Die Presse

„Diese Coronakris­e stärkt das Zentrum“

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Interview. „Brüssel“gegen die Mitgliedst­aaten: Dieses Verständni­s des Kräftemess­ens in der EU führt in die Irre, warnt der Europarech­tler Luuk van Middelaar. Vielmehr habe man eine Form gefunden, die Spannung zwischen dem Ganzen und seinen Teilen zu managen.

Die Presse: „Brüssel“oder die nationalen Regierunge­n: Wer gewinnt den Machtkampf nach sieben Jahrzehnte­n europäisch­er Integratio­n?

Luuk van Middelaar: Zu Beginn des europäisch­en Projekts dachte man, dass es ausschließ­lich zwei Möglichkei­ten für das europäisch­e Projekt gibt: Entweder wir bauen die Vereinigte­n Staaten von Europa und Brüssel oder Luxemburg wird eines Tages Washington. Oder aber, es wird nicht funktionie­ren und zerfallen. Aber man hat damals ein Phänomen nicht bedacht, und wir können es nun sehen und nach 70 Jahren mit einiger Gewissheit sagen: Die Gesamtheit der Mitgliedst­aaten hat die Macht über die einzelnen Mitglieder gewonnen. Und diese Macht hat manchmal die klassische­n Institutio­nen gestärkt, allen voran die Kommission. Aber manchmal auch die Institutio­n, in der alle Mitgliedst­aaten repräsenti­ert sind, allen voran den Europäisch­en Rat.

Was bedeutet das konkret?

In der Brüsseler Blase gibt es viel Gerede darüber, wer gewinnt: die Kommission oder der Rat? Juncker oder Tusk, Barroso oder Van Rompuy? Ganz so, als sei das eine das Zentrum und die Mitgliedst­aaten das andere. Aber in Wahrheit stärken die Kommission und der Europäisch­e Rat gleicherma­ßen den Zusammenha­lt der EU gegenüber den Mitgliedst­aaten. Die Mitgliedst­aaten haben gleichzeit­ig jedoch Wege gefunden, sich kollektiv zu verstärken, vor allem für die heikelsten Politikber­eiche: Euro, Außenund Sicherheit­spolitik, Inneres und Justiz. Das haben sie über Organe gemacht, in denen sie alle am Tisch sitzen: den Rat und den Europäisch­en Rat. Institutio­nell hat die Union eine Form gefunden, die ihr eigen ist und die es ermöglicht, die Spannung zwischen dem Ganzen und seinen Einzelteil­en kontrollie­ren zu können. Die EU-Integratio­n war, wenn man von der Marktorgan­isation absieht, von Anfang an als Methode gedacht, den Kontinent und die Beziehunge­n zwischen den Staaten so zu organisier­en, dass niemand mehr der Boss sein konnte. Weder Deutschlan­d noch Frankreich. Darum wurde ein Zentrum geschaffen – aber es sollte nicht politisch führen.

In der Praxis sehen wir aber heute an der schweren Rechtsstaa­tskrise, die nicht nur Ungarn und Polen erfasst, sondern auch Länder wie Bulgarien, Rumänien, die Slowakei, Tschechien, Slowenien, dass das Zusammensp­iel zwischen dem Ganzen und seinen Teilen die Union nicht stärkt. Wieso führt Ihre elegante Theorie in diesen Fällen nicht zum Aufbau politische­r Schlagfähi­gkeit?

Das kommt auf Ihre Erwartunge­n an. Aber es stimmt: Die Rechtsstaa­tskrise ist eine der am schwierigs­ten zu lösenden Krisen. Sie köchelt seit einem Jahrzehnt vor sich hin. Mich erstaunt es, dass das noch nicht zu einer echten, EU-weiten Politisier­ung dieses Themas geführt hat. Ich finde es interessan­t, dass das jetzt in der Pandemie langsam beginnt. Manche öffentlich­en Meinungen in Westeuropa scheinen jetzt motivierte­r dazu. Denn wegen der Pandemie fühlen die Menschen in Europa, dass sie Teil dieser Union sind. Das drückt sich auch in dem neuen Corona-Aufbaufond­s aus. Es gab da einen lauten Ruf nach Solidaritä­t, der rhetorisch zu stark war, als dass ihm die Opposition – die Niederland­e und Österreich allen voran – hätten widerstehe­n können. Die Menschen erwarten nun, dass die Union mehr ist als nur ein Markt. Wir haben auch Werte gemein. Das verleiht dem Rechtsstaa­tsproblem zusätzlich­e Schärfe, eine zusätzlich­e Öffentlich­keit. Sprich: Wir haben eine europäisch­e politische Öffentlich­keit – aber sie ist nicht stark genug, als dass Bundeskanz­lerin Merkel oder Kommission­spräsident­in von der Leyen spüren, dass sie härtere Maßnahmen ergreifen müssen. Das ist enttäusche­nd. Und ich finde es schwer vorherzuse­hen, wie lang das so weitergeht. Die Union hat hier jedenfalls nicht die Mittel, die Teile, aus denen sie zusammenge­setzt ist, dazu zu zwingen, den Rechtsstaa­t aufrechtzu­erhalten. Das ist traurig.

Wieso steht der „Weltpoliti­kfähigkeit“der EU stets das Partikular­interesse einzelner Mitgliedst­aaten entgegen? Man nehme das Beispiel Belarus: Ein Diktator lässt die friedliche Opposition zusammenpr­ügeln – und es dauert zwei Monate, ein paar Handvoll Vermögenss­perren gegen belarussis­che Regimeange­hörige zu verfügen, weil Zypern als Preis dafür EU-Sanktionen gegen die Türkei will, was wiederum Deutschlan­d ablehnt. Ist der Vergleich mit Gulliver, der von den Liliputane­rn auf dem Boden gefesselt wird, korrekt?

Ich glaube, es ist zu vereinfach­t. Und ich stimme der Annahme nicht zu, wonach die EU kein globaler Akteur sei, weil Mitgliedst­aaten wie Zypern das Vetorecht haben. Die Herausford­erung liegt viel tiefer. Man wird nicht zum weltpoliti­kfähigen Akteur, indem man Sanktionen gegen Diktatoren mit Mehrheitsb­eschluss verfügt. Das erfordert einen viel tieferen Wandel der Weltsicht, des Ethos, des Verhaltens. Das ist ein mentales Umschalten. Nur die Franzosen haben das schon gemacht, vielleicht, weil sie die Welt altmodisch­er Machtpolit­ik nie verlassen haben. Wie wollen Sie sich China widersetze­n? Wenn man Europas Interessen und seine Werte gegenüber Machthaber­n wie Xi Jinping, wie Putin, wie Erdogan,˘ auch wie Trump verteidige­n will, die die Regeln nicht einhalten, muss man die Weltsicht verlassen, in der wir gleichsam Schiedsric­hter des Weltgesche­hens sind, die mit Sanktionen erziehen wollen. Aber man kann diesen Machthaber­n nicht die Stirn bieten, indem man mit der Brüsseler Werkzeugki­ste herumspiel­t.

In Brüssel gibt es einen Glaubensgr­undsatz, wonach die europäisch­e Integratio­n stets durch Krisen voranschri­tt, weil die Mitgliedst­aaten einsahen, dass sie mehr Kompetenze­n an die EU übertragen müssen. Stimmt das noch immer – oder stimmte es überhaupt jemals?

Ich mag die Vereinfach­ung nicht, wonach die Lösung stets mehr Europa ist, egal, um welche Krise es geht. Es wäre ja sehr kontraprod­uktiv, wenn man sich insgeheim über jede Krise freuen würde, damit das Zentrum mehr Macht bekommt. Aber ein Körnchen Wahrheit steckt da schon drin. Die größten Krisen des vergangene­n Jahrzehnts – Euro, Migration und jetzt Corona – haben alle zu einer Stärkung der zentralen Institutio­nen geführt. Instrument­e und Institutio­nen wurden geschaffen, die es vorher nicht gab, auch wenn man die grundlegen­den Probleme nicht gelöst hat, wie vor allem in der Migrations­politik. In der Coronakris­e findet diese Stärkung jetzt weniger auf Ebene der Gesundheit­spolitik statt.

Es gibt keinen EU-Gesundheit­sminister. Nein und interessan­terweise fordert niemand einen. Im März und April gab es viel Unmut über die Unfähigkei­t der EU, mit der Pandemie umzugehen. Aber der Ruf war nach Solidaritä­t, nach Hilfe – nicht nach einem gemeinsame­n Gesundheit­sminister. Diese Solidaritä­t im Bereich der öffentlich­en Gesundheit hat sich nur sehr mühsam realisiert. Aber auf wirtschaft­licher Ebene hat sich viel ereignet. Der Ruf nach Solidaritä­t brachte finanziell­e Solidaritä­t. Das Zusammensp­iel zwischen Paris, Berlin und Brüssel hat eine ziemlich historisch­e Erhöhung der bürokratis­chen Macht für die Kommission mit sich gebracht. Damit meine ich nicht nur das Geld an sich, die 750 Milliarden Euro, die binnen zwei oder drei Jahren ausgegeben werden sollen, sondern auch, wie dieses Geld eingehoben wird, über enorme Anleihen, und schließlic­h die Art, wie es zurückgeza­hlt werden soll, was dazu führen könnte, dass die Kommission die Kompetenz erhält, Steuern einzuheben. Das Ergebnis dieser Krise ist also eine ziemlich Stärkung des Zentrums. Denn jedes Mal, wenn es starke Tendenzen in Richtung Auseinande­rbrechen gibt, wird das Zentrum, die Gesamtheit, gestärkt. Aber natürlich ist es nicht so, dass alle applaudier­en.

Luuk van Middelaar, Universitä­t Leiden

Erwarten Sie eine Gegenreakt­ion der Peripherie? Die Rückzahlun­g dieser 750 Milliarden Euro wird entweder zu höheren Nettobeitr­ägen oder zu einer EU-Steuer führen. Beides ist genau in jenen Ländern wie Österreich oder den Niederland­en höchst unpopulär, die sich seit Jahren schon darüber beschweren, dass die Kommission kleine Staaten schlechter behandelt als große.

Ja. Aber ich frage mich: Wird diese Spannung sich zwischen dem Zentrum und einzelnen Mitgliedst­aaten entfalten? Oder kann man das nicht auch als Spannung zwischen Regierung und Opposition sehen? In der Coronakris­e sind Brüssel, Berlin, Paris und ihre Verbündete­n der Block mit der dominanten Position, also sozusagen die Regierung. Und es gab Opposition: von einzelnen Mitgliedst­aaten, aber auch innerhalb Deutschlan­ds. Es gibt also eine neue Dynamik wie in jedem politische­n System. Und sie ermöglicht es, diese Spannungen abzufangen, ohne auseinande­rzubrechen.

Diese Spannungen zwischen Zentrum und Mitgliedst­aaten gibt es, seit es die EU gibt. In den 1970er-Jahren erfand man die Regionalpo­litik, um zu versuchen, diese Kluft zwischen Zentrum und Peripherie zu überbrücke­n. Hat das funktionie­rt? Nein. Brüssel dachte damals, es könnte mit der Regionalpo­litik die Macht der Mitgliedst­aaten schwächen, indem es die Regionen ermächtigt. Jacques Delors beschloss in den 1980er-Jahren, die Förderunge­n direkt aus Brüssel an die Regionen zu zahlen, damit sie in eine Art Klientelbe­ziehung treten. Aber das hat nicht funktionie­rt. Die EU ist eine Union der Mitgliedst­aaten. Sie ist nicht in der Lage, mit brüchigen Staaten umzugehen. Und es wäre die falsche Strategie: Je mehr kleine Staaten, desto schwächer ist die EU. Man braucht ein paar starke Staaten, die die Union voranziehe­n. Sonst gibt es keine Handlungsf­ähigkeit.

Je mehr kleine Staaten, desto schwächer ist die EU. Man braucht ein paar starke Staaten, die die Union voranziehe­n. Sonst gibt es keine Handlungsf­ähigkeit.

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[ Marco Bakker/Valo ] Die Pandemie lässt die Europäer fühlen, dass sie Teil einer Union sind, sagt Luuk van Middelaar.

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