Fledermaus als Reservoir für Viren und Wissen
Zoologie. 20.000 Fledermaus-Exemplare aus Museen werden digitalisiert, um virologische Forschung zum Coronavirus zu erleichtern. Zudem vermessen Forschende in Wien Fledermausbecken, um Geburtskomplikationen besser zu verstehen.
Obwohl seit Monaten intensiv an allem geforscht wird, was mit dem neuen Coronavirus zu tun hat, ist die genaue Herkunft von Sars-CoV-2 noch nicht geklärt: Ein tierischer Ursprung gilt als wahrscheinlich, als Hauptkandidat stehen Fledermäuse im Fokus.
Diese Gruppe der Säugetiere, die nach den Nagetieren die zweitmeisten Arten umfasst, ist ein Reservoir für Viren aller Art. Bisher gibt es über 200 neue Coronaviren, die in Fledermäusen gefunden wurden, und etwa 35 Prozent des Erbguts, das in Fledermäusen aus Viren stammt, lassen sich einem Coronavirus zuordnen.
1750 Exemplare aus Wien
Diese Ausgangslage veranlasste ein internationales Konsortium zu einem neuen Forschungsprojekt, an dem neun namhafte naturhistorische Museen, etwa in London, Paris, Zentralafrika und Wien (NHM), beteiligt sind. Als Teil des EU-Projekts „Synthesys+“, das die Digitalisierung naturkundlicher Sammlungen vorantreibt, soll unter dem Projekttitel „Covid-19 Chiropteran Knowledge Base“eine Basis geschaffen werden, um relevantes Fledermausmaterial der Wissenschaft zugänglich zu machen – wobei „Chiroptera“der wissenschaftliche Name der Ordnung der Fledertiere ist.
„Normalerweise kann man in dem Synthesys-Projekt um Gelder ansuchen, um in Sammlungen auf der ganzen Welt wissenschaftliche Fragen zu erforschen: Da das Reisen nun eingeschränkt ist, handelt es sich hier um ein virtuelles Projekt, bei dem wir in Wien jemanden anstellen, der die Daten für diese Fledermaus-Datenbank erhebt“, sagt Frank Zachos, Leiter der Säugetiersammlung des NHM in Wien.
Ein Problem der Coronavirus
Forschung war bisher, dass nicht jedes verwen- dete Fledermausmaterial in öffentlichen Sammlungen hinterlegt wurde, wodurch im Unklaren blieb, ob die Artbestimmung korrekt war bzw. welche genaue Herkunft das Tier hatte.
Am NHM und den anderen wissenschaftlichen Sammlungen werden nun über 20.000 gut sortierte Fledermaus-Exemplare aus der Familie der Hufeisennasenartigen digitalisiert und in die Datenbank für zukünftige Coronaforschung eingespeist. 1750 Exemplare davon liegen im NHM, entweder trocken präpariert, im Glas in Alkohol konserviert oder als Skelett. „Für dieses Projekt sind jene Arten relevant, bei denen Sars-CoV-2 bereits nachgewiesen wurde, und verwandte Arten“, sagt Zachos.
Die Wiener Forscher füttern die Datenbank mit einer Reihe von Informationen: Welche Art und Unterart sind wo zu finden, wer hat das Exemplar bestimmt, wer hat es an das Museum geliefert, und woher stammt es? „Der Fokus liegt auf asiatischen Arten und ihren Verwandten“, so Zachos. Weitere Fragen sind: Wie wurde das Fledermauspräparat gelagert? Wie alt war das Tier, und aus welchem Jahr stammt es? Gibt es bereits DNA
oder Gewebeproben des Exemplars? Weiß man, ob das Tier krank war oder Parasiten hatte? „Auf all diese Informationen können dann Virologen zurückgreifen“, beschreibt Zachos das noch nicht gestartete Vorhaben.
Das weibliche Becken
Bereits in vollem Gang ist ein gänzlich anderes Forschungsprojekt in der Wiener Fledermaussammlung, das erklären möchte, warum das menschliche Becken evolutionär nicht besser an den Geburtsvorgang angepasst ist. Wäre das weibliche Becken nur wenige Zentimeter weiter geöffnet, würde es weniger fatale Geburtskomplikationen geben. Die Evolutionäre Anthropologin Nicole Grunstra vom Konrad-Lorenz-Institut für Evolutions- und Kognitionsforschung ist diesem Rätsel auf der Spur und hat die Fledermäuse als Forschungsobjekt ausgesucht. Denn deren Junge haben das verhältnismäßig höchste Gewicht bei der Geburt. „Bei Menschen beträgt das Geburtsgewicht eines Babys fünf bis sechs Prozent des
Gewichts der Mutter.
Bei Fledermäusen sind es 45 Prozent.
Das wäre so, als ob eine Frau ein 30 Kilogramm schweres Kind rauspressen müsste“, sagt Zachos. Daher vermisst nun Grunstras Masterstudent Tim Langnitschke an Exemplaren in Wien und anderen Museen Europas die Becken der Fledermäuse, um Korrelationen mit Ökologie und Verhaltensweisen zu finden: Verändert sich die Beckenform mit der Lebensweise oder der Körpergröße?
„Bei Fledermäusen sind die Becken der Männchen fest geschlossen und verknöchert, aber die Becken der Weibchen weit offen: Wir wollen wissen, warum beim Menschen das weibliche Becken nicht weiter offen ist“, sagt Zachos. Die langjährige Theorie, dass der aufrechte Gang des Menschen ein schmales Becken erfordere, um das Gewicht der inneren Organe und des Fötus besser zu tragen, wird dabei hinterfragt.
Der Vergleich von Fledermausarten, die aufrecht in Spalten ruhen, und solchen, die typischerweise kopfüber hängen und weniger Schwerkraftwirkung auf den Beckenboden bekommen, soll nun klarstellen, wie stark der evolutionäre Einfluss der Schwerkraft auf die Beckengröße ist.