Frage des „Observer“zu Auswirkungen der US-Wahl auf den Brexit. Der britische Premierminister, der es schon in der Vergangenheit mit der Wahrheit nicht ganz ernst nahm, müsste es auch in diesem Fall besser wissen: Natürlich hat das Ergebnis der US-Präsidentenwahl Einfluss auf die Post-EU-Ära Großbritanniens. Gewinnt nämlich Donald Trump, wird die US-Führung weiterhin auf ein enges Handelsabkommen mit Großbritannien setzen. Der Republikaner ist ein offener Befürworter des Brexit und hat Johnson ein umfassendes Abkommen in Aussicht gestellt. Gewinnt hingegen Joe Biden, wird die Lage für Johnson schwieriger. Der Demokrat setzt auf gute Beziehungen zu Deutschland und Frankreich. Er sieht – wie viele Demokraten – in der Spaltung Europas keinen Vorteil für die USA. Biden wird sich nicht gegen ein Handelsabkommen mit den Briten stellen, aber es dürfte weniger ambitioniert ausfallen als unter Trump.
Rund 13 Prozent der britischen Exporte gehen derzeit in die USA. Nur eine erheblicher Steigerung könnte für Großbritannien den Handel mit den ehemaligen EU-Partnern kompensieren (in die EU ging zuletzt rund die Hälfte aller UK-Exporte). Dennoch hat Johnson auf die transatlantische Karte gesetzt. So stark, dass er sogar bereit war, dafür die Verbindungen zum EU-Binnenmarkt weitgehend zu kappen. Johnson ging davon aus, dass eine weitere Übernahme von EURegeln seinen Spielraum für neue Handelsabkommen einschränken würde. Beispielsweise wäre für Großbritannien eine Öffnung seines Fleischmarkts für US-Produkte kaum mit den EU-Binnenmarktregeln zur Transportdauer oder zu den erlaubten Behandlungsmethoden für Frischfleisch vereinbar.
Rascher Abschluss war eine Illusion
Will London, wie Johnson stets betont, mehr Souveränität von der EU zurückgewinnen, braucht es ein breites Feld an neuen Handelspartnern, um in so sensiblen Bereichen wie Medikamentenversorgung unabhängiger zu werden. Die USA, so sein Kalkül, sollten künftig als wichtigster Partner und als Triebfeder weiterer Handelsabkommen fungieren. Doch der Tory-Premier dürfte sich dabei verkalkuliert haben. Schon der Versuch, ein umfassendes Handelsabkommen mit den USA vor Ende der Brexit-Übergangsfrist unter Dach und Fach zu bringen, stellte sich als Illusion heraus. Seit Mai dieses Jahres laufen die offiziellen Verhandlungen. Schon zu Beginn stellte US-Chefverhandler Robert Lighthizer klar, dass sich ein Abkommen bis Ende des Jahres nicht ausgehen werde. Washington machte auch kein Hehl aus seinem Ziel: neue Jobs in den USA und Wachstum für die amerikanische Wirtschaft.
Die Abfuhr war nur ein Vorgeschmack auf das künftige Verhältnis. Selbst wenn die kommende US-Regierung an einer prioritären Behandlung des verlässlichen NatoPartners festhalten sollte, wird London in Zukunft in Washington an Einfluss verlieren. „Großbritannien wird in den Augen Amerikas nicht länger das Gravitationszentrum Europas bleiben“, zeigte sich der ehemalige britische Nato-Botschafter Peter Ricketts in einem Interview mit „Politico“überzeugt. Unter einem Präsidenten Joe Biden würde sich diese Abkehr voraussichtlich noch verstärken.
Der demokratische Präsidentschaftskandidat hat bereits mehrfach seine Vorbehalte gegenüber dem Trump-Freund Johnson formuliert. Als US-Amerikaner mit irischen Wurzeln war ihm insbesondere die einseitige Aufkündigung jener Passagen des britischen EU-Austrittsvertrags, die eine offene Grenze zwischen beiden Teilen Irlands garantierten, ein Dorn im Auge. „Das Karfreitagsabkommen, das den Frieden nach Nordirland brachte, darf kein Opfer des Brexit werden“, warnte er. Eine US-Führung unter Biden, so zeigt sich Ricketts überzeugt, werde nicht nur deshalb ihre Priorität auf enge Beziehungen mit der EU statt auf solche mit Großbritannien legen. London habe durch seinen Bruch mit Brüssel für die USA an Bedeutung verloren. Der Grund liegt in der amerikanischen Interessenpolitik: Solang das Königreich noch Mitglied der Europäischen Union war, versuchte Washington seine Anliegen über den Umweg der britischen Führung in Brüssel zu platzieren. Künftig wird es die Einflussnahme auf andere gewichtige Spieler in der EU verlagern.
Änderung der Verhandlungstaktik?
In Brüssel wird nicht ausgeschlossen, dass Johnson nach einer Wahlniederlage von Trump seine Taktik bei den Verhandlungen über ein künftiges Handelsabkommen mit der EU ändert. Der ehemalige EU-Botschafter der Briten, Ivan Rogers, rechnet damit, dass Johnson erst nach der US-Wahl entscheidet, ob er auf einen harten Bruch mit der EU zusteuern möchte oder doch auf einen Kompromiss.
Die Zeit dafür wird freilich knapp. Zu Jahresende läuft die Übergangszeit des Brexit aus. Dann endet der bisherige Freihandel zwischen den 27 EU-Staaten und Großbritannien. Zölle, Gebühren und eine neue Bürokratie an den gemeinsamen Grenzen würde ohne Abschluss eines Folgeabkommens den Handel belasten.