Nein. In einer Union mit 27 Mitgliedstaaten ist das Festhalten an nationalen Vetos kontraproduktiv. Es verlangsamt den Entscheidungsprozess und diskreditiert das gemeinsame Vorgehen. Mehrheitsentscheidungen brauchen allerdings eine Akzeptanz, die derzeit
Brüssel/Wien. Warum hat das Europaparlament mit Brüssel und Straßburg zwei Standorte für Sitzungen, obwohl das aller finanzieller und ökologischer Vernunft widerspricht? Weil Frankreich eine Zusammenlegung nach Brüssel – für das ein einstimmiger Beschluss notwendig wäre – durch ein Veto verhindert. Warum gibt es keine EUweite Digitalsteuer, obwohl Internetkonzerne wie Google oder Facebook in Europa ohne Beitrag für die Allgemeinheit ihren Geschäften nachgehen? Weil Irland um seinen Standort für derartige Betriebe bangt. Warum kommen Entscheidungen über Menschenrechtsverletzungen in China oder rasche Sanktionen gegen eine Wahlfälschung in Belarus nicht zustande? Weil einzelstaatliche Interessen, wie zuletzt jene von Zypern, dagegen gesprochen haben. Das sind nur einige Beispiele, die aufzeigen, wie Vetos die Europäische Union lähmen.
Die EU ist allein durch ihre wirtschaftliche Dominanz eine der großen Weltmächte. Sie bringt diese Kraft allerdings nicht auf den Boden, weil sie sich selbst auf diese Weise hemmt. In außenpolitischen und sicherheitspolitischen Entscheidungen kann jedes Mitgliedsland ein gemeinsames Vorgehen behindern. Alle Beschlüsse müssen einstimmig getroffen werden. Das öffnet nicht nur die Option für eine Junktimierung von Entscheidungen mit ganz anderen nationalen Interessen. Es macht die EU träge – mit fatalen Folgen. „Wenn wir nicht schneller, klarer und mutiger bei außenpolitischen Entscheidungen werden, dürfen wir uns nicht wundern, dass wir bei Konflikten in unserer Nachbarschaft machtlos aussehen“, kritisierte der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, Anfang dieses Jahres. Die EU müsse lernen, konsequent mit einer Stimme zu sprechen. „Solang wir die Kakofonie von 27 möglichen Vetos bei jeder außenpolitischen Entscheidung haben, würde ich als Schwabe sagen: Da ist Hopfen und Malz verloren.“
„Dunkelkammer“der Einstimmigkeit
Die Außen- und Sicherheitspolitik ist neben der Steuerpolitik einer der wichtigsten Politikbereiche der EU, bei dem bei jedem Beschluss Einstimmigkeit notwendig ist. Weitere Bereiche sind Bürgerrechte, der EU-Haushalt und Fragen der sozialen Sicherheit, die im Einzelfall zwar zu langen Verhandlungen, nicht aber zu einer Lähmung der Union beitragen.
In zentralen Politikfeldern führt die Vetomöglichkeit jedes Landes dazu, dass die EU nicht flexibel reagieren kann. Dabei konkurriert sie mit Ländern wie China oder Russland, die insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik Entscheidungen abseits jeder demokratischen Kontrolle über Nacht treffen können. Europa, so der ehemalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, sei in der „Dunkelkammer“der Einstimmigkeit gefangen. Das betrifft auch das gemeinsame Vorgehen in den Vereinten Nationen oder weiteren internationalen Organisationen. Juncker kritisierte dies anhand eines konkreten Beispiels: Es gehe nicht an, dass die EU sich in der UN-Menschenrechtskommission nicht zu Menschenrechtsverletzungen in China äußern könne, weil ein einzelnes Mitgliedsland dies verhindere.
Die EU schwächt sich auch in Fragen des internationalen Handels oder bei einem internationalen Vorgehen gegen Steuerbetrug selbst, wenn es ihr nicht gelingt, mit einer Stimme aufzutreten. So verständlich manche Vorbehalte und nationalen Befindlichkeiten sein mögen: Die Möglichkeit des Vetos führt zur völligen Verzerrung der gemeinsamen Interessen und erschwert ein glaubwürdiges Auftreten. Seit 2010 bauen die EU-Mitgliedstaaten einen gemeinsamen Auswärtigen Dienst (EAD) mit mittlerweile 145 Delegationen in Drittstaaten auf. Die Diplomaten kommen aus allen Mitgliedstaaten. Die Aufgabe des EAD ist es, weltweit die Interessen der 27 Mitgliedstaaten zu vertreten. Doch ihre Aufgabe wird durch das Störfeuer einzelner Länder allzu oft behindert. Geht es um eine gemeinsame Linie gegenüber Russland, um eine einheitliche Haltung im syrischen Bürgerkrieg, bei der Befriedung Libyens, bei der Besteuerung großer Internetkonzerne: Einzelne EU-Mitglieder stehen dem Mehrwert eines gemeinsamen Vorgehens im Wege.
„Warum handelt die EU nicht?“
Der dadurch entstandene Imageschaden wirkt nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. „Warum handelt die EU nicht?“, fragen Bürger, Unternehmer und Interessenvertretungen, die mit Unrecht und Diskriminierung durch internationale Partner konfrontiert sind.
Die Schuldigen daran sind nicht allein bei den Mitgliedstaaten mit ihren Einzelinteressen zu suchen. Sie finden sich auch bei jenen, die der Europäischen Union aus ideologischen Gründen skeptisch gegenüberstehen. Denn sie verhindern, dass gemeinsame Interessen über nationale Interessen eingeordnet werden. Bevor nicht die Akzeptanz für generelle Mehrheitsentscheidungen steigt, werden jene die Oberhand behalten, die sich gegen eine Weiterentwicklung der EU stemmen. Dabei sind die wirklichen Zukunftsfragen wie der Klimaschutz oder eine Gestaltung der Globalisierung durch mehr Steuergerechtigkeit und mehr soziale Gerechtigkeit nur durch die geballte Kraft aller Mitgliedstaaten zu lösen. „Wer eine bessere und handlungsfähigere EU will, muss die Beschlussmechanismen ändern“, appelliert der Vizepräsident des Europaparlaments, ÖVP-Europaabgeordneter Othmar Karas, an die EURegierungen.
Befremdlich an der weitverbreiteten Skepsis zur Abschaffung des Vetos ist, dass Mehrheitsentscheidungen in den meisten Politikfeldern der EU – insbesondere im Binnenmarkt – bereits seit vielen Jahren einwandfrei funktionieren. Schon bisher fällen die EU-Regierungen im Rat der EU wichtige Beschlüsse mit einfacher oder qualifizierter Mehrheit. Für Letztere sind 55 Prozent der EU-Regierungen (15 von 27) notwendig, die zumindest 65 Prozent der Gesamtbevölkerung repräsentieren müssen. Die EU-Regierungen hätten sogar die Möglichkeit, weitere Politikbereiche in diese Form der qualifizierten Mehrheit überzuführen. Einziges Problem: Sie brauchten dafür einen einstimmigen Beschluss.