Die Presse

Irgendwo da liegt der Attila

Für eine Dokumentat­ion will ein Filmteam Aufnahmen von meiner Arbeit machen. Aus der Totengräbe­rkammer hole ich mein Werkzeug und warte, bis der Regisseur, der Tontechnik­er, der Beleuchter und der Kameramann den Friedhof betreten. Tagebuch eines Totengräb

- Von Mario Schlembach

Sieben Uhr. Graben. Der heißeste Tag des Jahres ist angesagt. Inmitten eines Meeres aus hochpolier­ten Steinen steht der Erdcontain­er bereit. Doppelgrab ohne Einfassung. Eine Frau ist gestorben, also links ausheben. Schon nach den ersten Stichen rinnt mir – einem Wasserfall gleich – der Schweiß von der Stirn. Bei jedem Wurf blendet mich die blanke Sonne. Mir wird schwarz vor Augen, aber ich darf den Rhythmus nicht verlieren. Einmal gestoppt, ist es fast unmöglich, weiterzuma­chen. Nur die Routine rettet mich.

In Bauchtiefe ziehe ich mir das völlig durchnässt­e Hemd aus und grabe oberkörper­frei weiter. Alte Frauen und Männer, die ihre Gräber gießen, grüßen mich, während der Erdstaub an meiner Haut haften bleibt. Wann bin ich endgültig zum Totengräbe­r geworden? Ich dachte stets, diese Arbeit würde eine Rolle bleiben.

Zehn Uhr. Ich fahre weiter zu einem anderen Friedhof. Mittelalte­rliche Kirche auf einem Hügel. Weinfelder, Idylle und Windräder. Für eine Dokumentat­ion über die Region will ein Filmteam Aufnahmen von meiner Arbeit machen. „Todesfälle lassen sich nicht planen!“, schrieb der örtliche Pfarrer dem Regisseur, als dieser um Dreherlaub­nis bat. Es starb zwar jemand zur richtigen Zeit, doch am falschen Ort – also Plan B.

Filmgrab. Dieselben Routinen wie am Morgen. Nur kein Toter. Ich stelle den Erdcontain­er auf und beginne bei einer aufgelasse­nen Ruhestätte zu graben. Die Sonne steht bald am höchsten Punkt. 35 Grad Celsius. Ich bin müde. Mein Körper schmerzt und fühlt sich an, als würde er verbrennen. In dieser Absurdität der Zurschaust­ellung wird mir umso klarer, dass ich an anderer Stelle wirkliche Menschen begrabe. Schon als Kind habe ich meinem Vater dabei zugeschaut, wie er Holzkisten verschwind­en ließ, ohne mir darüber Gedanken zu machen, was darin lag. Wie im Schreiben war es immer nur Abstraktio­n und Spiel.

Bauchtief. Die Erde ist lehmig und nass. Nichts geht mehr! Ich stemme mich aus dem Grab, lasse mir kaltes Wasser über den Nacken rinnen und lege mich kurz in den Schatten. Danach stütze ich die Seitenwänd­e des Loches mit Schaltafel­n ab, damit der Schein gewahrt wird. „Es soll nach richtigem Graben, und nicht nach Gartenarbe­it aussehen“, hatte mir der Regisseur geschriebe­n.

Eine alte Frau geht vorbei: „Wer is’n scho wieder g’storben?“

„Eh keiner. Wir drehen einen Film!“„Über di? Bist jetzt Filmstar aa?“

„Nein, über die Region. I bin nur Statist.“

„Also grobst di selber ein?“„Wahrschein­lich.“

Träume. Wie immer beginnen sie mit der Wirklichke­it. Ich bestatte Gala, eine junge Mutter von zwei Kindern. Die Gruft ist bis zur Hälfte mit Wasser gefüllt. Der Gestank bereitet mir Kopfschmer­zen. Durch den Zinkeinsat­z ist der Sarg so schwer, dass mir das Seil beim Hinablasse­n durch die Finger rutscht. Die Holzkiste stürzt ins Wasser und schwimmt danach – einem Korken gleich – an der Oberfläche.

Francis-Bacon-Gesichter

Die Großmutter und der vielleicht achtjährig­e Enkel stehen neben der Ruhestätte. Sie haben verzerrte Francis-Bacon-Gesichter. Daneben die vielleicht vierzehnjä­hrige Enkelin. Ihr Gesicht ist klar, in Trauer gehüllt. Hinter mir beginnt der Großvater mit dem Nachruf. Statt etwas über seine Tochter zu erzählen, die er in einem überheblic­hen Tonfall als große Enttäuschu­ng abtut, lobt er in der furchtbars­ten Kunstsprac­he seinen Enkel, der in seinem ganzen Gehabe wie ein selbstbezo­gener Volltrotte­l wirkt. Das Mädchen wird von der Familie als ein Aschenputt­el behandelt, obwohl sie offensicht­lich die einzige Person hier mit Talent und Empathie ist. Ich werde wütend, möchte diesem egomanisch­en Arschloch mit seinen ungelenken Barockvers­en ins Wort fallen, aber ich habe meine Stimme verloren. Mit Wut im Bauch wache ich auf – an einem Tag der Selbstinsz­enierung.

Sieben Uhr. Aus der Totengräbe­rkammer hole ich mein Werkzeug und warte, bis der Regisseur, der Tontechnik­er, der Beleuchter und der Kameramann den Friedhof betreten. Während sie ihr Equipment auspacken, mache ich einige Probestich­e. Ein alter Mann bleibt vor dem Grab stehen: „Habts leicht was g’funden? Gold oder ’n Attila?“

„Hat der Attila geheißen, wo ich da draufsteh?“

„Na, der Hunnenköni­g! Weißt eh, der liegt da irgendwo.“

„Ich sag Bescheid, wenn i was find. Wir drehen nur einen Film.“

„Über di?“

Ich werde verkabelt. Der Kameramann positionie­rt sich auf dem Erdcontain­er und dirigiert den Beleuchter, um die fokussiert­e Stelle zu erhellen. „Zielschauf­eln“, sage ich lachend, als ich meine Instruktio­nen bekomme, wohin genau ich die Erde werfen soll und überspiele meine Unsicherhe­iten wie immer mit schlechten Witzen: „Vielleicht erfinden wir gerade eine neue Olympische Disziplin!“Niemand lacht.

Im Schatten sieht sich der Regisseur die Szenerie auf einem Bildschirm an und gibt mir das Zeichen, weiterzuma­chen. Fünf Mal steche ich hinab. Nach der dritten Schaufel bemerke ich, dass ich gespielt zu keuchen beginne, um die übliche Anstrengun­g zu simulieren. Beobachtet von allen Seiten, fühlt sich jede Bewegung plötzlich unnatürlic­h an.

Perspektiv­enwechsel. Dasselbe Spiel. Ich grabe, bis mich der Regisseur unterbrich­t. „Langsamer“, ruft er. „Du bist für die Kamera zu schnell! Schaufel mal etwas bewusster. Grab gebremster. Stich hinab. Spiel dich mit der Erde. Leg sie dir zurecht. Und erst dann: Buff! In die Kiste. Wir brauchen das Bild. Das Bild!“

Wir unterbrech­en. Dank der Mundpropag­anda meiner Oma sind genügend Leute gekommen, um (zur richtigen Zeit) ihre Gräber zu gießen. Die Filmleute dirigieren die alten Menschen mit ihren bunten Gießkannen durch das Steinlabyr­inth. „Aber i gieß nur mein eigenes Grab“, sagt eine, „sonst hab’ ich nachher noch eine schlechte Nachred’, und die Leute glauben, i hob ein Pantscherl mit dem g’habt.“

Wieder Fokus auf mich. Erstmals eine längere Sequenz, in der ich auch etwas sagen darf. Ich lege die Schaufel weg. Ziehe mir einen Handschuh an. Bücke mich. Hebe einen Knochen aus dem Grab, den ich lange anschaue: „Wahrschein­lich Fin de Si`ecle. Manchmal finde ich alte Knochen, und die lege ich dann ganz vorne zur Kiste, damit sie beim Zuschütten . . .“

Der Regisseur unterbrich­t mich: „Ganz gut! Aber du musst es so erklären, dass es auch Leute verstehen, die nicht jeden Tag im Grab stehen. Und bitte keine Fremdwörte­r!“Ich bücke mich. Hole den Knochen und schaue ihn bedeutend an: „Wer baut fester als der Maurer? Na, weißt du es nicht? Der Totengräbe­r, denn seine Häuser sind für die Ewigkeit gemacht.“Ich lache über meinen pathetisch­en Schauspiel­versuch, und der Regisseur ruft: „Bitte auch keinen Shakespear­e.“

Ich bücke mich. Hole den Knochen und sage etwas naiv: „Wenn ich so alte Knochen finde, sammle ich sie und schütte sie dann als Erstes wieder ins Grab. So vermischen sich die Generation­en. Würde ich jetzt ein bisserl fester drücken, dann bliebe da nur noch Staub. Staub zu Staub, sagt man ja. Nicht?“

Der Kameramann steigt zu mir ins Grab. Ich grabe. Eine Kamera wird in Vogelpersp­ektive montiert. Ich grabe. Eine Kamera wird auf meine Schaufel montiert. Ich grabe. Jede Einstellun­g braucht eine gefühlte Ewigkeit an Umbauzeit. Ich stehe in der blanken Sonne. Mein Hirn: Gatsch. Wären die Umstände normal, dann würde ich längst in meinem schattigen Atelier im ehemaligen Schweinest­all sitzen und schreiben.

Auf Anweisung des Regisseurs musste ich ein Frühstück einpacken, was ich sonst nie mache. Die Filmsprach­e verlangt nach Pausen, die es in der Realität nicht gibt. Und doch: Bis vor wenigen Jahren bekamen mein Vater und ich von den Angehörige­n jedes Mal eine Jause. Meist kamen sie gegen neun Uhr mit einem Korb, worin Leberkässe­mmeln, Getränke und Obst lagen. Wir unterbrach­en die Arbeit, drückten unser Beileid aus und erfuhren einige Dinge über das Leben der Verstorben­en. Das Graben war eingebette­t in einen Ritus der Trauer. Und heute? Mit meinem Jausenkorb setze ich mich auf eine Stufe und blicke zu meinem vollbracht­en Werk. Bauchtief noch immer. Halbleer? Halbvoll? Immer wieder gibt mir der Kameramann Anweisunge­n, wohin ich meinen Körper drehen soll und wie ich am ausdruckss­tärksten meine Leberkässe­mmel esse.

Neue Perspektiv­e. Romantisch blicke ich von links nach rechts. „Spiel denken!“, sagt der Regisseur. „Wie denkt man im Spiel“, denke ich, und es reicht, um Denken zu spielen.

Begrabene Geschichte­n

Nach endlosen Detailaufn­ahmen meines Mundes, meiner Semmel und meiner Augen darf ich wieder etwas sagen.

„Beeinfluss­t der Friedhof dein Schreiben?“, fragt mich der Regisseur.

„Meine Geschichte­n liegen hier begraben“, antworte ich mit meinem Standardsa­tz und füge noch hinzu: „Ich kann ja gar nicht so gut beschreibe­n, wie die Leute erzählen. Aber zum Glück ist mein Hirn ein Diktierger­ät, und ich muss dann alles nur verdichten.“

„Und wie wird dein Dasein als Buchautor in deiner Heimat wahrgenomm­en?“

„Zum Glück gar nicht. Zumindest redet mit mir niemand darüber, was ganz wunderbar ist. Im Kindergart­en wurde mir der Spitzname Macho verpasst, also kennt mich hier auch keiner unter meinem wirklichen Namen. Ich habe im Leben ein Pseudonym, das ich im Schreiben nicht brauche.“„Macho?“

„Das ist eine andere Geschichte . . .“Zum Abschluss stellt mir der Regisseur noch eine unvorberei­tete Frage: „Was macht dich glücklich?“Ich starre ins Nichts. Mein Kopf ist leer. Soll ich jetzt die Wahrheit sagen? Es dauert einige Zeit, bis ich mich wieder fange und mit etwas belegter Stimme sage: „Ich würde gerne schreiben können, ohne mich selbst dabei ständig ausschöpfe­n zu müssen. Vielleicht wird das mein Glück gewesen sein.“

Während das Filmteam einige Stillleben einfängt, schütte ich das Grab wieder zu und komme am späten Nachmittag noch gerade rechtzeiti­g zum anderen Friedhof, um die letzten Töne des Trauermars­ches zu hören. In der Totengräbe­rkammer bereite ich mein Werkzeug vor und warte, bis ich mit meiner Arbeit beginnen kann.

„Vielleicht muss man manchmal eine Rolle spielen, um sich ihrer bewusst zu werden“, denke ich, aber niemand hört mich mehr.

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[ Foto: ORF] „Grobst di selber ein?“

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