Von Canossa bis Comecon
Geschichte. Transnationale Arrangements sind seit jeher umstritten.
Dass die Europäische Union aufgrund ihrer Ambitionen und Dimensionen eine Schöpfung sui generis ist, steht mittlerweile genauso außer Frage wie der positive Beitrag der EU zum Wohlstand und Frieden in Europa. Sie ist aber beileibe kein Unikat. Neben Staaten gab es seit jeher transnationale Arrangements und Strukturen, die neben der traditionell abgegrenzten Macht des Souveräns existierten – und immer wieder für Konflikte sorgten, die teilweise nur mit Gewalt gelöst werden konnten.
KIRCHE VS. STAAT
Der Konflikt zwischen weltlicher und geistlicher Macht war für das europäische Mittelalter besonders prägend. Die katholische Kirche mit ihrem Hauptsitz in Rom verstand sich als das spirituelle Erbe des Römischen Imperiums, das für die europäischen Herrscherhäuser ein zentraler Referenzpunkt war. Im 11. Jahrhundert spitzte sich der Konflikt erstmals zu – bei dem sogenannten
Investiturstreit ging es um die Frage, wer Bischöfe einsetzen durfte: der Papst oder der Kaiser. Die Beantwortung dieser Frage hatte eine hohe Bedeutung im Diesseits – denn die Bistümer waren zugleich Zentren des materiellen Wohlstands. Hinzu kam, dass sich die mittelalterlichen Päpste nicht nur als Kirchenmänner verstanden, sondern auch weltliche Interessen verfolgten und in die italienische Politik involviert waren.
Der Streit zwischen Kaiser Heinrich IV. und Papst Gregor VII. kulminierte im Winter 1077 im Canossagang – der Kaiser zog im Büßergewand vor die päpstliche Burg Canossa, um seine Exkommunikation rückgängig zu machen. Damit war der Zwist aber nicht vom Tisch, es dauerte bis zum Wormser Konkordat 1122, bis im Investiturstreit eine Kompromisslösung gefunden werden konnte.
Die Streitigkeiten zwischen Kirche und Staat gingen indes weiter. Anfang des 13. Jahrhunderts ließ Frankreichs König Philipp der Schöne das Papsttum kapern und übersiedelte den Hauptsitz von Rom nach Avignon – auch in diesem Fall ging es um den Zugriff auf den materiellen Besitz der Kirche. Dieses sogenannte babylonische Exil dauerte bis 1377 und schwächte die päpstliche Autorität nachhaltig. In England wiederum führte der Konflikt zwischen König Heinrich VIII. und dem Papst im 16. Jahrhundert zum Bruch mit Rom. Der Hintergrund: Papst Clemens VII. wollte Heinrichs Ehe nicht annullieren, woraufhin der König trotzdem seine neue Favoritin, Anne Boleyn, heiratete und sich zum Oberhaupt der neu gegründeten anglikanischen Kirche machte.
HEILIGES RÖMISCHES REICH
Wenn man dem philosophischen Spötter Voltaire Glauben schenken will, dann war das Heilige Römische Reich Deutscher Nation „weder heilig noch römisch noch ein Reich“. Dafür aber war es ausgesprochen langlebig: Es existierte seit der Krönung Karls des Großen zum Kaiser im Jahr 800 bis zum Jahr 1806, als Franz II. in der Folge der napoleonischen Kriege die Kaiserkrone niederlegte. Zum damaligen Zeitpunkt war das Reich ein Schatten seiner selbst und zerrissen zwischen den Interessen seiner Mitglieder. Doch über Jahrhunderte hinweg bewährte es sich als Hüter der Stabilität in Mitteleuropa – und als der Ort, an dem die Mächtigen ihre Konflikte friedlich austragen konnten.
Um diese Aufgaben bewältigen zu können, bedurfte es einigen institutionellen Aufwands. Die Reichsstände bildeten einen Reichstag, der den Kaiser ernannte und (gegebenenfalls) eine Reichsarmee ins Feld schicken konnte. Der Kaiser wiederum war für die Bestellung des Reichshofrats und des Reichskammergerichts (mit-)zuständig. Die „Betriebsanleitung“für das Reich wurde im Lauf der Jahrhunderte geschrieben, einer der ersten Akte war das zuvor erwähnte Wormser Konkordat von 1122, die Struktur des Reichs stand im Großen und Ganzen am Ende des Dreißigjährigen Krieges fest und wurde im Rahmen des Westfälischen Friedens als „Ewiges Grundgesetz“des Reichs verankert.
NORD GEGEN SÜD
Die Vereinigten Staaten von Amerika sind, wie der Name schon sagt, kein homogener Zentralstaat, sondern ein freiwilliger Zusammenschluss von englischen Kolonien, die gemeinsam ihre Unabhängigkeit von der Krone erkämpft haben. Die Freiwilligkeit wurde Mitte des 19. Jahrhunderts auf die Probe gestellt, als sich die südlichen Bundesstaaten von den USA lossagten und eine Konföderation gründeten. Die Sezession der Südstaaten führte zum Bürgerkrieg, der von 1861 bis 1865 dauerte und geschätzte 560.000 Menschenleben kostete. Wieder einmal waren die Ursachen des Konflikts in Wirtschaft und Politik zu suchen: Die Sklavenhalter im Süden der USA genossen aus verfassungsrechtlichen Gründen überproportional hohen politischen Einfluss, sahen sich aber durch den dynamisch wachsenden Norden und den Beitritt neuer Bundesstaaten ohne Sklavenhaltung bedrängt. Der Norden wiederum wollte auf die wirtschaftlichen Befindlichkeiten des Südens, der Rohstoffe an britische Fabriken verkaufte, keine Rücksicht mehr nehmen, sondern hinter einem Wall aus Schutzzöllen eigene Industrien entwickeln und die Industrialisierung vorantreiben. Während Konföderierte der Ansicht waren, dass die Bundesstaaten der USA trotz der Staatsgründung keine Souveränität an die Bundesregierung abgetreten hatten, beriefen sich die Unionisten auf das Prinzip der Demokratie und warfen dem Süden vor, Mehrheitsentscheidungen durch Androhung der Sezession zu blockieren. Der Sieg des Nordens und die Wiedereingliederung der Südstaaten machte klar: Die Vereinigten Staaten sind ein Bundesstaat und kein Staatenbund.
OSTBLOCK/SOWJETUNION
Von Europagegnern wird das Schreckgespenst der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken immer dann aus der Asservatenkammer der Geschichte geholt, wenn es darum geht, vermeintliche Übergriffe Brüssels anzuprangern. Mit der EU hat die UdSSR – mit Ausnahme des Buchstabens U – gar nichts gemein. In ihrem Kern war die Sowjetunion ein Vehikel zur imperialen Machtausübung der größten Teilrepublik, Russland, über die anderen Mitglieder, eingebettet in die totalitäre Ideologie des Kommunismus. Die Eingliederung der „Bruderrepubliken“mit Waffengewalt – wie im Fall Litauens, Lettlands und Estlands – war die logische Konsequenz, und auch die unfreiwilligen Satelliten der Sowjetunion, die nach 1945 in den Einflussbereich der UdSSR kamen, mussten immer wieder schmerzhaft lernen, dass ein Austritt aus dem Ostblock für Moskau nicht infrage kam. Die dazugehörige „Breschnew-Doktrin“besagte, dass sozialistische Staaten nur beschränkt souverän waren. Bei einer vermeintlichen Bedrohung des Sozialismus (sprich Ungehorsam gegenüber Moskau) hatte die Rote Armee das Pouvoir, gewaltsam einzugreifen.
Parallel dazu bemühten sich die Kommunisten darum, die wirtschaftliche Abhängigkeit der Satelliten von der UdSSR zu erhöhen, indem diese in den Comecon-Wirtschaftsverbund eingespannt wurden. Für die Teilnehmer bedeutet das eine zentral verordnete wirtschaftliche Spezialisierung, die oftmals an den tatsächlichen ökonomischen Bedürfnissen vorbeiging und den Interessen der Sowjetunion untergeordnet war. Das Scheitern der Planwirtschaft besiegelte das Schicksal des Ostblocks.