Warum ich Bürgerin Österreichs werden will
Gastkommentar. Österreich räumt Nachfahren von in der Nazi-Zeit vertriebenen Juden als Wiedergutmachung das Recht ein, die Staatsbürgerschaft zu erwerben. Aus mehreren Gründen erwäge ich, das auch zu tun. Einer davon ist Trump.
Diesen Sommer sah ich auf Facebook das Foto einer Freundin, die stolz ihren neuen irischen Reisepass in die Kamera hielt. Meine Freundin ist Amerikanerin, aber da ihre Großmutter aus Irland stammte, hatte sie es nach drei Jahren geschafft, auch die irische Staatsbürgerschaft zu bekommen.
Sie sah so glücklich aus auf dem Foto. Und plötzlich kam mir der Gedanke: „Könnte ich vielleicht auch die österreichische Staatsbürgerschaft bekommen?“Ein paar Minuten später bekam ich die Antwort: Ja!
Diese Möglichkeit existiert aufgrund der Bemühungen Österreichs, Wiedergutmachung für die Gräueltaten an seinen jüdischen Mitbürgern während des Nazi-Regimes zu leisten. Die Nachfahren von österreichischen Juden, denen es gelungen ist, vor der Verfolgung ins Ausland zu fliehen, genießen seit dem 1. September das Recht, die österreichische Staatsbürgerschaft zu erwerben. Und so haben meine Schwestern und ich nun die Wahl, Bürgerinnen des Landes zu werden, das meine Großeltern einst vertrieben hat.
Von Hernals nach Dachau
Das brachte mich dazu, über die Tragweite dessen nachzudenken, was es bedeutet, Verantwortung für die eigene Geschichte und Vergangenheit zu übernehmen, und was die Vereinigten Staaten von Österreich lernen könnten.
Mein Großvater, Karl Grosz, war 1938, zur Zeit des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich, 26 Jahre alt. Ein ernster Mann, der klassische Musik, die Romane Karl Mays und vor allem seine Verlobte, Lisl Hegyesi, liebte. Er, sein Vater und seine zwei Brüder waren Schneider und hatten ein Geschäft im 17. Bezirk in Wien. Nach dem Anschluss löste sich der Großteil ihrer Aufträge schnell in Luft auf.
Keine zwei Monate später wurde ihr größter Albtraum wahr. Eines Abends erschien die Gestapo und „bat“meinen Großvater und seinen Bruder Robert zur nächsten Polizeistation. Zunächst hofften sie noch, nach dem Verhör wieder gehen zu können. Stattdessen wurden sie zusammen mit anderen Juden in einen Zug gesetzt und ins Konzentrationslager nach Dachau verfrachtet. Es fällt mir schwer, mir die acht Monate in Dachau und Buchenwald vorzustellen und welche Sorgen sich mein Großvater gemacht haben muss. Ein halbes Jahrhundert später beschrieb er seine Erlebnisse in einem Interview. Wie jeden Morgen um 4.30 Uhr der Alarm ertönte; wie er Schubkarren schieben musste, bis seine Hände bluteten; wie zwei Gefangene versucht hatten zu fliehen und man sie vor den Augen der anderen erhängte.
Aber am 2. Jänner 1939 erhielt er eine Nachricht, die wohl die glücklichste seines Lebens gewesen sein muss: Er und sein Bruder würden freigelassen werden! Ein entfernter Verwandter in den USA hatte sich für sie eingesetzt. Meine Großmutter nahm all ihren Mut zusammen und reiste nach Berlin, um im Hauptquartier der Gestapo zu beweisen, dass ihr Verlobter und dessen Bruder ein Visum für die Vereinigten Staaten hatten.
Gezeichnet vom Holocaust
Meine Großeltern haben sich in Amerika ein neues Leben aufgebaut, eine Schneiderei in New York eröffnet, Englisch gelernt und drei Kinder großgezogen. Unserer ganzen Familie – meinem Vater, seinen Geschwistern und uns Kindern – ist sehr bewusst, welch enormes Glück wir hatten und welche Chancen wir bekamen.
Mein Großvater und sein Bruder waren ihr Leben lang vom Holocaust gezeichnet, kein Akt der Wiedergutmachung hätte das jemals ausgleichen können. Aber es bewegt mich, dass Österreich jetzt diesen Schritt gegangen ist und mit dieser Geste Menschen wie mich willkommen heißt, deren Großeltern einst verfolgt wurden.
Das lässt mich an mein eigenes Land denken, das so viele Gräueltaten seiner eigenen Geschichte noch immer verdrängt, statt sich ihnen zu stellen. 400 Jahre nachdem die ersten versklavten Afrikaner nach Amerika gebracht wurden, durchdringt das Erbe dieses schrecklichen Kapitels noch immer unsere Gesellschaft.
Trump schürt Rassenhass
Schwarze Menschen werden noch immer diskriminiert und täglich Opfer von Polizeigewalt. Und anstatt den Weg der Versöhnung zu wählen und zur Heilung dieser Wunden beizutragen, umwirbt unser Präsident weiße Suprematisten und schürt Rassenhass und Angst.
Noch immer gibt es keine Wiedergutmachung für die Nachfahren der Sklaven. Auch meine Familie trägt eine Mitschuld für diesen schrecklichen Abschnitt unserer Geschichte. Meine Mutter kann ihre Vorfahren bis zu den ersten Puritanern zurückverfolgen. Als Kind war ich stolz darauf, erzählen zu können, dass wir von der Familie Benjamin Franklins abstammen. Später erfuhr ich, dass wir auch Nachfahren von Thomas Swann sind, einem Gouverneur Marylands und Sklavenhalter.
Zu meiner eigenen Familiengeschichte gehören also mein österreichischer Großvater, ein Mann, den man in zwei Konzentrationslager sperrte, und ein entfernter amerikanischer Vorfahr, der anderen Menschen die Freiheit raubte. So trage auch ich Verantwortung, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und Wege der Wiedergutmachung zu suchen.
Es ist sicher kein einfacher Prozess für Österreich, seine eigene Rolle im Holocaust ungeschminkt zu betrachten und Schritte zu unternehmen, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Der Aufstieg des Rechtsextremismus und die fremdenfeindliche Rhetorik machen es sicherlich nicht einfacher.
USA an einem Wendepunkt
Hier in den USA befinden wir uns zurzeit an einem Punkt, an dem ich hoffe, dass wir endlich die Verantwortung für die dunklen Teile unserer Geschichte übernehmen werden. Menschen in vielen Städten sind in diesem Sommer auf die Straße gegangen, um gegen die Brutalität der Polizei zu protestieren. Ein Protestzug, der Menschen aller Hautfarben vereinte, führte durch meine normalerweise verschlafene Gegend von Seattle: friedlich, ohne Gewalt und Plünderungen. Es war ein Moment, an dem Menschen zusammenkamen, um zu sagen, dass der tief sitzende Rassismus in unserem Land falsch ist und wir Veränderungen wollen.
Und doch müsste ich lügen, würde ich sagen, dass ich keine Angst verspürte. Unser Land wird von einem Präsidenten regiert, der vor einer entscheidenden Wahl steht. Er hat Anhänger im ganzen Land, die bereit sind, mit ihren Waffen auf die Straße zu gehen. Auch dies ist einer der Gründe, weshalb ich nun die österreichische Staatsbürgerschaft beantrage. Ich sehe es als potenziellen Ausweg für den Fall, dass wir das Gefühl bekommen, unser Land verlassen zu müssen – genau wie die Visa, die meinen Großeltern in den 1930er-Jahren das Leben retteten.
Für diese Option bin ich sehr dankbar! Doch noch habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben. Noch bleibe ich hier und versuche, alles zu tun, um meinem Land zu helfen, seinen eigenen Gründungsidealen gerecht zu werden und Rassengerechtigkeit einzufordern.