Was kann der Ivo denn dafür?
In der Biografie „Im Brand der Welten“beschreibt Michael Martens die dramatische Lebensgeschichte von Ivo Andri´c – etwas distanzlos. In editorischer Hemdsärmeligkeit bringt der Verlag nun „Nachtgedanken“des Nobelpreisträgers von 1961 heraus.
Als der Schriftsteller Ivo Andric´ im November 1923 von Triest nach Graz übersiedelte, um an der dortigen Universität zu studieren, war er bereits 31 Jahre alt. In flinkem Wechsel von Zagreb über Wien nach Krakau hatte er ab 1912 ein Studium der Philosophie begonnen, aber der Erste Weltkrieg machte diesem nach vier Semestern ein Ende. Andric´ kam, weil er mit den Attentätern von Sarajewo befreundet war, für acht Monate (nicht drei Jahre, wie oft behauptet wird) nach Maribor ins Gefängnis. Nach dem Krieg fand er im neu gegründeten Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen im Außenamt eine Anstellung: Rom, Bukarest und Triest werden die ersten Stationen.
Weil ihm für das geschmeidigere Vorankommen im diplomatischen Dienst ein Doktortitel empfohlen wird, muss dieser noch erworben werden. Andric´ kommt ein zweites Mal nach Österreich, in das Land, das er sein Leben lang hasst. In nur zwei Semestern schreibt er eine Dissertation.
Rasant geht es nun mit der diplomatischen Karriere aufwärts, von Belgrad wird Doktor Andric´ nach Marseille, Paris, Madrid, Brüssel und Genf entsandt, 1937 wird er sogar stellvertretender Außenminister. Am 19. April 1939 darf er als Botschafter des Königreichs in Deutschland Adolf Hitler zum ersten Mal die Hand schütteln. Zwei Jahre ist Andric´ in Berlin, bis die Wehrmacht im April 1941 Belgrad bombardiert und Jugoslawien besetzt.
Die dramatische Lebensgeschichte des kroatisch-bosnisch-serbischen Schriftstellers Ivo Andric´ wird im Buch „Im Brand der Welten“erzählt, das der deutsche Journalist Michael Martens verfasst hat. Während des Krieges lebt Andric´ in Belgrad und schreibt in dieser Zeit drei Romane, die seinen Welterfolg begründen. Erstaunlicherweise lassen ihn die Nazis in Ruhe, einige seiner Kollegen werden ins KZ gebracht.
Nach dem 20. Oktober 1944, dem Tag der Befreiung Belgrads, hat Andric´ wieder unwahrscheinliches Glück: Er kennt erneut die richtigen Leute, während einige aus seinem Umkreis vom neuen Regime hingerichtet werden. Martens erklärt dies so: „Ob dieses Jugoslawien demokratisch oder diktatorisch, gerecht oder parteiisch, lebenswert oder trist ist, bleibt für ihn nachrangig. Er bleibt ein loyaler Jugoslawe.“Der Botschafter des Königreichs wird nun Mitglied der Kommunistischen Partei, übernimmt mehrere offizielle Funktionen, bereits im November 1946 den Vorsitz im Schriftstellerverband. Später, 1961, das ist dann nicht mehr den Kommunisten zu verdanken, erhält er den Nobelpreis für Literatur.
Im Zsolnay Verlag, der in mehreren Bänden das literarische Werk von Andric´ in neuen Übersetzungen betreut und die Biografie herausgebracht hat, ist nun auch der schmale Band „Insomnia“(Schlaflosigkeit) erschienen. Auf 150 Seiten enthält er finstere Protokolle durchwachter Nächte. Hier ist zu erfahren, dass der große europäische Autor zugleich ein düsterer Misanthrop war. Natürlich wollte Andric´ niemals, dass seine larmoyanten Selbstgeißelungen der Nacht ans Licht des Tages gezerrt werden. Warum also veröffentlicht man sie?
Bereits 1976, ein Jahr nach dem Tod des Autors, hat man in Belgrad ausgewählte Aufzeichnungen in vier Bänden publiziert. Auf Deutsch ist 1982 eine kleine Auswahl dieser Auswahl in einem Band erschienen. „Insomnia“ist nun die noch kleinere Auswahl der Auswahl der Auswahl. Woher die Texte stammen, wie sie zu datieren sind, wie diese Abfolge zustande kam, erfahren wir nicht. Solche editorische Hemdsärmeligkeit wäre nicht weiter zu beklagen, wenn die Anthologie eine gewisse Kohärenz zur
Folge haben und insbesondere dem Autor zur Ehre gereichen würde. Beides lässt sich nicht behaupten. Wäre es nicht klüger gewesen, einen weiteren Band mit Erzählungen oder den Roman über den Feldmarschall Omer Pascha Latas in neuer Übersetzung vorzulegen?
Greifen wir also noch einmal zur Biografie. Das private Leben kommt vielleicht etwas zu kurz: Dass Andric´ als Sohn katholischer Eltern in Travnik, Bosnien, geboren wird, bei Zieheltern in Visegradˇ aufwächst, in Sarajewo das Gymnasium besucht und sich anfangs immer als Kroate bezeichnet, erfahren wir wie nebenbei. Den Verfasser interessiert vor allem die berufliche Laufbahn des Diplomaten, und er präsentiert uns Andric´ als Figur der Geschichte Südosteuropas. Diese wird in einigen Exkursen kenntnisreich referiert.
Begreiflich, dass Martens für die vielfachen Wandlungen in der politischen Orientierung des Autors Verständnis aufbringt und daher in problematischen Fällen allerlei Entlastungen weiß. Etwas mehr Distanz zum Titelhelden hätte nicht geschadet. Es bleiben viele Fragen offen: Hat Andric´ in Rom über Mussolini und die Anfänge des italienischen Faschismus mit Sympathie geschrieben? Was steht in seiner Rechtfertigung der jugoslawischen „Diktatur des Königs Aleksander“? Warum schweigt er 1933 auf dem P.E.N.-Kongress in Dubrovnik, als Ernst Toller die Nazis attackiert?
Wie muss man seine Freundschaften beziehungsweise Beziehungen zu Arno Breker, Carl Schmitt und Ernst Jünger bewerten? Was hat er als Missionschef in Berlin wirklich über Hitler und das NS-Regime gedacht? Wie war das mit jenem von Andric´ unterstützten Plan einer Aussiedlung von 150.000 Muslimen aus Serbien? Was hat es mit seiner Empfehlung eines Kriegs gegen Albanien auf sich? Und was schrieb er über Stalin und Tito? Verständlich also, dass die Diskussion über diesen Autor auch heute kontrovers verläuft. Was aber kann Ivo Andric´ dafür, fragt Michael Martens, wenn man in Bosnien seine Denkmäler stürzt und man ihn als islamophoben Ideologen großserbischer Aggressionspolitik bezeichnet? Ja, was kann er dafür?
Das würde man auch deswegen gerne wissen, wenn man sich Erinnerung ruft, wie derselbe Journalist Martens vor einem Jahr in mehreren Artikeln in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, gewissermaßen mit dem Messer zwischen den Zähnen, gegen Peter Handke gewütet hat. Aber die Fanatiker der „Cancel Culture“(die man damals nicht so genannt hat) konnten nicht verhindern, dass auch dieser als Sympathisant großserbischer Aggressionspolitik Denunzierte den Nobelpreis erhielt. Nicht auszudenken ist aber dies: Hätte Martens für Handkes politische Fehleinschätzungen und Irrtümer nur einen Bruchteil des Verständnisses aufgebracht, das er für all jene des Ivo Andric´ hat, er hätte doch glatt die Seiten wechseln und für den österreichischen Dichter auf die Barrikaden gehen müssen.