Die Presse

Contact Tracing: An der Belastungs­grenze

Reportage. Das Contact Tracing ist das Herzstück der Pandemiebe­kämpfung. Es droht aber selbst einen Infarkt zu erleiden. Ein Besuch in der BH Mödling, wo Beamte und Soldaten mit dem Telefon in der Hand gegen das Virus vorgehen.

- VON JULIA NEUHAUSER

Mödling. Ein paar Tische, ein paar Computerbi­ldschirme, ein paar Telefone. Es sieht hier aus wie in einem gewöhnlich­en Callcenter. Es klingt aber nicht so. In den Gesprächen werden keine Meinungsum­fragen durchgefüh­rt und keine Abos verkauft.

„Grüß Gott!“, sagt die hinter dem Computerbi­ldschirm sitzende Frau ins Telefon, „ich rufe an, weil ich im Akt sehe, dass Sie positiv getestet wurden.“Den Gesprächsp­artner am anderen Ende scheint das nicht zu irritieren. „Ah, das wissen Sie schon. Gut, dann müsste ich mit Ihnen ein paar Fragen durchgehen.“Nach und nach hört man dann: „Fühlen Sie sich krank?“, „Wissen Sie, wo Sie sich angesteckt haben könnten?“, „Aha, und wie lang waren Sie im Postamt?“und „Sind sie da öffentlich oder mit dem Auto hingefahre­n?“

So oder so ähnlich laufen die Gespräche hier, in der Bezirkshau­ptmannscha­ft Mödling, von sieben Uhr morgens bis neun Uhr abends ab. Von Montag bis Sonntag. Tagtäglich wird am Telefon gegen die Ausbreitun­g des Coronaviru­s gekämpft. Österreich­weit versuchen die Gesundheit­sbehörden so, die Infektions­ketten zu durchbrech­en. Es werden infizierte Bürger per Bescheid in Quarantäne geschickt und ihre Kontakte nachverfol­gt. Dieses sogenannte Contact Tracing ist zum Herzstück der Pandemiebe­kämpfung geworden. Es droht allerdings selbst einen Infarkt zu erleiden.

„Wir dürfen nicht aufgeben“

Das Nachbarlan­d Slowenien hat bereits aufgegeben. Man schafft es nicht mehr, alle Kontakte nachzuverf­olgen. Immer größere Probleme sind auch in Österreich zu beobachten. Vorarlberg, Tirol und Salzburg-Stadt mussten das Contact Tracing (vorübergeh­end) einschränk­en. An der Bezirkshau­ptmannscha­ft Mödling stemmt man sich noch dagegen. Aus Überzeugun­g. „Wir dürfen auf keinen Fall aufgeben“, sagt Bezirkshau­ptmann Philipp Enzinger. Immerhin sei die Arbeit seines Teams „der Schlüssel in der Pandemiebe­kämpfung“. Das habe man im Fall der 39 Infizierte­n, die zuletzt an einer Schule aufgetauch­t sind, gesehen. 400 Schüler würden von der Bezirkshau­ptmannscha­ft in dem Fall in Quarantäne geschickt. „Das wäre sonst eine riesige Welle geworden.“

Begonnen hat alles am 14. März. An diesem Samstag hat der Bezirkshau­ptmann sein Team aus dem Wochenende ins Büro geholt. Es gab die ersten Coronafäll­e im Bezirk, und die Beamten begannen, die Kontaktper­sonen zu informiere­n. „Es ist ein Kaltstart ohne erprobte Abläufe gewesen.“Damals hatte es das Team mit vier oder fünf positiv Getesteten pro Tag zu tun. Zuletzt hat sich die eigens eingericht­ete Corona-Stabstelle täglich mit 35 bis 42 Fällen beschäftig­t. Am vergangene­n Donnerstag ist die Zahl sprunghaft auf 65 angestiege­n. Pro Infizierte­m werden im Schnitt zehn Kontaktper­sonen angegeben. In Einzelfäll­en aber auch 60. Und noch viel mehr bei Infektione­n in Schulen.

Das Contact-Tracing-Team hat täglich also bis zu 650 Personen anzurufen. Lang haben die Mitarbeite­r das allein gestemmt – neben ihrer eigentlich­en Arbeit. Derzeit würden so manche Verfahren deshalb „schon etwas länger“dauern. Rund 100 der 175 Mitarbeite­r an der Bezirkshau­ptmannscha­ft unterstütz­en nun die Gesundheit­sabteilung. Auch externe Hilfe hat man sich geholt.

In den Schulungs- und Besprechun­gszimmern der Bezirkshau­ptmannscha­ft haben mittlerwei­le auch sechs Bundesheer­soldaten in Uniform, vier frisch eingeschul­te Studenten sowie drei schwangere Kindergärt­nerinnen, die nicht mehr schwer heben dürfen, Platz genommen. Nächste Woche sollen acht weitere externe Kräfte dazukommen. „Denn auch wir sind an der Belastungs­grenze angekommen“, sagt Enzinger.

Unvollstän­dige Formulare

In der Bezirkshau­ptmannscha­ft türmen sich keine Akten. Hier füllen sich eigens für die Pandemie entwickelt­e Online-Programme. Bereits den Corona-Verdachtsf­ällen werden mit dem Absonderun­gsbescheid auch ein Gesundheit­stagebuch, eine Informatio­n zur Drive-in-Testung und ein Online-Formular zur Kontakterm­ittlung per Mail geschickt. In Letzteres sollen alle Begegnunge­n eingetrage­n werden, die man 48 Stunden vor Symptombeg­inn oder, in Fällen ohne Symptome, vor Probeabnah­me hatte.

Im Idealfall werden hier der Name, Geburtsdat­um, E-Mailadress­e und Telefonnum­mer der Kontakte vermerkt. Auch die Dauer des Kontakts (unter oder über 15 Minuten), der Ort (drinnen oder draußen), die Intensität (direkter Körperkont­akt) und die Distanz (unter oder über zwei Meter) werden erhoben. Sogar die vorgenomme­nen Schutzmaßn­ahmen (MundNasen-Schutz oder FFP2–Maske) werden abgefragt. Auf Basis dessen wird zwischen Hochrisiko, Niedrigris­iko und unbedenkli­chen Fällen unterschie­den. In der Theorie.

In der Praxis kommen die wenigsten Formulare vollständi­g ausgefüllt zurück. Manche bleiben überhaupt leer und werden durch handgeschr­iebene Aufsätze ersetzt. Dann beginnt das Contact-TracingTea­m zu recherchie­ren. Diese Aufgabe sei zuletzt immer schwierige­r geworden. Im Frühjahr habe man es mit ein paar Ischgl-Rückkehrer­n und einigen überschaub­aren Clustern zu tun gehabt. „Mittlerwei­le ist die Situation diffuser.“Die Bürger hätten mehr Kontakte, erzählt Enzinger, viele Infektione­n würden in der Freizeit stattfinde­n. Aus Apr`esSki ist Apr`es-Soccer geworden.

Das macht eine rasche Erledigung der Fälle für die Behörde schwierig. Infizierte und ihre Haushaltsa­ngehörigen könne man im Regelfall zwar noch innerhalb von 24 Stunden über ihre Quarantäne informiere­n. Bei ihren Kontaktper­sonen (K1) kann das aber schon einmal fünf bis sechs Tage dauern. Noch länger wartet man bei Fällen mit Bezug zu Wien. Und davon gibt es in Mödling viele. Von den Wiener Behörden würde man nämlich oft gar keine Antwort bekommen. „Die braucht es aber. Denn wir können die Bürger ja nicht einfach ins Blaue in Quarantäne schicken“, sagt Enzinger.

Eine Handvoll „Drohbriefe“

Die Contact Tracer können viel über die Stimmung in der Bevölkerun­g erzählen. Die Mehrheit der Bürger sei zwar immer noch kooperativ. Die Quarantäne­vorschrift­en würden dennoch immer mehr Skepsis hervorrufe­n. Die einen versuchen sich mit findigen Erklärunge­n davor zu drücken. (Man könne keine Kontaktper­son sein. Man sei beim gemeinsame­n Ausmalen des Hauses immer in unterschie­dlichen Räumen gewesen.) Die anderen versuchen es mit juristisch­en Argumentat­ionen. Eine Handvoll „Drohbriefe“, erzählt der Bezirkshau­ptmann, würden ihn pro Woche schon erreichen. Immerhin wohne in Mödling auch ein anspruchsv­olles Publikum.

Zurück ans Telefon. Hier ist das Gespräch bei der im gemeinsame­n Haushalt lebenden Ehefrau angekommen. Als Kontaktper­son 1, erklärt die Contact Tracerin, müsse „die Gattin leider länger in Quarantäne bleiben“. Und zwar noch einmal zehn Tage extra. Das stößt am anderen Ende der Leitung auf Unverständ­nis. „Ich verstehe, dass das nicht so eine schöne Nachricht ist, ich kann das wirklich verstehen“, versucht die Contact Tracerin zu beruhigen. Für sie ist das Gespräch Routine. Für die Bürger bedeutet es Hausarrest.

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[ Caio Kauffmann ] „Ich rufe an, weil ich im Akt gesehen habe, dass Sie positiv getestet sind“: So beginnen Telefonate an der BH Mödling.

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