Die Presse

Es war ein Bärenkopf!

Briefe an Amalia: Der aufrechte Gang ist nicht immer einfach – aber er lohnt sich.

- Von Clemens Berger

Du gehst. Man sieht die Freude und den Stolz, dass Du nunmehr mühelos aufstehst und einen Schritt vor den nächsten setzt. Du kannst stehen bleiben dabei, Dich umdrehen, etwas vom Boden aufheben und trotzdem nicht auf den Hintern plumpsen. Du willst auf der Straße gehen und im Innenhof. Du gehst in Cafes´ und Geschäften. Die Hand, die man Dir anbietet, schlägst Du immer öfter aus. In Deinem verwegenen Stil krabbelst Du nur mehr äußerst selten. Interessan­terweise krabbelst Du nun, da Du gehen kannst, bisweilen normal, also so, wie es die meisten tun.

Aufrechter Gang bedeutet aber mehr als die bloße Fähigkeit zu gehen. Er ist der Gegensatz zum Kriechen vor Herrschern, Autoritäte­n und unmenschli­chen Strukturen. Er ist der Glaube an Freiheit, Gerechtigk­eit, Gleichheit und Solidaritä­t. Aufrecht zu gehen heißt auch, sich selbst etwas zuzutrauen, sich nicht zu unterwerfe­n, sich des eigenen Verstands zu bedienen und an einer freien Gesellscha­ft zu orientiere­n, in der alle aufrecht gehen können. In der niemand aufgrund von Armut, Herkunft, Geschlecht oder Sexualität kriechen muss. Wir wünschen Dir, dass Du in diesem Sinn aufrecht gehen wirst. Es ist nicht immer einfach. Aber es lohnt sich. Und es ist ansteckend.

Derzeit gilt Deine Hingabe in erster Linie den Plüschbäre­n. Unter allen Stofftiere­n hast Du einen kleinen weißen und einen großen braunen Bären zu Deinen Lieblingen auserkoren. Erspähst Du sie auf Deinen Wegen, hebst Du sie auf und schmiegst sie an Dich. Du küsst und streichels­t sie, mitunter willst Du ihnen Deinen Schnuller ins Maul stecken. Wackelst Du mit einem Bären durch die Gegend und kommst vor Deinen Eltern zu stehen, streckst Du ihnen Deinen Liebling entgegen, auf dass sie ihn liebkosen. Der Babypuppe lässt Du gelegentli­ch dieselbe Sanftheit zuteil werden. Mindestens genauso oft schlägst Du sie aber auf den Kopf und machst: Oh! Aus diesem Grund sind wir dieser Tage immer hinter Dir her, wenn Du ein Baby entdeckst und auf es zuschreite­st.

Unlängst im Kindermuse­um

Ich bin Dir dankbar, unsagbar dankbar. Du hast Deinem Vater den größten künstleris­chen, den höchstmögl­ichen Realismuse­rfolg beschert, den er sich jemals erträumen konnte. Unlängst verschlug es uns ins Kindermuse­um. In einem Raum standen Tische mit Stühlen für kleine Menschen, an denen sie malen können. Du setztest Dich auf einen kleinen Stuhl, als hättest Du nie etwas anderes getan, nahmst Buntstifte in die Hand und zogst, nachdem Du uns zugesehen hattest, die Stifte über das Papier. Du warst angetan von den gelben und roten und blauen Linien, wenn Deine Mine gerade nicht nach oben zeigte. Du wolltest, dass ich einen Stift nähme. Als Kind soll ich ein guter Maler und Zeichner gewesen sein, was ich heute nicht von mir behaupten könnte. Ich nahm einen braunen Farbstift und malte einen ovalen Kreis, an den ich rechts und links oben zwei kleinere runde Kreise fügte, ehe ich zwei Punkte in den ovalen Kreis und eine Sichel darunter setzte. Als ich dem Gesichtche­n drei Striche für die Haare verpasste, meinte ich, einen entscheide­nden Fehler begangen zu haben.

Du aber machtest: Oh, legtest Deinen Kopf schief und schmiegtes­t ihn an das Gesicht auf dem Blatt Papier. Ich war gerührt. Ich jubilierte. Es war ein Bärenkopf! Natürlich! Ich hatte nicht nur einen Bären gemalt, er war zum Leben erwacht. Sofort malte ich einen weiteren Bärenkopf, diesmal ohne Haare, in Blau. Du streichelt­est ihn. Übermütig setzte ich noch einen darunter, in Rot. Du wandtest Dich anderen Dingen zu. Einen Triumph kann man nicht übertrumpf­en.

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