Das Ende der ,,neuen Normalität"
Coronavirus. Sehenden Auges und allen Warnungen zum Trotz schlittert Österreich in die Neuauflage des Lockdowns vom Frühjahr. Der Hauptgrund dafür ist die fehlende Perspektive.
Wien. Nicht die mehrfach geänderte Teststrategie des Krisenstabs, nicht die fehlkonstru
ierte Corona-Ampel und auch nicht die Probleme beim Contact Tracing wegen Versäumnissen bei der Aufstockung des Personals – verantwortlich für die bevorstehende Verschärfung der Maßnahmen zur Kontaktreduktion, die an den Mitte März angeordneten Lockdown erinnern werden, ist einzig und allein die mangelnde Bereitschaft von Teilen der Bevölkerung, sich an die Verhaltensregeln zu halten. Also in Innenräumen eine Maske zu tragen, auf ein bis zwei Meter Abstand zu achten und sich mehrmals am Tag mit Seife die Hände zu waschen.
Sämtliche Appelle, Mahnungen und letztlich auch Warnungen von Politikern wie Medizinern konnten einen erneuten starken Anstieg der Ansteckungen, in der Verknappung oft als zweite Welle bezeichnet, nicht verhindern. Und da die logische Konsequenz davon Kapazitätsengpässe in Spitälern, insbesondere auf Intensivstationen, sind, braucht es nun ein weiteres Mal eine Vollbremsung, um zwei bis drei Wochen lang Übertragungsketten zu unterbrechen, die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen und die Kontrolle über die Lage in Österreich zurückzugewinnen. Aber wie konnte es so weit kommen? Warum nahmen so viele Menschen die Beteuerungen nicht ernst und änderten trotz steigender Zahlen nichts an ihrem nachlässigen, teilweise sogar fahrlässigen Verhalten?
Katastrophe blieb in Österreich aus
Um sich der Beantwortung dieser Frage zu nähern, lohnt sich ein Blick nach Italien. Bekanntermaßen war der Norden des Landes von allen Regionen Europas am stärksten von der Pandemie betroffen. Die Bilder und Videos von überlasteten Intensivstationen wird niemand so schnell vergessen; von schwer erkrankten Covid-19-Patienten, die in Betten auf dem Gang lagen und nach tagelangem Leiden starben, ohne eine angemessene Behandlung erhalten und sich persönlich von ihren Angehörigen verabschiedet zu haben. Was Soziologen kollektiven Leidensdruck nennen, war also in Italien besonders hoch. Und führte dazu, dass die Vorgaben auch nach dem Abflachen der ersten Infektionskurve diszipliniert befolgt wurden. So legten beispielsweise viele noch im Hochsommer, als in Österreich schon wieder ein Laisser-faire-Stil zelebriert wurde, ein hohes Maß an Eigenverantwortung an den Tag und trugen sogar im Freien eine Maske. Zwar steckten sich zuletzt auch in Italien wieder mehr Menschen an und es kam zu Protesten gegen weitere Verschärfungen der Regeln, aber das generelle Bewusstsein für die Sinnhaftigkeit der empfohlenen Maßnahmen ist wegen der Erinnerungen an die Ereignisse in der Lombardei anhaltend hoch.
Ereignisse, die in Österreich durch rasch getroffene richtige Entscheidungen wie etwa Zugangsbeschränkungen zu Ordinationen und Krankenhäusern sowie ein sehr gut aufgestelltes Gesundheitssystem gänzlich ausblieben – und das, obwohl sie von der Regierung wiederholt angekündigt, sogar als Drohkulisse inszeniert wurden, um die Bevölkerung auf den bevorstehenden Verzicht während des Lockdowns einzuschwören. Ein Kalkül, das voll aufging, allerdings mit verhängnisvollen Auswirkungen. Denn ironischerweise war es letztlich insbesondere die abgewehrte Überlastung der Spitäler, die die Glaubwürdigkeit der Regierung beschädigte.
Angesichts der umfangreichen gesundheitlichen, sozialen sowie wirtschaftlichen Kollateralschäden kamen nämlich schon bald Zweifel auf, ob der enorme Aufwand überhaupt gerechtfertigt war. Zweifel, die von Teilen der Opposition und auch einigen Infektiologen genährt wurden. Mit der Folge, dass Aufrufe der Regierung, weiterhin wachsam zu bleiben und die vom Coronavirus ausgehende Gefahr nicht zu unterschätzen, seither kaum Wirkung erzielen.
Komplettiert wird der entstandene Argwohn durch die fehlende Perspektive – also einen konkreten Zeitplan zurück zur Normalität. Die „neue Normalität“, wie Kanzler Sebastian Kurz den Ist-Zustand bezeichnet, will ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung nicht hinnehmen, jedenfalls nicht auf unbestimmte Zeit. Denn weder Kurz noch Gesundheitsminister Rudolf Anschober ist es gelungen, ein Ende dieses Zustands in Aussicht zu stellen. Mit realistischen Szenarien zur Vorgehensweise nach der Verfügbarkeit erster Impfstoffe. Und Antworten auf Fragen wie: Was genau würde sich dann für vulnerable Gruppen und den Umgang mit ihnen ändern? Wie schnell können medizinisches Personal und Menschen mit berufsbedingt vielen sozialen Kontakten geimpft werden? Und mit welchen unmittelbaren Freiheiten für alle würden die ersten Verabreichungen einhergehen? Ein absehbares, mit persönlichen Vorteilen verbundenes Ziel könnte der wichtigste Motivationsfaktor in der Bekämpfung der Pandemie sein. Aber statt eines zu definieren und den Weg dorthin zu skizzieren, wird erneut auf drohende Engpässe in Spitälern hingewiesen.
Nun muss der Regierung natürlich zugestanden werden, dass Prognosen unter den gegebenen Umständen riskant sind – und bereits kleine Vorstöße wie etwa die Ankündigung Anschobers, im Jänner könnten die ersten Impfstoffe geliefert werden, oder Kurz’ Licht-am-Ende-des-Tunnels-Sager von Gesundheitsexperten sofort relativiert und eingeschränkt werden. Zudem ist das Nichtbieten einer Perspektive kein österreichisches Phänomen, in ganz Europa wird darauf vergessen. Oder bewusst verzichtet. Was zu den interessanteren Erkenntnissen der vergangenen Monate gehört – ganz offensichtlich ist die bevorzugte Sprache der politischen Kommunikation selbst in einer globalen Gesundheits- und Wirtschaftskrise Angst, nicht Mut und Hoffnung.