„Wir haben keine Leichen mehr im Keller“
Interview. Zwischen Finanzkrise und Coronapandemie. Der scheidende Verbund-Chef Wolfgang Anzengruber über zwölf Jahre im Chefsessel des wertvollsten Unternehmens des Landes und seine unpopulärste Entscheidung im Staatskonzern.
Die Presse: Herr Anzengruber, wenn man so will, haben Sie den Verbund von Krise zu Krise geführt. Zu Beginn stand die Finanzkrise, am Ende die Coronakrise. Was war in den zwölf Jahren am herausforderndsten? Wolfgang Anzengruber: Die Finanzkrise hat damals eigentlich nur die Finanzwirtschaft getroffen, die Nachfrage nach Strom war immer da. Auch danach hat es ein paar Krisen gegeben, ich erinnere nur an die Schuldenkrise und die Flüchtlingskrise. Der Verbund war in den vergangenen zwölf Jahren geprägt von massiven Veränderungen. Die größte Veränderung für uns war wohl der Ausstieg aus der fossilen Stromerzeugung. Ich habe von Beginn an gesagt: Wir investieren nicht mehr in CO2-emittierende Technologien und habe damals nicht unbedingt von allen Seiten Applaus dafür bekommen. Heute sehen wir, dass der Verbund in der Zeit viel stärker geworden ist. Wir haben keine Leichen mehr im Keller.
Welche Leichen im Keller haben Sie denn bei Ihrem Amtsantritt 2009 vorgefunden? Zu „Leichen“werden Geschäfte immer dann, wenn sich die Welt so weit ändert, dass die ursprünglichen Annahmen nicht mehr zutreffen. Es war sicher einmal legitim zu glauben, dass sich der Strommarkt in Frankreich und Italien liberalisieren wird und deshalb dort zu investieren. Aber es kam anders und die Investitionen haben nicht mehr gepasst. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: weiterschleppen oder sterben lassen. Das ist nie leicht. Aber der Verbund hat sein Portfolio bereinigt und sich von Frankreich, Italien und der Türkei getrennt.
Wie erleben Sie als Firmenchef die aktuelle Coronapandemie?
Diese Krise erfasst uns alle. Mitunter habe ich sogar den Eindruck, dass wir uns nur noch um Corona kümmern. Das ist auch verständlich, es ist eine sehr schwierige Zeit, aber wir werden sie mit Sicherheit überwinden. Deshalb ist es auch wichtig, heute schon daran zu denken, was danach sein wird. Wir brauchen positive Bilder, Geschichten und Visionen für die Zukunft, damit wir da wieder rauskommen. Eine solche Vision kann die Dekarbonisierung der Wirtschaft sein. Das Geld, der Wille und die Technologie sind da.
Von Ökostrom, Elektroautos und Wasserstoff hat die Branche auch vor zwölf Jahren schon gesprochen. Warum kommt der große Schub erst jetzt?
Als ich zum Verbund gekommen bin, lag der Strompreis bei 70 Euro je Megawattstunde (MWh) mit einer Prognose auf 100. Ein paar Jahre später lag er bei 20 Euro. Damals wurden so hohe Förderungen für Ökostrom ausgeschüttet, dass es kaum Investitionen außerhalb dieses Bereichs gab. Jetzt haben sich die EU und die einzelnen Staaten ganz andere Ziele gesetzt: Österreich will sich 2030 zu hundert Prozent mit CO2freiem Strom selbst versorgen. Da braucht man jeden grünen Strom, der irgendwie machbar ist. Und genau das führt zu Investitionen. Denn mit dem Tempo von heute werden wir dieses Ziel nicht erreichen.
Ist das österreichische Netz überhaupt bereit für hundert Prozent Ökostrom?
In seiner heutigen Form sicher nicht. Darum investieren allein wir in den nächsten neun Jahren 2,9 Milliarden Euro in die Netze. Wenn die Bevölkerung das akzeptiert und alles zeitgerecht umgesetzt werden kann, dann lässt sich das machen. Wir werden im Sommer große Überschüsse an erneuerbarem Strom haben und im Winter Defizite. Das müssen wir ausgleichen. Dazu steigt auch noch Deutschland komplett aus der Kohle- und Atomstromproduktion aus. Auch da fällt viel sichere Produktion weg.
Werden wir also noch einmal froh sein über französische AKW und polnische Kohlekraftwerke?
Das werden wir sehen. Die Atomkraftwerke in Frankreich sind schon alt. Sie werden uns nicht retten. Was wir brauchen, sind mehr Netze, intelligentere Netze und bessere Speicher. Grüner Wasserstoff kann hier ein Schlüssel sein. Als Speicher und für die Dekarbonisierung der Industrie. Heute macht Strom nur zwanzig Prozent vom Energiekuchen aus. Der Rest ist Kohle, Öl und Gas. Wenn wir das ersetzen wollen, brauchen wir viel mehr Strom als je zuvor.
Wie hat sich in den Jahren denn die Wirtschaftspolitik im Land verändert? Muss sich ein Vorstand heute mehr oder weniger erklären als früher?
Die Regulierung hat massiv zugenommen. Die unternehmerische Entscheidung ist zunehmend begleitet von Gutachten, Stichwort Haftungen. Früher gab es mehr Unternehmertum, heute gibt es mehr Rücksicht auf die Regulierung. Das ist zum Teil den Erfahrungen aus der Finanzkrise geschuldet und durchaus verständlich. Aber wir müssen aufpassen, dass wir Manager nicht überregulieren.
Welches Geschäft hätten Sie denn gerne gemacht und dann doch lieber gelassen? Es ist gar nicht so, dass man durch die Regulierung viel versäumen würde. Aber der Aufwand, um für das Unternehmen etwas zu erreichen, ist deutlich höher.
Orientiert man sich als Chef eines staatsnahen Konzerns bei der Stakeholder-Betreuung stark in Richtung Politik oder dominiert die Angst vor dem U-Ausschuss? Diese Angst hält sich bei mir in Grenzen. Aber natürlich ist der Verbund staatsnah, weil wir zu 51 Prozent im Besitz der Republik stehen. Diese Struktur ist aber nicht negativ und das sehen die Investoren auch so. An der Börse ist der Verbund mehr wert als jedes andere Unternehmen im Land. Ich persönlich kann mich in den zwölf Jahren über keinen Einfluss im operativen Bereich beschweren. Ich musste nie ein Inserat schalten oder irgendjemanden einstellen, den ich nicht wollte. Dass der Eigentümer im Aufsichtsrat und bei Vorstandsbesetzungen mitredet, ist logisch und in der Privatwirtschaft nicht anders.
Welche Ihrer Entscheidungen hat denn am meisten Erklärungsbedarf ausgelöst? Der Rückzug von der fossilen Stromerzeugung war sicher eine der großen Diskussionen. Solange sich das im Ausland abgespielt hat, war es nicht so wild. Aber als es darum ging, in Österreich Kraftwerke zuzusperren, in Mellach und in Dürnrohr, hat es eine Reihe an Diskussionen gegeben. Inzwischen sind die anderen Energieversorger mit dem Ausstieg aus der Kohle nachgezogen und es hat betriebswirtschaftlich nicht geschadet.
Ist das Konstrukt der Staatsholding Öbag mit dem Alleinvorstand der Weisheit letzter Schluss?
Das weiß ich nicht. Wir werden seit etwa zwei Jahren von der Öbag gemanagt und ich muss sagen: Ich kann mich nicht beschweren. Das Klima ist konstruktiv und engagiert. Früher stand der Verbund als braver Dividendenzahler nicht sonderlich im Fokus. Das ist heute anders. Auch die jüngsten Aufsichtsratsbesetzungen waren durchwegs objektiv begründet. Ob das politisch richtig oder falsch ist, müssen andere beurteilen.
Sie treten mit Jahresende von der Verbundspitze ab. Zieht es Sie dann selbst in die österreichischen Aufsichtsräte?
Der Energiewelt werde ich in jedem Fall erhalten bleiben. Aber das muss nicht unbedingt als Aufsichtsrat sein. Eines ist klar: Ich werde sicher nicht beginnen, Geranien zu züchten.