Contact Tracing: An der Belastungsgrenze
Reportage. Das Contact Tracing ist das Herzstück der Pandemiebekämpfung. Es droht aber selbst einen Infarkt zu erleiden. Ein Besuch in der BH Mödling, wo Beamte und Soldaten mit dem Telefon in der Hand gegen das Virus vorgehen.
Mödling. Ein paar Tische, ein paar Computerbildschirme, ein paar Telefone. Es sieht hier aus wie in einem gewöhnlichen Callcenter. Es klingt aber nicht so. In den Gesprächen werden keine Meinungsumfragen durchgeführt und keine Abos verkauft.
„Grüß Gott!“, sagt die hinter dem Computerbildschirm sitzende Frau ins Telefon, „ich rufe an, weil ich im Akt sehe, dass Sie positiv getestet wurden.“Den Gesprächspartner am anderen Ende scheint das nicht zu irritieren. „Ah, das wissen Sie schon. Gut, dann müsste ich mit Ihnen ein paar Fragen durchgehen.“Nach und nach hört man dann: „Fühlen Sie sich krank?“, „Wissen Sie, wo Sie sich angesteckt haben könnten?“, „Aha, und wie lang waren Sie im Postamt?“und „Sind sie da öffentlich oder mit dem Auto hingefahren?“
So oder so ähnlich laufen die Gespräche hier, in der Bezirkshauptmannschaft Mödling, von sieben Uhr morgens bis neun Uhr abends ab. Von Montag bis Sonntag. Tagtäglich wird am Telefon gegen die Ausbreitung des Coronavirus gekämpft. Österreichweit versuchen die Gesundheitsbehörden so, die Infektionsketten zu durchbrechen. Es werden infizierte Bürger per Bescheid in Quarantäne geschickt und ihre Kontakte nachverfolgt. Dieses sogenannte Contact Tracing ist zum Herzstück der Pandemiebekämpfung geworden. Es droht allerdings selbst einen Infarkt zu erleiden.
„Wir dürfen nicht aufgeben“
Das Nachbarland Slowenien hat bereits aufgegeben. Man schafft es nicht mehr, alle Kontakte nachzuverfolgen. Immer größere Probleme sind auch in Österreich zu beobachten. Vorarlberg, Tirol und Salzburg-Stadt mussten das Contact Tracing (vorübergehend) einschränken. An der Bezirkshauptmannschaft Mödling stemmt man sich noch dagegen. Aus Überzeugung. „Wir dürfen auf keinen Fall aufgeben“, sagt Bezirkshauptmann Philipp Enzinger. Immerhin sei die Arbeit seines Teams „der Schlüssel in der Pandemiebekämpfung“. Das habe man im Fall der 39 Infizierten, die zuletzt an einer Schule aufgetaucht sind, gesehen. 400 Schüler würden von der Bezirkshauptmannschaft in dem Fall in Quarantäne geschickt. „Das wäre sonst eine riesige Welle geworden.“
Begonnen hat alles am 14. März. An diesem Samstag hat der Bezirkshauptmann sein Team aus dem Wochenende ins Büro geholt. Es gab die ersten Coronafälle im Bezirk, und die Beamten begannen, die Kontaktpersonen zu informieren. „Es ist ein Kaltstart ohne erprobte Abläufe gewesen.“Damals hatte es das Team mit vier oder fünf positiv Getesteten pro Tag zu tun. Zuletzt hat sich die eigens eingerichtete Corona-Stabstelle täglich mit 35 bis 42 Fällen beschäftigt. Am vergangenen Donnerstag ist die Zahl sprunghaft auf 65 angestiegen. Pro Infiziertem werden im Schnitt zehn Kontaktpersonen angegeben. In Einzelfällen aber auch 60. Und noch viel mehr bei Infektionen in Schulen.
Das Contact-Tracing-Team hat täglich also bis zu 650 Personen anzurufen. Lang haben die Mitarbeiter das allein gestemmt – neben ihrer eigentlichen Arbeit. Derzeit würden so manche Verfahren deshalb „schon etwas länger“dauern. Rund 100 der 175 Mitarbeiter an der Bezirkshauptmannschaft unterstützen nun die Gesundheitsabteilung. Auch externe Hilfe hat man sich geholt.
In den Schulungs- und Besprechungszimmern der Bezirkshauptmannschaft haben mittlerweile auch sechs Bundesheersoldaten in Uniform, vier frisch eingeschulte Studenten sowie drei schwangere Kindergärtnerinnen, die nicht mehr schwer heben dürfen, Platz genommen. Nächste Woche sollen acht weitere externe Kräfte dazukommen. „Denn auch wir sind an der Belastungsgrenze angekommen“, sagt Enzinger.
Unvollständige Formulare
In der Bezirkshauptmannschaft türmen sich keine Akten. Hier füllen sich eigens für die Pandemie entwickelte Online-Programme. Bereits den Corona-Verdachtsfällen werden mit dem Absonderungsbescheid auch ein Gesundheitstagebuch, eine Information zur Drive-in-Testung und ein Online-Formular zur Kontaktermittlung per Mail geschickt. In Letzteres sollen alle Begegnungen eingetragen werden, die man 48 Stunden vor Symptombeginn oder, in Fällen ohne Symptome, vor Probeabnahme hatte.
Im Idealfall werden hier der Name, Geburtsdatum, E-Mailadresse und Telefonnummer der Kontakte vermerkt. Auch die Dauer des Kontakts (unter oder über 15 Minuten), der Ort (drinnen oder draußen), die Intensität (direkter Körperkontakt) und die Distanz (unter oder über zwei Meter) werden erhoben. Sogar die vorgenommenen Schutzmaßnahmen (MundNasen-Schutz oder FFP2–Maske) werden abgefragt. Auf Basis dessen wird zwischen Hochrisiko, Niedrigrisiko und unbedenklichen Fällen unterschieden. In der Theorie.
In der Praxis kommen die wenigsten Formulare vollständig ausgefüllt zurück. Manche bleiben überhaupt leer und werden durch handgeschriebene Aufsätze ersetzt. Dann beginnt das Contact-TracingTeam zu recherchieren. Diese Aufgabe sei zuletzt immer schwieriger geworden. Im Frühjahr habe man es mit ein paar Ischgl-Rückkehrern und einigen überschaubaren Clustern zu tun gehabt. „Mittlerweile ist die Situation diffuser.“Die Bürger hätten mehr Kontakte, erzählt Enzinger, viele Infektionen würden in der Freizeit stattfinden. Aus Apr`esSki ist Apr`es-Soccer geworden.
Das macht eine rasche Erledigung der Fälle für die Behörde schwierig. Infizierte und ihre Haushaltsangehörigen könne man im Regelfall zwar noch innerhalb von 24 Stunden über ihre Quarantäne informieren. Bei ihren Kontaktpersonen (K1) kann das aber schon einmal fünf bis sechs Tage dauern. Noch länger wartet man bei Fällen mit Bezug zu Wien. Und davon gibt es in Mödling viele. Von den Wiener Behörden würde man nämlich oft gar keine Antwort bekommen. „Die braucht es aber. Denn wir können die Bürger ja nicht einfach ins Blaue in Quarantäne schicken“, sagt Enzinger.
Eine Handvoll „Drohbriefe“
Die Contact Tracer können viel über die Stimmung in der Bevölkerung erzählen. Die Mehrheit der Bürger sei zwar immer noch kooperativ. Die Quarantänevorschriften würden dennoch immer mehr Skepsis hervorrufen. Die einen versuchen sich mit findigen Erklärungen davor zu drücken. (Man könne keine Kontaktperson sein. Man sei beim gemeinsamen Ausmalen des Hauses immer in unterschiedlichen Räumen gewesen.) Die anderen versuchen es mit juristischen Argumentationen. Eine Handvoll „Drohbriefe“, erzählt der Bezirkshauptmann, würden ihn pro Woche schon erreichen. Immerhin wohne in Mödling auch ein anspruchsvolles Publikum.
Zurück ans Telefon. Hier ist das Gespräch bei der im gemeinsamen Haushalt lebenden Ehefrau angekommen. Als Kontaktperson 1, erklärt die Contact Tracerin, müsse „die Gattin leider länger in Quarantäne bleiben“. Und zwar noch einmal zehn Tage extra. Das stößt am anderen Ende der Leitung auf Unverständnis. „Ich verstehe, dass das nicht so eine schöne Nachricht ist, ich kann das wirklich verstehen“, versucht die Contact Tracerin zu beruhigen. Für sie ist das Gespräch Routine. Für die Bürger bedeutet es Hausarrest.