Neapolitaner Nacht
Expedition Europa: halber Lockdown in Italien, CamorraGespenster auf den Straßen.
Da die Proteste, die sich über ganz Italien ausbreiten, in der pittoresk zugemüllten Metropole des Südens begannen, fahre ich nach Neapel. Es fing am Freitag an, als der kampanische Regionalpräsident eine nächtliche Ausgangssperre verhängte und einen harten Lockdown für ganz Italien forderte. Vincenze De Luca hat einen „schwierigen Charakter“, nicht von ungefähr ruft man den Law-and-Order-Exkommunisten „Sheriff“oder „Pol Pot“, damit überspannte der Nichtneapolitaner aber den Bogen. Vor seinem Amtssitz flogen Steine und Flaschen, sieben Polizisten wurden verletzt. Zwei der Krawallmacher, beide 32 Jahre alt und beide auf vornehme antike Namen getauft, wurden direttissimo abgeurteilt: Marcantonio bekam 20 Monate, Oreste 14. Schon am Sonntag folgte die römische Regierung De Lucas Empfehlungen zum Teil: Seit Montag gilt ein „Halb-Lockdown“, so muss die Gastronomie um 18 Uhr schließen.
Ein Ausgangspunkt der Proteste war das arme Bahnhofsviertel Vasco. Marcantonio und Oreste sind aus Vasco. In Vasco gibt es Neapels billigste Absteigen, hier übernachte ich wieder, in Vasco haben afrikanische Straßenhändler das breiteste Sortiment von Ray-Ban-Fälschungen, hier decke ich mich wieder ein. Vasco ist ein Biotop, dicht, unordentlich, mit düsteren Innenhöfen.
Ich reise am ersten Tag des HalbLockdowns an. In Messina sehe ich eine Demo Betroffener, reife Signori mit Maske und Zwei-Meter-Abstand, in Neapel viel Solidarisierung mit den Protesten. Die RAI und der linkszentristische „Mattino“berichten von „Infiltration“durch Ultras und Forza-Nuova-Faschisten, die rechte Mailänder „Verit`a“von Ausländern, welche die Auslagen in Turin eingeschlagen haben. Die Unterstellung, auf Anweisung der Camorra zu protestieren, bringt einige Neapolitaner auf. Sie demonstrieren als Camorra-Gespenster verkleidet.
Im Caff`e dell’ Amore
In Vasco, zwischen afrikanischen Lädelis und Haarstudios, hat sich ein alter Herrenfriseur gehalten. Mit 20 arbeitete er zwei Jahre in Frankfurt, das beweist ein schwarz-weißes Gruppenfoto, auf dem ihn zwanzig deutsche Friseusen um einen halben Kopf überragen. Wie viele Neapolitaner nimmt er den Virenschutz ernst, meine Maske nimmt er nicht ab. Ich gehe ins Caff`e dell’ Amore (kurzer Tresen, zwei Tischchen zum Schmusen), das die unmaskierte serbische Barfrau nicht bedroht sieht, weil bei ihr schon um sechs Uhr am Morgen Whisky getrunken wird. Zu Mittag will ich eine Pizza Napoletana. Bevor er die Bestellung aufnimmt, setzt sich der Kellner der Pizzeria zu mir, um die vom Pol-Pot-Sheriff vorgeschriebene Prozedur anzuwenden – Fiebermessen und Abmalen meines Personalausweises in ein großes weißes Buch. „Wenn wir das nicht machen, zahlen wir Tausend Euro Strafe und müssen vier Tage zusperren. De Luca kann machen, was er will.“Als ein weiterer Gast Platz nimmt, beginnt die Prozedur von Neuem, „la procedura, la febbre . . .“
Auf die nächtliche Ausgangssperre in Vasco bin ich gespannt. Der Autoverkehr liegt brach, da aber auf der zentralen „Piazza del Plebiscito“protestiert wird, fehlen Polizisten zur Überwachung von Vasco. Dort schlägt um Mitternacht die Stunde der Verrückten. Eine Marokkanerin erzählt mir Geschichten, ein Rastamann reißt Zweige aus dem Zierstrauch des besten Hotels, und drei Müllwagen ziehen fleißig Runden. Ich bin schon dabei, Vorurteile über die Neapolitaner Müllabfuhr zu revidieren, da fällt mir auf, dass ein und dasselbe Müllauto schon zum siebten Mal dieselbe Kurve schneidet. Neapels Müllmänner genießen einfach die freie Fahrt.