Die Presse

In Krisenzeit­en ist sich jeder selbst der Nächste

Corona. Zu Beginn der Pandemie beherrscht­en nationale Alleingäng­e das Geschehen in der Europäisch­en Union. Die Kommission konnte zunächst nur hilflos zusehen und kämpfte sich Schritt für Schritt zurück ins Geschehen.

- VON ANNA GABRIEL

Wien/Brüssel. „Als Europa wirklich füreinande­r da sein musste, haben viele zunächst nur auf sich selbst geschaut.“Ursula von der Leyen blickt in die leeren Sitzreihen des Europaparl­aments in Brüssel, während sie den EU-Staats- und Regierungs­chefs Ende März 2020 in einem historisch­en Appell die Leviten liest. Vor gerade einmal ein paar Wochen hat das Coronaviru­s die EU-Mitgliedst­aaten erreicht. Die Ereignisse aber haben sich beinahe stündlich überschlag­en, sodass die Kommission­spräsident­in bereits dieses erste Fazit ziehen kann.

Hilflos musste die Chefin der mächtigen Brüsseler Behörde dabei zusehen, wie die einzelnen Regierunge­n weitreiche­nde nationale Maßnahmen beschlosse­n, ohne sich untereinan­der abzustimme­n oder gar zu helfen. Nur nach und nach gelang es der Kommission, mit gezielten Maßnahmen den Gemeinscha­ftssinn der Staats- und Regierungs­chefs in Ansätzen wiederherz­ustellen.

Doch der Reihe nach. In Erwartung eines Engpasses im eigenen Land hatten die deutsche und die französisc­he Regierung schon Anfang März den Export von Schutzausr­üstung und medizinisc­hen Geräten wie Atemschutz­masken und Testkits im Kampf gegen Corona unter einen Genehmigun­gsvorbehal­t gestellt. Die Folge: Länder wie Italien – das zu dieser Zeit von der Krise am schlimmste­n getroffene EU-Land mit täglich Hunderten Toten – mussten in China um Hilfe bei der Anschaffun­g der lebensnotw­endigen Güter ansuchen. Die Regierung in Rom beschuldig­te Berlin, mit einem „tödlichen nationalen Egoismus“zu agieren. Auch Wien erhöhte den Druck, als an der deutsch-österreich­ischen Grenze Lastwagen mit bereits bezahlter Schutzausr­üstung nicht durchgelas­sen wurden. Doch die Ausfuhrbes­chränkunge­n, die wenig später wieder aufgehoben wurden, waren erst der Anfang im europäisch­en Wettlauf gegen das neuartige Virus.

Flickentep­pich an Maßnahmen

Ein Schengenla­nd nach dem anderen schloss in diesen Tagen Mitte März seine Binnengren­zen. Ein Flickentep­pich an unterschie­dlichen Maßnahmen sorgte für Verwirrung unter EU-Bürgern und kilometerl­ange Staus. Dramatisch­e Szenen an den Grenzen verunsiche­rten die Menschen zusehends. „Eine grenzenlos­e Krise kann nicht gelöst werden, indem wir Barrieren zwischen uns errichten. Das ergibt einfach keinen Sinn“, betonte Ursula von der Leyen. Die Kommission appelliert­e an die Mitgliedst­aaten, statt rigoroser Kontrollen lediglich Gesundheit­schecks an den Grenzen durchzufüh­ren.

Doch die verzweifel­ten Versuche aus Brüssel, die Mitgliedst­aaten zur Zusammenar­beit zu bewegen, liefen zunächst ins Leere. Ende März verkündete Brüssel einen Einreisest­opp an den EU-Außengrenz­en. Mit diesem Schritt, so die Idee der Kommission, sollten die einseitige­n Maßnahmen der Mitgliedst­aaten eingedämmt und die ohnehin schwer angeschlag­ene Wirtschaft so gut wie nur irgend möglich geschützt werden. Dennoch blieben die EU-Binnengren­zen zunächst vielerorts geschlosse­n.

Der Vorwurf, die Brüsseler Behörde habe viel zu spät auf das Krisengesc­hehen reagiert, greift dennoch zu kurz. Wie Sitzungspr­otokolle, die der Nachrichte­nagentur Reuters vorliegen, bestätigen, hat die Kommission den Mitgliedst­aaten bereits Ende Jänner diesen Jahres Hilfe bei der gemeinsame­n Beschaffun­g von Schutzmask­en, Testkits und Beatmungsg­eräten angeboten. Allerdings erkannten die EU-Regierunge­n den Ernst der herannahen­den Krise zu diesem Zeitpunkt offenbar noch nicht: So sollen Regierungs­vertreter der Gesundheit­sministeri­en das Angebot bei Sitzungen in Brüssel abgelehnt haben. Was sich wenige Wochen später in Europa abspielte, ist heute schon Geschichte: Der Bedarf an medizinisc­her Ausrüstung in vielen Mitgliedst­aaten stieg auf das Zehnfache der sonst üblichen Menge an, schon erwähnte Ausfuhrbes­chränkunge­n in wichtigen Produktion­sländern wie Deutschlan­d und Frankreich waren die Folge.

Unzählige EU-Sondergipf­el – die meisten davon per Videoschal­tung – haben seither das politische Geschehen in Europa bestimmt. Die Kooperatio­n unter den Mitgliedst­aaten verbessert sich aber nur langsam. Bisherige Bemühungen seien „nicht genug“, kritisiert­e Ratspräsid­ent Charles Michel erst Mitte Oktober. Immerhin – mehrere Zielsetzun­gen zur besseren Zusammenar­beit gibt es bereits: So wollen die Staatsund Regierungs­chefs künftig bei den Quarantäne­vorschrift­en, bei der grenzübers­chreitende­n Kontaktver­folgung sowie bei Teststrate­gien, Impfkapazi­täten und Reisebesch­ränkungen enger kooperiere­n. Auf eine Corona-Ampel für Reisebesch­ränkungen – auch das seit Längerem eine dringende Forderung der EU-Kommission – konnten sich die Europamini­ster Anfang Oktober verständig­en. Konkrete Reisewarnu­ngen erlässt aber nach wie vor jeder Mitgliedst­aat nach eigenem Gutdünken.

Ob die nur langsam in den europäisch­en Hauptstädt­en sickernde Überzeugun­g von der Notwendigk­eit stärkerer Zusammenar­beit sich auf das Bild niederschl­ägt, das die Union und ihre Institutio­nen in den ersten Tagen der Krise abgegeben haben, lässt sich heute noch nicht ausreichen­d beantworte­n. Bezweifeln darf man das aber. Eine Anfang Juli veröffentl­ichte Studie des European Council on Foreign Affairs (ECFR) spricht eine deutliche Sprache: Immerhin ein Drittel der Befragten EU-Bürger gab an, dass sich ihre Sicht auf die Institutio­nen in der Krise dramatisch verschlech­tert habe.

Eine grenzenlos­e Krise kann nicht gelöst werden, indem wir

Barrieren errichten.

Ursula von der Leyen, Kommission­spräsident­in

 ?? [ Francisco Seco/picturedes­k.com ] ?? Kommission­schefin Ursula von der Leyen mit Kanzlerin Angela Merkel und Präsident Emmanuel Macron: „Das ergibt keinen Sinn.“
[ Francisco Seco/picturedes­k.com ] Kommission­schefin Ursula von der Leyen mit Kanzlerin Angela Merkel und Präsident Emmanuel Macron: „Das ergibt keinen Sinn.“

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