Das Pendel der Magyaren
Lendvais kritischer Blick auf Ungarns Geschichte bis heute.
Wie wird die Ära Viktor Orban´ von Chronisten der Geschichte Ungarns wohl einmal beurteilt werden? War sie nur ein Ausreißer? Der Beginn einer anhaltenden autoritären Phase? Eine im historischen Hin und Her zwischen Öffnung und Einigelung, zwischen Kosmopolitismus und Nationalismus, zwischen Einsamkeitsgefühl und Sendungsbewusstsein eher normale Pendelbewegung in Ungarn? Niemand kann das heute wissen, auch der ausgewiesene Ungarn-Kenner Paul Lendvai nicht. Sein 1999 erstmals erschienenes Werk über die tausendjährige Geschichte Ungarns, das viele für das profundeste unter seinen zahlreichen Büchern halten, wurde jetzt um zwei Kapitel ergänzt, die die Entwicklungen seit 1989 beschreiben.
Paul Lendvais Abrechnung mit der ungarischen Linken, den Postkommunisten, die das Land nach 1989 etliche Legislaturperioden regierten, ist bitter. Er schreibt von einem „moralischen Bankrott eines korrupten Systems und dem offensichtlichen Scheitern einer politisch und wirtschaftliche inkompetenten Mitte-Links-Elite“. Freilich, es kam nichts Besseres nach, wenn man sich die Ära Orban´ mit ihrer im heutigen Europa geradezu beispiellosen Machtkonzentration und Rückwärtsentwicklung zu einer Art Einparteienherrschaft mit pseudodemokratischen Fassadenanstrich ansieht.
„Das Beunruhigende an Viktor Orbans´ ,illiberaler Demokratie‘ ist“, so Lendvai, „dass sie ohne Beispiel in der ungarischen Geschichte ist, dass ihr Ende nicht absehbar ist.“Da ist er vielleicht zu pessimistisch. Auch die momentane Apathie und Gleichgültigkeit der Ungarn gegenüber der endemischen Korruption und der den Staat durchdringenden Vetternwirtschaft könnten doch einmal dem Zorn einer sich betrogen fühlenden Bevölkerung weichen. Ewige Verlierer? Lebenskünstler!
Aber noch einmal: Was sind schon ein, zwei Jahrzehnte Orbanismus´ gegen mehr als 1000 Jahre Geschichte seit der Landnahme 896? Lendvai richtet seinen Blick auf den Widerspruch zwischen den genialen individuellen Leistungen und dem wiederholten kollektiven Versagen der Nation. Geschickt vermischt er seinen historischen Überblick mit Milieuschilderungen und biografischen Skizzen. Und er beschreibt die Selbstwahrnehmung vieler Ungarn als ewige Verlierer, die sich dann aber doch als Sieger in der Niederlage, als Bahnbrecher der Moderne und als Lebenskünstler entpuppten.
Einzigartig etwa das Treiben des Hochstaplers und genialen Psychopathen Ignaz Trebitsch-Lincoln in den 1920er-Jahren; oder der Höhenflug und Absturz der Prinzessin Stephanie Hohenlohe. Lendvai zitiert den US-Historiker William Johnston, der den Ungarn die Bereitwilligkeit attestierte, „die Welt durch eine rosarote Brille anzusehen und sie dazu verleitet, ihre Größe zu übertreiben“. Besonders gelungen sind zwei Exkurs-Kapitel, in denen Lendvai das gleichzeitig fruchtbare und dramatische Verhältnis der Ungarn zu den Deutschen und zu den Juden analysiert.
Insgesamt ist das Werk ein äußerst lesbares Geschichtsbuch, in dem der Verfasser sein Gespür für das Wichtige, das Spannende, das Großartige und das Abstoßende im Zyklus einer Nation beweist. Lendvai gilt als Meister des treffsicheren Zitats, das zeigt er auch in diesem Buch. Und als gebürtiger ungarischer Jude begegnet er seinen Magyaren freundschaftlich, aber doch mit der nötigen kritischen Distanz.
Paul Lendvai
Die Ungarn
Eine tausendjährige Geschichte.
592 S., zahlreiche SW-Abb., geb., € 28 (Ecowin Verlag, Salzburg)