„Diese Coronakrise stärkt das Zentrum“
Interview. „Brüssel“gegen die Mitgliedstaaten: Dieses Verständnis des Kräftemessens in der EU führt in die Irre, warnt der Europarechtler Luuk van Middelaar. Vielmehr habe man eine Form gefunden, die Spannung zwischen dem Ganzen und seinen Teilen zu managen.
Die Presse: „Brüssel“oder die nationalen Regierungen: Wer gewinnt den Machtkampf nach sieben Jahrzehnten europäischer Integration?
Luuk van Middelaar: Zu Beginn des europäischen Projekts dachte man, dass es ausschließlich zwei Möglichkeiten für das europäische Projekt gibt: Entweder wir bauen die Vereinigten Staaten von Europa und Brüssel oder Luxemburg wird eines Tages Washington. Oder aber, es wird nicht funktionieren und zerfallen. Aber man hat damals ein Phänomen nicht bedacht, und wir können es nun sehen und nach 70 Jahren mit einiger Gewissheit sagen: Die Gesamtheit der Mitgliedstaaten hat die Macht über die einzelnen Mitglieder gewonnen. Und diese Macht hat manchmal die klassischen Institutionen gestärkt, allen voran die Kommission. Aber manchmal auch die Institution, in der alle Mitgliedstaaten repräsentiert sind, allen voran den Europäischen Rat.
Was bedeutet das konkret?
In der Brüsseler Blase gibt es viel Gerede darüber, wer gewinnt: die Kommission oder der Rat? Juncker oder Tusk, Barroso oder Van Rompuy? Ganz so, als sei das eine das Zentrum und die Mitgliedstaaten das andere. Aber in Wahrheit stärken die Kommission und der Europäische Rat gleichermaßen den Zusammenhalt der EU gegenüber den Mitgliedstaaten. Die Mitgliedstaaten haben gleichzeitig jedoch Wege gefunden, sich kollektiv zu verstärken, vor allem für die heikelsten Politikbereiche: Euro, Außenund Sicherheitspolitik, Inneres und Justiz. Das haben sie über Organe gemacht, in denen sie alle am Tisch sitzen: den Rat und den Europäischen Rat. Institutionell hat die Union eine Form gefunden, die ihr eigen ist und die es ermöglicht, die Spannung zwischen dem Ganzen und seinen Einzelteilen kontrollieren zu können. Die EU-Integration war, wenn man von der Marktorganisation absieht, von Anfang an als Methode gedacht, den Kontinent und die Beziehungen zwischen den Staaten so zu organisieren, dass niemand mehr der Boss sein konnte. Weder Deutschland noch Frankreich. Darum wurde ein Zentrum geschaffen – aber es sollte nicht politisch führen.
In der Praxis sehen wir aber heute an der schweren Rechtsstaatskrise, die nicht nur Ungarn und Polen erfasst, sondern auch Länder wie Bulgarien, Rumänien, die Slowakei, Tschechien, Slowenien, dass das Zusammenspiel zwischen dem Ganzen und seinen Teilen die Union nicht stärkt. Wieso führt Ihre elegante Theorie in diesen Fällen nicht zum Aufbau politischer Schlagfähigkeit?
Das kommt auf Ihre Erwartungen an. Aber es stimmt: Die Rechtsstaatskrise ist eine der am schwierigsten zu lösenden Krisen. Sie köchelt seit einem Jahrzehnt vor sich hin. Mich erstaunt es, dass das noch nicht zu einer echten, EU-weiten Politisierung dieses Themas geführt hat. Ich finde es interessant, dass das jetzt in der Pandemie langsam beginnt. Manche öffentlichen Meinungen in Westeuropa scheinen jetzt motivierter dazu. Denn wegen der Pandemie fühlen die Menschen in Europa, dass sie Teil dieser Union sind. Das drückt sich auch in dem neuen Corona-Aufbaufonds aus. Es gab da einen lauten Ruf nach Solidarität, der rhetorisch zu stark war, als dass ihm die Opposition – die Niederlande und Österreich allen voran – hätten widerstehen können. Die Menschen erwarten nun, dass die Union mehr ist als nur ein Markt. Wir haben auch Werte gemein. Das verleiht dem Rechtsstaatsproblem zusätzliche Schärfe, eine zusätzliche Öffentlichkeit. Sprich: Wir haben eine europäische politische Öffentlichkeit – aber sie ist nicht stark genug, als dass Bundeskanzlerin Merkel oder Kommissionspräsidentin von der Leyen spüren, dass sie härtere Maßnahmen ergreifen müssen. Das ist enttäuschend. Und ich finde es schwer vorherzusehen, wie lang das so weitergeht. Die Union hat hier jedenfalls nicht die Mittel, die Teile, aus denen sie zusammengesetzt ist, dazu zu zwingen, den Rechtsstaat aufrechtzuerhalten. Das ist traurig.
Wieso steht der „Weltpolitikfähigkeit“der EU stets das Partikularinteresse einzelner Mitgliedstaaten entgegen? Man nehme das Beispiel Belarus: Ein Diktator lässt die friedliche Opposition zusammenprügeln – und es dauert zwei Monate, ein paar Handvoll Vermögenssperren gegen belarussische Regimeangehörige zu verfügen, weil Zypern als Preis dafür EU-Sanktionen gegen die Türkei will, was wiederum Deutschland ablehnt. Ist der Vergleich mit Gulliver, der von den Liliputanern auf dem Boden gefesselt wird, korrekt?
Ich glaube, es ist zu vereinfacht. Und ich stimme der Annahme nicht zu, wonach die EU kein globaler Akteur sei, weil Mitgliedstaaten wie Zypern das Vetorecht haben. Die Herausforderung liegt viel tiefer. Man wird nicht zum weltpolitikfähigen Akteur, indem man Sanktionen gegen Diktatoren mit Mehrheitsbeschluss verfügt. Das erfordert einen viel tieferen Wandel der Weltsicht, des Ethos, des Verhaltens. Das ist ein mentales Umschalten. Nur die Franzosen haben das schon gemacht, vielleicht, weil sie die Welt altmodischer Machtpolitik nie verlassen haben. Wie wollen Sie sich China widersetzen? Wenn man Europas Interessen und seine Werte gegenüber Machthabern wie Xi Jinping, wie Putin, wie Erdogan,˘ auch wie Trump verteidigen will, die die Regeln nicht einhalten, muss man die Weltsicht verlassen, in der wir gleichsam Schiedsrichter des Weltgeschehens sind, die mit Sanktionen erziehen wollen. Aber man kann diesen Machthabern nicht die Stirn bieten, indem man mit der Brüsseler Werkzeugkiste herumspielt.
In Brüssel gibt es einen Glaubensgrundsatz, wonach die europäische Integration stets durch Krisen voranschritt, weil die Mitgliedstaaten einsahen, dass sie mehr Kompetenzen an die EU übertragen müssen. Stimmt das noch immer – oder stimmte es überhaupt jemals?
Ich mag die Vereinfachung nicht, wonach die Lösung stets mehr Europa ist, egal, um welche Krise es geht. Es wäre ja sehr kontraproduktiv, wenn man sich insgeheim über jede Krise freuen würde, damit das Zentrum mehr Macht bekommt. Aber ein Körnchen Wahrheit steckt da schon drin. Die größten Krisen des vergangenen Jahrzehnts – Euro, Migration und jetzt Corona – haben alle zu einer Stärkung der zentralen Institutionen geführt. Instrumente und Institutionen wurden geschaffen, die es vorher nicht gab, auch wenn man die grundlegenden Probleme nicht gelöst hat, wie vor allem in der Migrationspolitik. In der Coronakrise findet diese Stärkung jetzt weniger auf Ebene der Gesundheitspolitik statt.
Es gibt keinen EU-Gesundheitsminister. Nein und interessanterweise fordert niemand einen. Im März und April gab es viel Unmut über die Unfähigkeit der EU, mit der Pandemie umzugehen. Aber der Ruf war nach Solidarität, nach Hilfe – nicht nach einem gemeinsamen Gesundheitsminister. Diese Solidarität im Bereich der öffentlichen Gesundheit hat sich nur sehr mühsam realisiert. Aber auf wirtschaftlicher Ebene hat sich viel ereignet. Der Ruf nach Solidarität brachte finanzielle Solidarität. Das Zusammenspiel zwischen Paris, Berlin und Brüssel hat eine ziemlich historische Erhöhung der bürokratischen Macht für die Kommission mit sich gebracht. Damit meine ich nicht nur das Geld an sich, die 750 Milliarden Euro, die binnen zwei oder drei Jahren ausgegeben werden sollen, sondern auch, wie dieses Geld eingehoben wird, über enorme Anleihen, und schließlich die Art, wie es zurückgezahlt werden soll, was dazu führen könnte, dass die Kommission die Kompetenz erhält, Steuern einzuheben. Das Ergebnis dieser Krise ist also eine ziemlich Stärkung des Zentrums. Denn jedes Mal, wenn es starke Tendenzen in Richtung Auseinanderbrechen gibt, wird das Zentrum, die Gesamtheit, gestärkt. Aber natürlich ist es nicht so, dass alle applaudieren.
Luuk van Middelaar, Universität Leiden
Erwarten Sie eine Gegenreaktion der Peripherie? Die Rückzahlung dieser 750 Milliarden Euro wird entweder zu höheren Nettobeiträgen oder zu einer EU-Steuer führen. Beides ist genau in jenen Ländern wie Österreich oder den Niederlanden höchst unpopulär, die sich seit Jahren schon darüber beschweren, dass die Kommission kleine Staaten schlechter behandelt als große.
Ja. Aber ich frage mich: Wird diese Spannung sich zwischen dem Zentrum und einzelnen Mitgliedstaaten entfalten? Oder kann man das nicht auch als Spannung zwischen Regierung und Opposition sehen? In der Coronakrise sind Brüssel, Berlin, Paris und ihre Verbündeten der Block mit der dominanten Position, also sozusagen die Regierung. Und es gab Opposition: von einzelnen Mitgliedstaaten, aber auch innerhalb Deutschlands. Es gibt also eine neue Dynamik wie in jedem politischen System. Und sie ermöglicht es, diese Spannungen abzufangen, ohne auseinanderzubrechen.
Diese Spannungen zwischen Zentrum und Mitgliedstaaten gibt es, seit es die EU gibt. In den 1970er-Jahren erfand man die Regionalpolitik, um zu versuchen, diese Kluft zwischen Zentrum und Peripherie zu überbrücken. Hat das funktioniert? Nein. Brüssel dachte damals, es könnte mit der Regionalpolitik die Macht der Mitgliedstaaten schwächen, indem es die Regionen ermächtigt. Jacques Delors beschloss in den 1980er-Jahren, die Förderungen direkt aus Brüssel an die Regionen zu zahlen, damit sie in eine Art Klientelbeziehung treten. Aber das hat nicht funktioniert. Die EU ist eine Union der Mitgliedstaaten. Sie ist nicht in der Lage, mit brüchigen Staaten umzugehen. Und es wäre die falsche Strategie: Je mehr kleine Staaten, desto schwächer ist die EU. Man braucht ein paar starke Staaten, die die Union voranziehen. Sonst gibt es keine Handlungsfähigkeit.
Je mehr kleine Staaten, desto schwächer ist die EU. Man braucht ein paar starke Staaten, die die Union voranziehen. Sonst gibt es keine Handlungsfähigkeit.