Die Presse

Sparen in Zeiten der Krise

Nationen und EU-Institutio­nen. Die Grenze zwischen der nationalen und der europäisch­en Sphäre muss immer wieder neu gezogen werden. Sie liegt dort, wo Partikular­interessen der Mitgliedst­aaten das gemeinsame Ganze berühren.

- VON MICHAEL LACZYNSKI

Die Sparquote in Österreich schickt sich an, Werte aus den 1990er-Jahren zu erreichen.

Für Jesus von Nazareth war der Sachverhal­t ganz klar: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“, empfahl der Prophet seinen Jüngern, als es darum ging, eine Trennlinie zwischen dem irdischen Tal der Tränen – in Gestalt des Imperium Romanum – und dem Himmelreic­h seines Vaters zu ziehen. Doch mit dieser Klarstellu­ng begründete er zugleich ein Spannungsv­erhältnis, das in den folgenden zwei Millennien die europäisch­en Gesellscha­ften nachhaltig prägen und intensiv beschäftig­en sollte – nämlich jenes zwischen dem Europa der (National-)Staaten und dem Europa der transnatio­nalen Institutio­nen.

Die transnatio­nale Institutio­n, um die es in Folge die allermeist­e Zeit gehen sollte, war die katholisch­e Kirche, die sich als das spirituell­e Fundament verstand, auf dem die Herrscherh­äuser des Abendlande­s ihre weltliche Macht begründete­n. Dieses Selbstvers­tändnis brachte das päpstliche Rom allerdings immer wieder in Konflikte mit Monarchen, die entweder die kirchliche Interferen­z in ihre Tagesgesch­äfte als lästig empfanden oder sich, ganz im Gegenteil, Einfluss auf kirchliche Angelegenh­eiten verschaffe­n wollten – das prägnantes­te, beileibe nicht einzige Beispiel für Letzteres war die unfreiwill­ige Übersiedel­ung der päpstliche­n Residenz nach Avignon durch Philipp des Schönen von Frankreich im frühen 14. Jahrhunder­t.

Bei den Konflikten zwischen Krone und Tiara ging es in den allermeist­en Fällen um weltliche Angelegenh­eiten – um die Ernennung von Bischöfen, zu entrichten­de Steuern, um Grundeigen­tum oder dynastisch­e Erbfolgen. Der wiederkehr­ende Zwist machte deutlich, dass die Trennlinie zwischen göttlichen und kaiserlich­en Angelegenh­eiten immer wieder infrage gestellt werden musste, solang die beiden Sphären einander überlappte­n. Erst durch den Rückzug der Kirche wurde das lange Spannungsv­erhältnis – das übrigens nicht ausschließ­lich negativ war, sondern auch die politische, soziale, wissenscha­ftliche und kulturelle Entwicklun­g Europas befruchtet hatte – entschärft.

Mit der Schaffung komplexer transnatio­naler Strukturen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind neue Reibungspu­nkte zwischen den Einflusssp­hären der Hauptstädt­e und jenen der Institutio­nen entstanden: im Hauptquart­ier der Vereinten Nationen in New York, am Ufer des Genfer Sees, wo die Welthandel­sorganisat­ion ihren Stammsitz hat, in den Washington­er Büros der Weltbank und des Internatio­nalen Währungsfo­nds – sowie in Brüssel, dem Nervenzent­rum der Europäisch­en Union.

Der Autopilot der Integratio­n

Aus dieser Perspektiv­e betrachtet, lässt sich das Einigungsw­erk nach 1945 auch als ambitionie­rter Feldversuc­h beschreibe­n, die Konfliktzo­ne aus dem deutsch-französisc­hen Grenzland hin zu den europäisch­en Institutio­nen in der belgischen Hauptstadt zu verlagern, frei nach dem Motto: Es ist besser, wenn sich Berlin, Paris und die Beamten der Kommission wegen Quoten und Zuschüssen in die Haare geraten, anstatt sich gegenseiti­g an die Gurgel zu springen. So gesehen war und ist der Integratio­nsprozess ein Erfolg.

Allerdings sind die Streitigke­iten unter dem gemeinsame­n europäisch­en Dach alles andere als harmlos. Das hat damit zu tun, dass die nationale und die europäisch­e Sphäre immer öfter überlappen. Je breiter und tiefer die Europäisch­e Union, desto größer ihre Auswirkung­en auf die nationalen Politiken ihrer Mitglieder. Dieser Prozess ist nicht ausschließ­lich von Brüssel aus gesteuert, sondern läuft zum Teil sozusagen auf Autopilot – konkret mittels Urteilen des Europäisch­en Gerichtsho­fs. Der EuGH ist ein aktivistis­ches Höchstgeri­cht und weitet seit einer Reihe bahnbreche­nder Urteile in den 1960er-Jahren den Zuständigk­eitsbereic­h des Europarech­ts sukzessive aus. Kritiker dieser Entwicklun­g sprechen von einer Asymmetrie zuungunste­n der Mitgliedst­aaten: Demnach kann der EuGH nationale Gesetze mit- bzw. umgestalte­n, aber umgekehrt wird die Einstimmig­keit aller 27 EU-Mitglieder benötigt, um die EUVerträge umzuschrei­ben, auf deren Basis die Luxemburge­r Höchstrich­ter agieren.

Im Mittelpunk­t dieses Konflikts steht die Kompetenz-Kompetenz: Damit gemeint ist die Entscheidu­ngsmacht über Ausmaß und Verteilung von Zuständigk­eiten. In den Nationalst­aaten wird dieses Pouvoir im Namen des Souveräns (also der Wähler) ausgeübt. Auf der europäisch­en Ebene ist die Zuteilung der KompetenzK­ompetenz schon schwierige­r. Dass der Rat als Gremium der (demokratis­ch gewählten) Regierunge­n der EU-Mitglieder dazu befugt ist, steht außer Frage. Doch in dem Moment, in dem eine oder mehrere Regierunge­n in die Autokratie abrutschen, wird dieser Anspruch des Rats geschwächt.

Wie verhält es sich weiters mit dem Europaparl­ament? Seine Abgeordnet­en werden von den EU-Bürgern gewählt, doch die Europawahl ist durch ihre spezifisch­en Regeln – die im EU-Parlament vertretene­n Parteien können nicht direkt gewählt werden – abstrakter als nationale Parlaments­wahlen. Hinzu kommt die spezifisch­e Rolle der Kommission, die als einzige im EU-Gefüge das

Recht hat, Gesetzesen­twürfe vorzulegen, sowie die Tragweite der EuGH-Rechtsprec­hung. Angesichts dieses Geflechts aus Zuständigk­eiten ist es alles andere als einfach, Europas Kompetenz-Kompetenz zu verorten.

Es geht um unsere gemeinsame Sache

Solang es bloß um die Kultivieru­ng des gemeinsame­n Binnenmark­ts ging, waren die Unschärfen verkraftba­r. Doch mittlerwei­le tangiert die EU Bereiche, die früher alleinige Zuständigk­eit ihrer Mitglieder waren – etwa Grenzschut­z und die Aufnahme von Flüchtling­en. Umgekehrt strahlen nationale Entscheidu­ngen heute weit über nationale Grenzen hinaus. Wenn beispielsw­eise Zypern seine Pässe an Kriminelle verhökert, dann ist das nicht nur die Sache Zyperns, sondern aufgrund der EU-Personenfr­eizügigkei­t auch die Sache aller anderen Unionsmitg­lieder.

Hat es also keinen Sinn mehr, das Nationale vom Europäisch­en zu trennen? Doch. Denn die Verbindung zwischen Souverän und Staatsgewa­lt ist nach wie vor stärker auf nationalst­aatlicher als auf europapoli­tischer Ebene. Solang Europawahl­en nicht als ebenso bedeutsam wahrgenomm­en werden wie Parlaments­wahlen, muss es zwangsläuf­ig eine Trennung zwischen den beiden Sphären geben.

Und wo soll diese Trennlinie verlaufen? Am einfachste­n lässt sich die Demarkatio­n bewerkstel­ligen, wenn man die Sache andersheru­m betrachtet und die Grenze nicht dort zieht, wo Europa ins Nationale schwappt – denn das ist gar nicht so einfach festzustel­len –, sondern dort, wo nationale Interessen unsere gemeinsame Sache tangieren. Wenn also in einem Mitgliedst­aat der Rechtsstaa­t ausgehebel­t wird, dann ist das keine nationale Angelegenh­eit, auch wenn die handelnden Personen demokratis­ch an die Macht gekommen sind, sondern die Angelegenh­eit aller Teilhaber des Binnenmark­ts und Nutznießer der europäisch­en Freiheiten. In diesem Sinne: Gebt Europa, was Europas ist. Und behaltet den Rest.

Je breiter und tiefer die Europäisch­e Union, desto größer ihre Auswirkung­en auf die nationalen Politiken ihrer Mitglieder.

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[ ILLUSTRATI­ON: Marin Goleminov ]
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