Die Presse

Orgelrausc­h und triste Seufzer

Wien modern. Ein stimmungsv­oller Festival-Vorabend im Stephansdo­m mit dem Klangforum zwischen Tod und Auferstehu­ng.

- VON WALTER WEIDRINGER

Er sei halt auch ein durchschni­ttlich katholisch vergiftete­r Mensch, hat Peter Turrini einmal festgestel­lt. Ein voller Orgelklang kann allerdings seine drogenarti­ge Wirkung unabhängig von konfession­ellen Bindungen oder Loslösunge­n entfalten – etwa wenn Iveta Apkalna auf der neuen Riesenorge­l des Stephansdo­ms Klaus Langs „weißbärtig. mond.“spielt. Da fluten zuerst undefinier­bare Pedalkläng­e den Kirchenrau­m, in mittlerer Lage stottert ein einzelner Ton, weit darüber zirpt und zwitschert es: Erst nach dieser punktuelle­n Vermessung braust das volle Werk los, in einem tonal basierten Klangkonti­nuum von archaische­r Kraft.

Zu vorgerückt­er Stunde begann damit eine Art Einstimmun­g zu „Stimmung“, wie das Motto von Wien modern 2020 lautet: ein programmat­isch und in der Wirkung durchaus spirituell angehaucht­er Festival-Vorabend. Freilich, wie soll die Stimmung schon sein bei einem Festival, bei dem schon der Beginn von einem drohenden vorzeitige­n Ende überschatt­et wird? Ist die Lage nun ernst, aber nicht hoffnungsl­os – oder doch hoffnungsl­os, aber nicht ernst, wie Alfred Polgar (nicht Karl Kraus) einst für Österreich so treffsiche­r festgestel­lt hat?

Stimmung, damit meint Wien modern natürlich vor allem die Systeme von Tonhöhen, auf die wir uns in der abendländi­schen Musik im Laufe der Jahrhunder­te geeinigt haben. Stimmung im herkömmlic­hen Sinn malte aber vor fast 30 Jahren auch Heinz Holliger in „Ostinato funebre“, einem Satz aus seinem Hölderlin gewidmeten „Scardanell­i-Zyklus“: In Details wie quälenden Seufzern ist darin die Klangruine von Mozarts „Maurerisch­er Trauermusi­k“zu erahnen, bedeckt von raschelnde­m Laub und knackenden Zweigen. Bewegend, wie das Klangforum unter Sylvain Cambreling, seinem „Ersten Gastdirige­nten emeritus“, die Tristesse ebenso penibel auskostet wie alle übrigen Farben des Programms.

Auferstehu­ng von Kunst und Musik?

An einer Kette von Stimmungen malt Francesco Filidei, wie Klaus Lang auch Organist: In seiner „Ballata no. 1“entwickeln Orgel, Ensemble und Elektronik über auseinande­rstrebende­n, chromatisc­hen Linien Klangbilde­r zwischen fistelnden Höhen, Atemlauten, Gruselklän­gen und Basstromme­lschlägen – mit einer vorüberzie­henden Marschgrot­eske inmitten. Erhaben und erhebend, mystisch und tänzerisch zuletzt Olivier Messiaens „Et exspecto resurrecti­onem mortuorum“, das atmosphäri­sch einen Bogen zum Orgelrausc­h des Beginns schlug. Eine glorreiche Auferstehu­ng von Kunst und Musik? Man wird doch noch glauben und hoffen dürfen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria