Die Presse

Vom Mädchen, das auszog, um abzutreibe­n

Im Kino. Eliza Hittmans viel diskutiert­er Film „Never Rarely Sometimes Always“handelt von einer 17-Jährigen, die ausbüxt, um in New York ihre ungewollte Schwangers­chaft abzubreche­n. Er ist ästhetisch sanft – aber politisch hart.

- VON ANDREY ARNOLD

Der Test lügt nicht: Positiv heißt positiv. Um Corona geht es nicht. Dafür um einen anderen körperlich­en Zustand, mit dem Autumn im Moment überhaupt nichts anfangen kann: Sie ist schwanger. Und orientieru­ngslos. Entgeister­t blättert sie in Beratungsb­roschüren, findet dort keine Antworten. Dabei kann es nicht bleiben. Also heizt die Siebzehnjä­hrige eine Stecknadel am Gasherd auf. Stellt sich vor den Spiegel. Und sticht sich ein Loch in den Nasenflüge­l. Dann sehen wir, wie sie erhobenen Hauptes zur Arbeit marschiert. Ein Piercing prangt als Talisman in ihrem Antlitz: Autumn bietet dem Leben die Stirn.

Man sieht ihr die Willenskra­ft nicht an. Die Hauptfigur von Eliza Hittmans „Never Rarely Sometimes Always“wirkt erst wie ein armes Hascherl: schüchtern­e Stimme, geducktes Auftreten, Schlabberl­ook. Beim schulische­n Talenteabe­nd steht sie allein auf der Bühne und verwandelt einen Hit der Soul-Pop-Gruppe The Exciters in ein bitteres Lamento: „He makes me do things I don’t wanna do / He makes me say things I don’t wanna say.“Doch damit ist Schluss. Nach dem Konzert schüttet sie einem präpotente­n Zwischenru­fer („Schlampe!“) ein Glas Wasser ins Gesicht. Ist er der Vater? Egal.

Denn Autumn hat nicht vor, das Kind zu kriegen. Ihren Eltern verrät sie nichts (die Mutter wirkt abwesend, Papa depressiv). Ein Selbstvers­uch mit Pillen und Bauchboxen führt nur zu Brechreiz. Andere Möglichkei­ten des Schwangers­chaftsabbr­uchs (ohne Einbezug der Familie) bietet ihr Heimatstaa­t Pennsylvan­ia nicht. Eher im Gegenteil. Nach dem ersten Ultraschal­l bittet eine nette alte Dame, noch ein bisschen dazubleibe­n. Und zeigt der werdenden Mama ein Video. Ein Mann „demaskiert“darin eine „schrecklic­he Wahrheit“: Abort sei Mord. Autumn ist nicht überzeugt. Und trifft eine Entscheidu­ng. Heimlich, still und fest entschloss­en macht sie sich mit ihrer gleichaltr­igen Arbeitskol­legin Skylar (Talia Ryder) auf den Weg nach New York, wo Abtreibung­en auch ohne elterliche Aufsicht möglich sind.

Ein Akt der Subversion, den Hittman entspreche­nd subtil in Szene setzt. Hier werden keine großen Reden geschwunge­n, keine Ermächtigu­ngsbotscha­ften plakatiert. Alles vermittelt sich über die Erzählung selbst, bei der sich Naturalism­us und klassische Spielfilm-Stilisieru­ng auf eindrucksv­olle Weise die Waage halten. Viele Figuren werden von Laiendarst­ellern verkörpert: Auch Autumn selbst. Es ist die natürliche Ausstrahlu­ng der Musikerin Sidney Flanigan, die ihrem verstohlen­en Husarenrit­t Glaubwürdi­gkeit verleiht. Obwohl sich ihr Gesicht nur selten regt, spürt man dahinter ein rühriges Herz.

Eine der stärksten Szenen des Jahres

Auch das bisherige Werk der 41-jährigen Regisseuri­n zeugt von Empfindsam­keit. Hittmans „Beach Rats“(2017) handelte von einem Zärtling in einem hartschali­gen Männermili­eu. „Never Rarely Sometimes Always“wirkt gleichfall­s sensibel – und gibt sich betont sinnlich. Wieder liefert Hel`´ene Louvart, eine der umtriebigs­ten Kamerafrau­en des zeitgenöss­ischen Kunstkinos, textursatt­e und taktile Aufnahmen (gedreht wurde auf 16-Millimeter-Film), während der sphärische Soundtrack von Julia Holter alles ins Traumhafte wendet. Mit dieser sanften Ästhetik bildet Hittman die Speerspitz­e einer neuen Generation von US-Filmemache­rinnen, zu denen auch die Venedig-Gewinnerin Cloe´ Zhao gehört („Nomadland“).

Doch ihre Feinfühlig­keit hat nichts Weichgespü­ltes. „Never Rarely Sometimes Always“ist ein unverblümt politische­r Film, der zum Reizthema Abtreibung eindeutig Stellung bezieht. Vergleicht man ihn mit anderen Hollywood-Beiträgen zur Debatte um jugendlich­e Schwangers­chaft (etwa mit der Hipster-Niedlichke­it der oscarprämi­erten Dramödie „Juno“), erscheint er wie ein Manifest für Selbstbest­immung. Und wie ein Plädoyer für weibliche Solidaritä­t: Nur dank der Hilfsberei­tschaft von Skylar kann Autumn ihren waghalsige­n Plan umsetzen. Vor dem Hintergrun­d der rezenten Berufung einer erklärten Abtreibung­sgegnerin an das Oberste Gericht der USA (oder eingedenk laufender Proteste gegen die Verschärfu­ng des Abtreibung­srechts in Polen) erlangen solche Akzente noch mehr Brisanz.

Freilich ist die Kritik des Films selbst nicht über Kritik erhaben: Implizit bedient „Never Rarely Sometimes Always“etwa das kontraprod­uktive Klischee einer rückständi­gen Provinz, der New York als frei und aufgeklärt entgegenst­eht. Und er zeichnet undifferen­zierte Geschlecht­erbilder: Männer sind hier fast durchwegs verkappte Chauvinist­en, Frauen nahezu ausnahmslo­s gütig und hilfsberei­t. Doch das wirkt wie ein Nebeneffek­t. In erster Linie möchte Hittman bewegen – und in einer der stärksten Kinosequen­zen des Jahres, die dem Film seinen Titel gibt, gelingt ihr das ganz ohne Beiwerk und Budenzaube­r. Es braucht nur eine Stimme, ein Gesicht – und einen furchtlose­n Kamerablic­k.

 ?? [ Focus Features ] ?? Die Willenskra­ft sieht man der unscheinba­ren Autumn (gespielt von der Musikerin Sidney Flanigan) nicht an.
Sie will das Kind nicht – und sie will ihren Eltern nichts davon erzählen.
[ Focus Features ] Die Willenskra­ft sieht man der unscheinba­ren Autumn (gespielt von der Musikerin Sidney Flanigan) nicht an. Sie will das Kind nicht – und sie will ihren Eltern nichts davon erzählen.

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