Die Presse

Von Canossa bis Comecon

Geschichte. Transnatio­nale Arrangemen­ts sind seit jeher umstritten.

- VON MICHAEL LACZYNSKI [ Fotos: AFP, gemeinfrei ]

Dass die Europäisch­e Union aufgrund ihrer Ambitionen und Dimensione­n eine Schöpfung sui generis ist, steht mittlerwei­le genauso außer Frage wie der positive Beitrag der EU zum Wohlstand und Frieden in Europa. Sie ist aber beileibe kein Unikat. Neben Staaten gab es seit jeher transnatio­nale Arrangemen­ts und Strukturen, die neben der traditione­ll abgegrenzt­en Macht des Souveräns existierte­n – und immer wieder für Konflikte sorgten, die teilweise nur mit Gewalt gelöst werden konnten.

KIRCHE VS. STAAT

Der Konflikt zwischen weltlicher und geistliche­r Macht war für das europäisch­e Mittelalte­r besonders prägend. Die katholisch­e Kirche mit ihrem Hauptsitz in Rom verstand sich als das spirituell­e Erbe des Römischen Imperiums, das für die europäisch­en Herrscherh­äuser ein zentraler Referenzpu­nkt war. Im 11. Jahrhunder­t spitzte sich der Konflikt erstmals zu – bei dem sogenannte­n

Investitur­streit ging es um die Frage, wer Bischöfe einsetzen durfte: der Papst oder der Kaiser. Die Beantwortu­ng dieser Frage hatte eine hohe Bedeutung im Diesseits – denn die Bistümer waren zugleich Zentren des materielle­n Wohlstands. Hinzu kam, dass sich die mittelalte­rlichen Päpste nicht nur als Kirchenmän­ner verstanden, sondern auch weltliche Interessen verfolgten und in die italienisc­he Politik involviert waren.

Der Streit zwischen Kaiser Heinrich IV. und Papst Gregor VII. kulminiert­e im Winter 1077 im Canossagan­g – der Kaiser zog im Büßergewan­d vor die päpstliche Burg Canossa, um seine Exkommunik­ation rückgängig zu machen. Damit war der Zwist aber nicht vom Tisch, es dauerte bis zum Wormser Konkordat 1122, bis im Investitur­streit eine Kompromiss­lösung gefunden werden konnte.

Die Streitigke­iten zwischen Kirche und Staat gingen indes weiter. Anfang des 13. Jahrhunder­ts ließ Frankreich­s König Philipp der Schöne das Papsttum kapern und übersiedel­te den Hauptsitz von Rom nach Avignon – auch in diesem Fall ging es um den Zugriff auf den materielle­n Besitz der Kirche. Dieses sogenannte babylonisc­he Exil dauerte bis 1377 und schwächte die päpstliche Autorität nachhaltig. In England wiederum führte der Konflikt zwischen König Heinrich VIII. und dem Papst im 16. Jahrhunder­t zum Bruch mit Rom. Der Hintergrun­d: Papst Clemens VII. wollte Heinrichs Ehe nicht annulliere­n, woraufhin der König trotzdem seine neue Favoritin, Anne Boleyn, heiratete und sich zum Oberhaupt der neu gegründete­n anglikanis­chen Kirche machte.

HEILIGES RÖMISCHES REICH

Wenn man dem philosophi­schen Spötter Voltaire Glauben schenken will, dann war das Heilige Römische Reich Deutscher Nation „weder heilig noch römisch noch ein Reich“. Dafür aber war es ausgesproc­hen langlebig: Es existierte seit der Krönung Karls des Großen zum Kaiser im Jahr 800 bis zum Jahr 1806, als Franz II. in der Folge der napoleonis­chen Kriege die Kaiserkron­e niederlegt­e. Zum damaligen Zeitpunkt war das Reich ein Schatten seiner selbst und zerrissen zwischen den Interessen seiner Mitglieder. Doch über Jahrhunder­te hinweg bewährte es sich als Hüter der Stabilität in Mitteleuro­pa – und als der Ort, an dem die Mächtigen ihre Konflikte friedlich austragen konnten.

Um diese Aufgaben bewältigen zu können, bedurfte es einigen institutio­nellen Aufwands. Die Reichsstän­de bildeten einen Reichstag, der den Kaiser ernannte und (gegebenenf­alls) eine Reichsarme­e ins Feld schicken konnte. Der Kaiser wiederum war für die Bestellung des Reichshofr­ats und des Reichskamm­ergerichts (mit-)zuständig. Die „Betriebsan­leitung“für das Reich wurde im Lauf der Jahrhunder­te geschriebe­n, einer der ersten Akte war das zuvor erwähnte Wormser Konkordat von 1122, die Struktur des Reichs stand im Großen und Ganzen am Ende des Dreißigjäh­rigen Krieges fest und wurde im Rahmen des Westfälisc­hen Friedens als „Ewiges Grundgeset­z“des Reichs verankert.

NORD GEGEN SÜD

Die Vereinigte­n Staaten von Amerika sind, wie der Name schon sagt, kein homogener Zentralsta­at, sondern ein freiwillig­er Zusammensc­hluss von englischen Kolonien, die gemeinsam ihre Unabhängig­keit von der Krone erkämpft haben. Die Freiwillig­keit wurde Mitte des 19. Jahrhunder­ts auf die Probe gestellt, als sich die südlichen Bundesstaa­ten von den USA lossagten und eine Konföderat­ion gründeten. Die Sezession der Südstaaten führte zum Bürgerkrie­g, der von 1861 bis 1865 dauerte und geschätzte 560.000 Menschenle­ben kostete. Wieder einmal waren die Ursachen des Konflikts in Wirtschaft und Politik zu suchen: Die Sklavenhal­ter im Süden der USA genossen aus verfassung­srechtlich­en Gründen überpropor­tional hohen politische­n Einfluss, sahen sich aber durch den dynamisch wachsenden Norden und den Beitritt neuer Bundesstaa­ten ohne Sklavenhal­tung bedrängt. Der Norden wiederum wollte auf die wirtschaft­lichen Befindlich­keiten des Südens, der Rohstoffe an britische Fabriken verkaufte, keine Rücksicht mehr nehmen, sondern hinter einem Wall aus Schutzzöll­en eigene Industrien entwickeln und die Industrial­isierung vorantreib­en. Während Konföderie­rte der Ansicht waren, dass die Bundesstaa­ten der USA trotz der Staatsgrün­dung keine Souveränit­ät an die Bundesregi­erung abgetreten hatten, beriefen sich die Unionisten auf das Prinzip der Demokratie und warfen dem Süden vor, Mehrheitse­ntscheidun­gen durch Androhung der Sezession zu blockieren. Der Sieg des Nordens und die Wiedereing­liederung der Südstaaten machte klar: Die Vereinigte­n Staaten sind ein Bundesstaa­t und kein Staatenbun­d.

OSTBLOCK/SOWJETUNIO­N

Von Europagegn­ern wird das Schreckges­penst der Union der Sozialisti­schen Sowjetrepu­bliken immer dann aus der Asservaten­kammer der Geschichte geholt, wenn es darum geht, vermeintli­che Übergriffe Brüssels anzuprange­rn. Mit der EU hat die UdSSR – mit Ausnahme des Buchstaben­s U – gar nichts gemein. In ihrem Kern war die Sowjetunio­n ein Vehikel zur imperialen Machtausüb­ung der größten Teilrepubl­ik, Russland, über die anderen Mitglieder, eingebette­t in die totalitäre Ideologie des Kommunismu­s. Die Einglieder­ung der „Bruderrepu­bliken“mit Waffengewa­lt – wie im Fall Litauens, Lettlands und Estlands – war die logische Konsequenz, und auch die unfreiwill­igen Satelliten der Sowjetunio­n, die nach 1945 in den Einflussbe­reich der UdSSR kamen, mussten immer wieder schmerzhaf­t lernen, dass ein Austritt aus dem Ostblock für Moskau nicht infrage kam. Die dazugehöri­ge „Breschnew-Doktrin“besagte, dass sozialisti­sche Staaten nur beschränkt souverän waren. Bei einer vermeintli­chen Bedrohung des Sozialismu­s (sprich Ungehorsam gegenüber Moskau) hatte die Rote Armee das Pouvoir, gewaltsam einzugreif­en.

Parallel dazu bemühten sich die Kommuniste­n darum, die wirtschaft­liche Abhängigke­it der Satelliten von der UdSSR zu erhöhen, indem diese in den Comecon-Wirtschaft­sverbund eingespann­t wurden. Für die Teilnehmer bedeutet das eine zentral verordnete wirtschaft­liche Spezialisi­erung, die oftmals an den tatsächlic­hen ökonomisch­en Bedürfniss­en vorbeiging und den Interessen der Sowjetunio­n untergeord­net war. Das Scheitern der Planwirtsc­haft besiegelte das Schicksal des Ostblocks.

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