Selbstmord einer Demokratie? Und wir könnten live dabei sein
Die Verfassung der USA kennt kein Recht auf Wahlbeteiligung. Misstrauen dem Mehrheitswahlrecht gegenüber führte zu Manipulation und Unterdrückung.
Sollte am Mittwoch der Sieger nicht klar feststehen, drohen Unruhen auf den Straßen – bis hin zu einem „sanften“Bürgerkrieg.
Vor zwei Tagen hat sich eine afroamerikanische Rechtsanwältin wieder von New York nach North Carolina aufgemacht. Sie wird am Dienstag bei der Präsidentenwahl vor Ort sein und Wählern zu ihrem Recht verhelfen – wie 2016 und 2012. Manche scheinen in den Wahllisten nicht auf, obwohl sie sich eintragen haben lassen. Andere werden von einem Wahllokal zum anderen geschickt – bis sie aufgeben. North Carolina gehört zu den umstrittensten Staaten mit hartnäckigen Versuchen zur Unterdrückung von Wahlberechtigten.
Das ist jedoch nicht das einzige Beispiel, das man in anderen entwickelten und gefestigten Demokratien kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen muss. In solchen wird auch Wahlbetrug und Wählerunterdrückung kaum zum Topthema einer Präsidentenwahl; in solchen versucht auch ein amtierender Präsident nicht Monate vor der Wahl, diese zu diskreditieren wie es Donald Trump tut. Er zieht mit dem Schlachtruf „Betrug, Betrug“und dem Satz: „Die einzige Möglichkeit, wie wir diese Wahl verlieren können, ist durch Betrug“von Massenveranstaltung zu Massenveranstaltung.
Die US-Verfassung gibt das her. Weder dort noch in der Bill of Rights (Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit) ist das Recht auf Wahlbeteiligung verankert. Laut Verfassung kann jeder einzelne der 50 Bundesstaaten plus Washington DC ein eigenes Wahlrecht festlegen. Das führt zu einer Palette von Möglichkeiten, „unverlässliche“Wähler von den Urnen fernzuhalten. Falsches Autokennzeichen? Sorry! Vorzeitig gewählt? Sorry! Oh, falsche offizielle Informationen? Sorry!
Wählerunterdrückung hat in den USA eine lange Tradition. Das ist auch der Grund für fehlerhafte und zum Teil völlig veraltete Systeme bei der Stimmabgabe. Für die Finanzierung einer Wahl sind die einzelnen Staaten, Gemeinden, Wahlkreise zuständig. Diese weigern sich oft, die notwendigen Mittel für eine Modernisierung aufzubringen. Und sie machen die Regeln. Das heißt 50 plus 1 unterschiedliche Bestimmungen.
Als Grund für ein Wahlrecht wie aus einer anderen Zeit wird oft das Misstrauen der Gründungsväter gegenüber dem allgemeinen Wahlrecht und dem Mehrheitswahlrecht angeführt. Ein Misstrauen, das Donald Trump bis zum Exzess für sich ausnützen will. Es ist auch die Basis für das kuriose Wahlmänner-System (Electoral College), in dem die Mehrheit aller Stimmen für einen Kandidaten nichts zählt.
Die Gründungsväter gingen von der Annahme aus, eine politische Elite wüsste besser über die Kandidaten Bescheid als die „gewöhnlichen Wähler“, weshalb sie der Theorie nach jede Präsidentenwahl korrigieren hätten können – bis Juli 2020. Da hat der Oberste Gerichtshof entschieden, dass die Wahlmänner eines Staates verpflichtet sind, ihre Stimme dem Sieger in diesem Staat zu geben. So als ob ein Mitglied des Wahlmännergremiums auf die Idee kommen könnte, Trump wäre für das Amt nicht geeignet.
Die von Trump beschworene Gefahr der Manipulation besteht tatsächlich, aber nicht bei der Briefwahl, wie er behauptet, sondern in den vielfältigen und willkürlichen Möglichkeiten, Menschen das Wahlrecht zu verwehren. So wurde bekannt, dass zuletzt 130.000 Wähler in Wisconsin einfach von den Listen gestrichen wurden.
Das alles wird eine enorme Rolle spielen, sollte am Mittwoch der Sieger nicht eindeutig feststehen, das Ergebnis Gerichte auf allen Ebenen beschäftigen, zu Unruhen auf den Straßen führen, zu einem „sanften“Bürgerkrieg, wie es zuletzt hieß.
Um einmal noch an John Adams, den Gründungsvater, zweiten US-Präsidenten und Mitautor der Verfassung (1797–1801) zu denken: „Eine Demokratie dauert nie lang. Sie verbraucht sich, sie erschöpft sich und sie ermordet sich selbst. Es gab noch nie eine Demokratie, die nicht Selbstmord begangen hat.“
Ob wir ab kommender Woche Zeuge eines solchen Selbstmords sein werden?