Mit der Angst im Koffer
In den Monaten vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurden 10.000 Kinder aus Gebieten der nationalsozialistischen Herrschaft nach Großbritannien in Sicherheit gebracht. In vielen Fällen überlebten sie als Einzige ihrer Familien den Holocaust. Von Todesg
Es ist mir, als ginge ich zum Galgen, jedes Mal, wenn ich einen Koffer packe. Es befällt mich ein beklemmendes Todesgefühl.“So beschreibt die gebürtige Wienerin Anne, 95, die tiefen Wunden, die ihre Erfahrung als Flüchtling während des Zweiten Weltkrieges in ihr hinterlassen hat. Sie wurde als Vierzehnjährige mit einem Kindertransport gerettet. In welchem Konzentrationslager ihre Eltern ermordet wurden, weiß sie nicht. „Man hat mir gesagt, dass man Stolpersteine für meine Eltern machen will. Aber ich finde, man ist in ihrem Leben genug auf sie getreten.“Auf die geplante Shoah-Gedenkmauer in Wien freut sie sich.
Marion, 96, wurde aus Berlin ebenfalls mit einem Kindertransport gerettet. Sie erinnert sich mit Tränen in den Augen an den Abreisebahnhof. Eltern verabschiedeten sich von ihren Kindern, ohne zu wissen, ob, wann oder wo sie sie wiedersehen würden: „Die Kinder haben geweint, die Eltern haben geweint. Es war furchtbar. Die kleinen Kinder haben überhaupt nicht verstanden, was mit ihnen passiert. Ich war schon 16 Jahre alt und war nicht gar so traurig.“Marions Eltern hatten Glück. Sie überlebten die Gefangenschaft im Konzentrationslager Theresienstadt und sahen ihre Tochter nach dem Krieg wieder.
Anne und Marion wurden 1939 in den Monaten vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs durch einen Kindertransport in Sicherheit gebracht. Sie verbrachten die Kriegsjahre in Großbritannien, dank der Bereitschaft der britischen Regierung und Bevölkerung, 10.000 jüdische Kinder aus Gebieten unter nationalsozialistischer Herrschaft aufzunehmen. In vielen Fällen überlebten die „Kinder“, wie sie sich selbst bezeichnen, als Einzige ihrer Familien den Holocaust.
Die beiden Frauen leben in New York und sind Mitglieder der Kindertransport Assoziation, einer Vereinigung von vor dem Holocaust geretteten „Kinder“und deren Nachfahren. Mit großer Sorge verfolgen die mittlerweile Hochbetagten das Schicksal unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge. „Wir fühlen uns verpflichtet, uns an die Vergangenheit zu erinnern und in der Gegenwart zu handeln. Wir sind zutiefst betrübt über die derzeitige Politik der US-Regierung, die Neuansiedlung von Flüchtlingen stark einzuschränken. Wir waren entsetzt über die Trennung von Kindern und Eltern an der US-Grenze. Wir werden solche Grausamkeiten nicht hinnehmen“, sagt Melissa Hacker, Präsidentin der Assoziation und selbst Tochter einer aus Wien mit einem Kindertransport Geretteten.
Sobald die „Kinder“von den Käfigen ähnelnden Unterkünften hörten, in denen Flüchtlingskinder untergebracht wurden, schrieben sie Protestbriefe an Senatoren. Sie forderten, man solle Flüchtlingen, sowohl aus Zentralamerika als auch Syrien, und vor allem Kindern, die vor Gewalt und Ausbeutung fliehen, eine Chance auf ein neues Leben ermöglichen.
Brief an Trump
Auch an Präsident Trump schrieben sie einen Brief: „Die Kindertransportkinder kamen als Flüchtlinge in dieses Land und sind in den Jahren danach produktive amerikanische Bürger geworden, darunter zwei Nobelpreisträger, viele erfolgreiche Geschäftsleute, Film- und Theaterprofis, Lehrer, Künstler, Schriftsteller, Ärzte und Philanthropen. Wir bitten Sie, gefährdeten Kindern die gleiche Chance zu geben. Sie fliehen vor unsäglicher Gewalt und haben alles verloren, außer ihrer Hoffnung und dem Wunsch, sicher und frei zu sein. Wir sind jeden Tag dafür dankbar, dass wir überlebt haben, und fordern Sie auf, die Türen für
Flüchtlinge offenzuhalten“, endet der Brief, der von 200 Holocaust-Überlebenden unterzeichnet wurde.
Die gesellige und gesprächige Anne lebt seit 1951 in New York. Oft denkt sie an ihre eigenen verzweifelten Auswanderungsversuche aus Wien und den unerträglichen Antisemitismus der Wiener. Sie stammt aus einer jüdischen Mittelklassefamilie, deren Christbaum ein Davidstern zierte. Wien veränderte sich nach dem Anschluss von einem Tag auf den anderen. „Der Antisemitismus der Wiener war spürbar stärker als der in Berlin. Wir gingen zur amerikanischen Botschaft und begannen, zahllose Briefe an unbekannte Amerikaner zu verschicken und sie um Affidavits zu bitten. Die Warteschlangen vor der Botschaft reichten um den ganzen Block.“Zwei Antworten erhielt Anne auf ihre Briefe: „Are you mad to write to us?“Und: „We have a terrible depression and not enough food to eat ourselves.“
Zeit ihres Lebens setzte sich Anne für Flüchtlinge ein. Als im Jänner 2017 in der USA über Nacht ein Einreiseverbot für Muslime verhängt wurde, saßen Reisende auf Flughäfen fest oder mussten umkehren. „Ich habe mich mit großer Trauer an die Saint Louis erinnert, die Deutschland mit vielen Juden an Bord verlassen hat und umkehren musste.“Von den Passagieren des Dampfers, dem 1939 sowohl in Kuba, der USA als auch in Kanada das Anlegen verweigert wurde, verloren ein Drittel nach der Rückkehr nach Europa ihr Leben im Holocaust. Berichte über Flüchtlingsschiffe im Mittelmeer, denen ein sicherer Hafen verwehrt wird, erschüttern Anne zutiefst. „Es ist mindestens so wichtig, sich noch mehr für Angehörige anderer Religionsgruppen als der eigenen einzusetzen.“Daher protestierte Anne gegen den Muslim ban und schickte einen Protestbrief an Präsident Trump. Marion, elegant und belesen, sucht aktiv die Verbindung zur Vergangenheit und zu ihren Wurzeln. Sie ist Mitglied eines seit 1943 in New York stattfindenden Stammtisches, bei dem sich deutschsprachige Holocaust-Überlebende, ihre Freunde und Familienangehörige wöchentlich in Manhattan treffen. Sie spricht akzentfreies und fließendes Deutsch, der Stammtisch ist ein wesentlicher Fixpunkt ihrer Woche. Am liebsten sind ihr die Abende, an denen über Politik und Kultur diskutiert wird. Sie war mit einem Wiener verheiratet und hat eine Tochter. Beruflich war Marion bis vor Kurzem sehr aktiv. Vierzig Jahre lang hat sie Holocaust-Überlebenden geholfen, ihren Anspruch auf Wiedergutmachungszahlungen und Sozialversicherung durchzusetzen. „Es ist mir eine große Genugtuung, dass ich so vielen Leuten ein leichtes Alter verschafft habe. Der Zuschuss hat vielen geholfen.“
Marion denkt viel darüber nach, was das Wort Heimat bedeutet: „Viele Wiener Juden haben eine tiefe Sehnsucht nach dem alten Wien. Eine Sehnsucht nach Berlin habe ich nicht. Tatsache ist, dass ich ein Gefühl der Wehmut habe, wenn ich in Berlin bin. Nämlich, dass diese Menschen, die jetzt dort sitzen und Kaffee trinken, wissen, wo sie hingehören. Mir wurde das gestohlen. So sehr ich New York liebe, und ich liebe mein Heim und bin sehr glücklich hier. Trotzdem fühle ich mich entwurzelt.“Mittlerweile hat sie viele Freundschaften mit Berlinern geschlossen, was sie früher für unmöglich gehalten hätte.
In diesem Zusammenhang lässt vor allem eine Erinnerung sie nicht los. Auf einer ihrer Berlin-Reisen begrüßte sie ein nichtsahnender Grenzbeamter mit den Worten „Oh, Sie kommen in die alte Heimat zurück“, als er in ihrem amerikanischen Pass den Geburtsort Berlin sah. Diese Worte lösten in Marion Ärger und Entrüstung aus. Sie starrte den ahnungslosen Beamten wortlos, wie vom Blitz getroffen, an. Denn ihre Heimat war ihr von Hitler gestohlen worden.
Seit Ausbruch der Corona-Krise leben Anne und Marion in sozialer Isolation und verlassen ihre Wohnungen kaum. „Wir sorgen uns um die allein lebenden ,Kinder‘,“meint Melissa Hacker. „Wir wissen aber auch, dass sie belastbar sind. Sie haben in einem Schwebezustand gelebt, als sie als Kinder allein im Vereinigten Königreich waren und nicht wussten, wo ihre Eltern waren, wann oder ob sie sie wiedersehen würden.“Die Organisation hat damit begonnen, Online-Programme für die Mitglieder zu organisieren, Buchpräsentationen oder eine Chanukkafeier. „Da können sich Mitglieder aus der ganzen Welt virtuell versammeln.“
Vergessene Flüchtlingskinder
Anne fürchtet indes, dass man vor allem Flüchtlingskinder in der momentanen Krise vergessen hat: „Wir wissen nicht, was mit diesen Kindern passiert. Manche werden mit Bussen zu irgendwelchen ,Verwandten‘ geschickt. Wer weiß, ob diese Kinder nicht als Prostituierte ausgebeutet werden?“
Marion machen vor allem die Schulschließungen betroffen: „Ich kann mich daran erinnern, wie wir damals gerettet wurden. Diese Kinder sind nun eingesperrt in einer Situation. Was haben sie von der Zukunft zu erwarten, wenn sie nicht einmal in die Schule gehen können?“
Auch die neuesten Entwicklungen in New York City beobachtet Marion mit großer Sorge. Einige Gegenden in den Stadtteilen Brooklyn und Queens befinden sich wieder in einem Corona-Lockdown, da die Neuinfektionen dort stark angestiegen sind. Öffentliche Schulen mussten nach nur einer Woche wieder schließen, nicht-systemrelevante Geschäfte und Betriebe sind zu, und auch für Gotteshäuser herrschen strenge Kapazitätsbeschränkungen. „Mich hat sehr befremdet, dass die Hotspots in New York dort sind, wo die orthodoxen Juden leben. Sie ignorieren die Richtlinien. Sie können New York damit kaputtmachen. Das Virus breitet sich aus. Es bedarf nicht sehr viel, um Antisemitismus auszulösen.“